Das Krokodil
In der grauen Urzeit wandelte eine Schar Menschen aus ihren alten Wohnsitzen und zog hernieder in das Land, welches der Nil durchströmt. Sie freuten sich des herrlichen Stromes und seines lieblichen Gewässers und bauten Wohnungen an seinen Gestaden. Aber bald stieg aus seinen Fluten das gewaltige Untier, Krokodil genannt, und zermalmte Menschen und Tiere mit furchtbarem Gebiss. Da flehten die Menschen mit lauter Stimme zu ihrem Gott Osiris und baten ihn, sie von dem Ungeheuer zu befreien. Aber Osiris antwortete durch den Mund der weisen Priester und sprach: »Ist es nicht genug, dass die Gottheit euch Kraft und Verstand verlieh? Wer sie um Hilfe anruft, ohne die eigene Kraft anzuwenden, flehet vergebens!«
Nun ergriffen sie Schwerter und Stangen und bestürmten das Ungeheuer in seiner Schilfwohnung; sie errichteten Schutzwehren und Dämme und vollendeten in wenig Tagen Werke, die sie vorher sich nicht zugetraut hatten. Und so wurden sie der innern verborgenen Kraft sich bewusst, welche in spätern Zeiten die gewaltigen Pyramiden und Spitzsäulen gründete, und sie erfanden manche Kunst und manches Gerät, die sie noch nicht gekannt hatten.
Denn der Kampf mit dem Feindseligen weckt und stärkt die schlummernden Kräfte des Menschen.
Aber noch fehlt es den Nilanwohnern an Werkzeugen, um das bepanzerte Ungeheuer in seinen Fluten völlig zu besiegen. Sie konnten es nur auf kurze Zeit zurückdrängen, und hiermit begnügten sie sich.
Allmählich aber verließ sie der Eifer des Widerstandes. Das Untier wuchs und vermehrte sich, auch wurde seine Wut je länger je furchtbarer. Da beschloss das törichte und erschlaffende Volk, das Krokodil als Gottheit zu verehren. Man brachte freiwillig ihm fette Opfer, und das Ungeheuer ward mächtiger als je, aber das Volk versank in Stumpfsinn und Feigheit.
Endlich bricht der überspannte Bogen, und den Tyrannen erreicht die Rache. Osiris nahm sich der Verlassenen an und ermutigte sie durch den Mund des weisen Priesters zu neuem Kampfe. Bald erscholl das Gestade von dem Ruf der Streiter, und der Strom ward rot von dem Blut der Erschlagenen. Schon begannen die Kämpfer zu ermüden, da flehte der Priester und das bedrängte Volk Osiris um Hilfe an, und die Gottheit erhörte ihr Flehen. - Ein kleines Tier, Tezerdah genannt, erschien an dem Ufer des Nilstroms. »Seht«, rief der Priester, »hier sendet Osiris euch Hilfe.«
»Wie! spottest du unser?« rief ihm die Schar des Volkes entgegen.
Da antwortete der Priester und sprach: »Harret des Ausgangs und vertraut der sichern Macht. In ihrer Hand vermag das kleinste Mittel die größte Not zu enden.«
Die Zahl der schrecklichen Nilungeheuer nahm bald sichtbar ab. Das Volk sah mit Bewunderung dem kleinen Tier zu, während es in stiller Emsigkeit den Eiern und der Brut des Krokodils nachspürte. Also zerstörte es in kurzer Zeit die Keime von hundert furchtbaren Niltyrannen und befreite das Land von seiner Plage, was so viele Köpfe und Hände nicht vermocht hatten.
»Seht!« sagte darauf der weise Priester, »wollet ihr ein Übel vernichten, so greift es im Keim und in der Wurzel an. Dann wird ein kleines Mittel leicht bewirken, was späterhin ein Heer nicht vermag.«