Der Bauer und der Vogel
Ein Bauer hatte einen großen Garten voll schöner Blumen und Früchte, und auf den Bäumen sangen Vögel aller Art. Aber der Mann war ein plumper Geselle von wenig Verstand und eigennützigem Gemüt. Eines Tages sah er auf einem Baume einen Vogel von seltsamer Art, der eine wunderschöne Stimme hatte und allerlei Weisen sang. Den gedachte er zu fangen. Er legte ihm Schlingen und fing ihn.
Da begann der Vogel zu sprechen und sagte: »Was willst du von mir, und wozu soll ich dir nützen?« Der Bauer sagte: »Du sollst mir singen im Käfig.« Der Vogel: »Das will ich nicht, ich werde schweigen.« Der Bauer: »So werde ich dich erwürgen und essen.« Der Vogel: »Du magst mich sieden oder braten, aber dann hast du an mir nur einen winzigen Bissen. Wenn du mich aber wieder fliegen lässest, so will ich dir sehr zum Nutzen sein. Ich werde dir drei weise Lehren geben, die feiner klingen als der schönste Gesang und so viel wert sind wie der größte Schatz.«
Das gefiel dem Bauern, und er ließ den Vogel wieder frei.
Da sprach der Vogel: »Zum ersten: Glaub' nicht alles, was man dir sagt; zum anderen: Behalte, was du hast; zum dritten: Bekümmere dich nicht um das, was du verlierst!«
Nach diesen Worten flog der Vogel auf einen Baum und fing dort an mit heller Stimme zu singen: »Dem Himmel sei Dank! Dieses Bauern Sinne sind so verdunkelt, dass seine Augen nicht gesehen haben, noch seine Hände gegriffen, noch seine Vernunft gemerkt hat den kostbaren Edelstein in meinem Leib, der wohl zwei Lot schwer ist. Es wäre damit sehr reich geworden, aber ich hätte mein armes Leben lassen müssen.«
Als das der Bauer hörte, ward er sehr betrübt und sprach weinend und klagend: »Weh mir Armen, dass ich den betrügerischen Worten dieses falschen, bösen Vogels geglaubt habe!«
Da sprach der Vogel: »O du Tor, warum bist du betrübt? Und warum vergisst du die Lehren, die ich dir gegeben habe? Zum ersten: Du sollst nicht alles glauben, was man dir sagt. Wie aber könnte es möglich sein, dass ich einen Stein, zwei Lot schwer, in mir trage, da ich doch selbst kaum ein Quentlein wiege? - Zum anderen: Wenn das auch wahr gewesen wäre, warum hast du nicht behalten, was du gehabt? - Zum dritten endlich: Da du das verloren hattest, so solltest du es vergessen und dir's aus dem Kopf schlagen.«
Damit flog der Vogel fort in den Wald, und der Bauer sah sich verspottet und verlacht.