[swahili, "Geschichte, Legende"]

Griechische Sagen Ödipus

Des Ödipus Geburt, Jugend, Flucht, Vatermord

Laïos, Sohn des Labdakos, aus dem Stamme des Kadmos, war König von Theben und lebte mit Iokaste, der Tochter eines vornehmen Thebaners, Menökeus, lange in kinderloser Ehe. Da ihn nun sehnlich nach einem Erben verlangte und er darüber den delphischen Apoll um Aufschluss befragte, wurde ihm ein Orakelspruch des folgenden Inhalts zuteil: »Laïos, Sohn des Labdakos! Du begehrest Kindersegen. Wohl, dir soll ein Sohn gewährt werden. Aber wisse, dass dir vom Geschicke verhängt ist, durch die Hand deines eigenen Kindes das Leben zu verlieren. Dies ist das Gebot von Zeus, dem Kroniden, der den Fluch des Pelops, dem du einst den Sohn geraubt, erhört hat.« Laïos war nämlich in seiner Jugend landesflüchtig und im Peloponnese am Hofe des Königs als Gast aufgenommen worden. Er hatte aber seinem Wohltäter mit Undank gelohnt und Chrysippos, den schönen Sohn des Pelops, auf den nemäischen Spielen entführt. Dieser Schuld sich bewusst, glaubte Laïos dem Orakel und lebte lange von seiner Gattin getrennt. Doch führte die herzliche Liebe, mit welcher sie einander zugetan waren, trotz der Warnung des Schicksals beide wieder zusammen, und Iokaste gebar endlich ihrem Gemahl einen Sohn. Als das Kind zur Welt gekommen war, fiel den Eltern der Orakelspruch wieder ein, und um dem Spruche des Gottes auszuweichen, ließen sie den neugebornen Knaben nach drei Tagen mit durchstochenen und zusammengebundenen Füßen in das wilde Gebirge Kithairon werfen. Aber der Hirte, welcher den grausamen Auftrag erhalten hatte, empfand Mitleid mit dem unschuldigen Kinde und übergab es einem andern Hirten, der in demselben Gebirge die Herden des Königs Polybos von Korinth weidete. Dann kehrte er wieder heim und stellte sich vor dem Könige und seiner Gemahlin Iokaste, als hätte er den Auftrag erfüllt. Diese glaubten das Kind verschmachtet oder von wilden Tieren zerrissen und die Erfüllung des Orakelspruchs dadurch unmöglich gemacht. Sie beruhigten ihr Gewissen mit dem Gedanken, dass sie durch die Aufopferung des Kindes dasselbe vor Vatermord behütet hätten, und lebten jetzt erst recht mit erleichtertem Herzen.

Der Hirte des Polybos löste indessen dem Kinde, das ihm, ohne dass er wusste, woher es kam, übergeben worden war, die ganz durchbohrten Fersen der Füße und nannte ihn von seinen Wunden Ödipus, das heißt Schwellfuß. So brachte er ihn nach Korinth zu seinem Herrn, dem Könige Polybos. Dieser erbarmte sich des Findlings, übergab ihn seiner Gemahlin Merope und zog ihn als seinen eigenen Sohn auf, für den er auch am Hofe und im ganzen Lande galt. Zum Jünglinge herangereift, wurde er dort stets für den höchsten Bürger gehalten und lebte selbst in der glücklichen Überzeugung, Sohn und Erbe des Königs Polybos zu sein, der keine anderen Kinder hatte. Da ereignete sich ein Zufall, der ihn aus dieser Zuversicht plötzlich in den Abgrund der Zweifel stürzte. Ein Korinther, der ihm schon längere Zeit aus Neid abhold war, rief an einem Festmahle, von Wein überfüllt, dem ihm gegenübergelagerten Ödipus zu, er sei seines Vaters echter Sohn nicht. Von diesem Vorwurfe schwer getroffen, konnte der Jüngling das Ende des Mahles kaum erwarten; doch verschloss er seinen Zweifel selbigen Tag noch kämpfend in der Brust. Am andern Morgen aber trat er vor seine beiden Eltern, die freilich nur seine Pflegeeltern waren, und verlangte von ihnen Auskunft. Polybos und seine Gattin waren über den Schmäher, dem diese Rede entfallen war, sehr aufgebracht und suchten ihrem Sohn seine Zweifel auszureden, ohne ihm jedoch dieselben durch eine runde Antwort zu heben. Die Liebe, die er in ihrer Äußerung erkannte, war ihm zwar sehr erquicklich, aber jenes Misstrauen nagte doch seitdem an seinem Herzen, denn die Worte seines Feindes waren zu tief eingedrungen. Endlich griff er heimlich zum Wanderstabe, und ohne seinen Eltern eine Wort zu sagen, suchte er das Orakel zu Delphi auf und hoffte, von ihm eine Widerlegung der ehrenrührigen Beschuldigung zu vernehmen. Aber Phöbos Apollo würdigte ihn dort keiner Antwort auf seine Frage, sondern deckte ihm nur ein neues, weit grauenvolleres Unglück, das ihm drohte, auf. »Du wirst«, sprach das Orakel, »deines eigenen Vaters Leib ermorden, deine Mutter heiraten und den Menschen eine Nachkommenschaft von verabscheuungswürdiger Art zeigen.« Als Ödipus dieses vernommen hatte, ergriff ihn unaussprechliche Angst, und da ihm sein Herz doch immer noch sagte, dass so liebevolle Eltern wie Polybos und Merope seine rechten Eltern sein müssten, so wagte er es nicht, in seine Heimat zurückzukehren, aus Furcht, er möchte, vom Verhängnisse getrieben, Hand an seinen geliebten Vater Polybos legen und, von den Göttern mit unwiderstehlichem Wahnsinne geschlagen, ein verruchtes Ehebündnis mit seiner Mutter Merope eingehen. Von Delphi aufbrechend, schlug er den Weg nach Böotien ein. Er befand sich noch auf der Straße zwischen Delphi und der Stadt Daulia, als er, an einen Kreuzweg gelangt, einen Wagen sich entgegenkommen sah, auf dem ein ihm unbekannter alter Mann mit einem Herolde, einem Wagenlenker und zwei Dienern saß. Der Rosselenker, zusamt dem Alten, trieb den Fußgänger, der ihnen in den schmalen Pfad gekommen war, ungestüm aus dem Wege; Ödipus, von Natur jähzornig, versetzte dem trotzigen Wagenführer einen Schlag. Der Greis aber, wie er den Jüngling so keck auf den Wagen anschreiten sah, zielte scharf mit seinem doppelten Stachelstabe, den er zur Hand hatte, und versetzte ihm einen schweren Streich auf den Scheitel. Jetzt war Ödipus außer sich gebracht: zum erstenmal bediente er sich der Heldenstärke, die ihm die Götter verliehen hatten, erhub seinen Reisestock und stieß den Alten, dass er sich schnell rücklings vom Wagensitze herabwälzte. Ein Handgemenge entstand; Ödipus musste sich gegen ihrer drei seines Lebens erwehren; aber seine Jugendstärke siegte, er erschlug sie alle, bis auf einen, der entrann, und zog davon.

Ihm kam keine Ahnung in seine Seele, dass er etwas anderes getan als aus Notwehr sich an einem gemeinen Phokier oder Böotier mit seinen Knechten, die ihm samt demselben ans Leben wollten, gerächt habe. Denn der Greis, der ihm begegnet, trug kein Zeichen höherer Würde an sich. Aber der Gemordete war Laïos, König von Theben, der Vater des Mörders, gewesen, der auf einer Reise nach dem pythischen Orakel dieses Weges zog; und also war die gedoppelte Weissagung, die Vater und Sohn erhalten und der sie beide entgehen wollten, an beiden vom Geschick erfüllt worden. Ein Mann aus Platäa, mit Namen Damasistratos, fand die Leichen der Erschlagenen am Kreuzwege liegen, erbarmte sich ihrer und begrub sie. Ihr Denkmal aus angehäuften Steinen mitten im Kreuzwege sah nach vielen hundert Jahren noch der Wanderer.

Ödipus in Theben, heiratet seine Mutter

Nicht lange Zeit, nachdem dieses geschehen, war vor den Toren der Stadt Theben in Böotien die Sphinx erschienen, ein geflügeltes Ungeheuer, vorn wie eine Jungfrau, hinten wie ein Löwe gestaltet. Sie war eine Tochter des Typhon und der Echidna, der schlangengestalteten Nymphe, der fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schwester des Höllenhundes Kerberos, der Hyder von Lerna und der feuerspeienden Chimära. Dieses Ungeheuer hatte sich auf einen Felsen gelagert und legte dort den Bewohnern von Theben allerlei Rätsel vor, die sie von den Musen erlernt hatte. Erfolgte die Auflösung nicht, so ergriff sie denjenigen, der es übernommen hatte, das Rätsel zu lösen, zerriss ihn und fraß ihn auf. Dieser Jammer kam über die Stadt, als sie eben um ihren König trauerte, der - niemand wusste, von wem - auf einer Reise erschlagen worden war und an dessen Stelle Kreon, Bruder der Königin Iokaste, die Zügel der Herrschaft ergriffen hatte. Zuletzt kam es, dass dieses Kreon eigener Sohn, dem die Sphinx auch ein Rätsel aufgegeben und der es nicht gelöst hatte, ergriffen und verschlungen worden war. Diese Not bewog den Fürsten Kreon, öffentlich bekanntzumachen, dass demjenigen, der die Stadt von der Würgerin befreien würde, das Reich und seine Schwester Iokaste als Gemahlin zuteil werden sollte. Eben als jene Bekanntmachung öffentlich verkündigt wurde, betrat Ödipus an seinem Wanderstabe die Stadt Theben. Die Gefahr wie ihr Preis reizten ihn, zumal da er das Leben wegen der drohenden Weissagung, die über ihm schwebte, nicht hoch anschlug. Er begab sich daher nach dem Felsen, auf dem die Sphinx ihren Sitz genommen hatte, und ließ sich von ihr ein Rätsel vorlegen. Das Ungeheuer gedachte dem kühnen Fremdling ein recht unauflösliches aufzugeben, und ihr Spruch lautete also: »Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten.« Ödipus lächelte, als er das Rätsel vernahm, das ihm selbst gar nicht schwierig erschien. »Dein Rätsel ist der Mensch«, sagte er, »der am Morgen seines Lebens, solang er ein schwaches und kraftloses Kind ist, auf seinen zween Füßen und seinen zwo Händen geht; ist er erstarkt, so geht er am Mittage seines Lebens nur auf den zween Füßen; ist er endlich am Lebensabend als ein Greis angekommen und der Stütze bedürftig geworden, so nimmt er den Stab als dritten Fuß zu Hilfe.« Das Rätsel war glücklich gelöst, und aus Scham und Verzweiflung stürzte sich die Sphinx selbst vom Felsen und zu Tode. Ödipus trug zum Lohne das Königreich von Theben und die Hand der Witwe, welche seine eigene Mutter war, davon. Iokaste gebar ihm nach und nach vier Kinder, zuerst die männlichen Zwillinge Eteokles und Polyneikes, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die jüngere Ismene. Aber diese vier waren zugleich seine Kinder und seine Geschwister.

Die Entdeckung

Lange Zeit schlief das grauenhafte Geheimnis, und Ödipus, bei manchen Gemütsfehlern ein guter und gerechter König, herrschte glücklich und geliebt an Iokastes Seite über Theben. Endlich aber sandten die Götter eine Pest in das Land, die unter dem Volke grausam zu wüten begann und gegen welche kein Heilmittel fruchten wollte. Die Thebaner suchten gegen das fürchterliche Übel, in welchem sie eine von den Göttern gesandte Geißel erblickten, Schutz bei ihrem Herrscher, den sie für einen Günstling des Himmels hielten. Männer und Frauen, Greise und Kinder, die Priester mit Ölzweigen an ihrer Spitze, erschienen vor dem königlichen Palaste, setzten sich um und auf die Stufen des Altars, der vor demselben stand, und harrten auf die Erscheinung ihres Gebieters. Als Ödipus, durch den Zusammenlauf herausgerufen, aus seiner Königsburg trat und nach der Ursache fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und Klagelaut erfüllt sei, antwortete ihm im Namen aller der älteste Priester: »Du siehst selbst, o Herr, welches Elend auf uns lastet: Triften und Felder versengt unerträgliche Hitze; in unsern Häusern wütet die verzehrende Seuche; umsonst strebt die Stadt aus den blutigen Wogen des Verderbens ihr Haupt emporzutauchen. In dieser Not nehmen wir unsere Zuflucht zu dir, geliebter Herrscher. Du hast uns schon einmal von dem tödlichen Zins erlöst, mit welchem uns die grimmige Rätselsängerin zehntete. Gewiss ist solches nicht ohne Götterhilfe geschehen. Und darum vertrauen wir auf dich, dass du, sei es bei Göttern oder Menschen, uns auch diesmal Hilfe finden werdest.« »Arme Kinder«, erwiderte Ödipus, »wohl ist mir die Ursache eures Flehens bekannt. Ich weiß, dass ihr kranket; aber niemand krankt im Herzen so wie ich. Denn mein Gemüt beseufzt nicht nur einzelne, sondern die ganze Stadt. Darum erwecket ihr mich nicht wie einen Entschlummerten aus dem Schlafe, sondern hin und her habe ich im Geiste nach Rettungsmitteln geforscht, und endlich glaube ich eines gefunden zu haben. Denn mein eigener Schwager Kreon ist von mir zum pythischen Apollo nach Delphi abgesandt worden, dass er frage, welch Werk oder welche Tat die Stadt befreien kann.«

Noch sprach der König, als auch Kreon unter die Menge trat und den Bescheid des Orakels dem Könige vor den Ohren des Volkes mitteilte. Dieser lautete freilich nicht tröstlich: »Der Gott befahl, einen Frevel, den das Land beherberge, hinauszuwerfen und nicht das zu pflegen, was keine Säuberung zu sühnen vermöge. Denn der Mord des Königes Laïos laste als eine schwere Blutschuld auf dem Lande.« Ödipus, ganz ohne Ahnung, dass jener von ihm erschlagene Greis derselbe sei, um dessen willen der Zorn der Götter sein Volk heimsuche, ließ sich die Ermordung des Königs erzählen, und noch immer blieb sein Geist mit Blindheit geschlagen. Er erklärte sich berufen, für jenen Toten Sorge zu tragen, und entließ das versammelte Volk. Sodann ließ er ins ganze Land die Verkündigung ausgehen, wem irgendeine Kunde von dem Mörder des Laïos geworden wäre, der sollte alles anzeigen; auch wer in fremdem Lande darum wüsste, dem sollte für seine Angabe der Lohn und Dank der Stadt zuteil werden. Der dagegen, der für einen Freund besorgt schweigen und die Schuld der Mitwissenschaft von sich abwälzen wollte, der sollte von allem Götterdienst, vom Opfermahle, ja von Umgang und Unterredung mit seinen Mitbürgern ausgeschlossen werden. Den Täter selbst endlich verfluchte er unter schauerlichen Beteuerungen, wünschte ihm Not und Plage durch das ganze Leben an und zuletzt das Verderben. Und das sollte ihm widerfahren, selbst wenn er am Herde des Königes verborgen lebte. Zu allem dem sandte er zwei Boten an den blinden Seher Tiresias, der an Einsicht und Blick ins Verborgene fast dem wahrsagenden Apollo selber gleichkam. Dieser erschien auch bald, von der Hand eines leitenden Knaben geführt, vor dem Könige und in der Volksversammlung. Ödipus trug ihm die Sorge vor, die ihn und das ganze Land quäle. Er bat ihn, seine Seherkunst anzuwenden, um ihnen auf die Spur des Mordes zu verhelfen.

Aber Tiresias brach in einen Wehruf aus und sprach, indem er seine Hände abwehrend gegen den König ausstreckte: »Entsetzlich ist das Wissen, das dem Wissenden nur Unheil bringt! Lass mich heimkehren, König; trag du das Deine und lass mich das Meine tragen!« Ödipus drang jetzt um so mehr in den Seher; und das Volk, das ihn umringte, warf sich flehend vor ihm auf die Knie. Als er aber auch so keine weitern Aufschlüsse geben zu wollen bereit war, da entbrannte der Jähzorn des Königs Ödipus, und er schalt den Tiresias als Mitwisser oder gar Fausthelfer bei der Ermordung des Laïos. Ja, nur des Sehers Blindheit halte ihn ab, diesem allein die Untat zuzutrauen. Diese Beschuldigung löste dem blinden Propheten die Zunge. »Ödipus«, sprach er, »gehorche deiner eigenen Verkündigung. Rede mich nicht, rede keinen aus dem Volke fürder an. Denn du selbst bist der Gräuel, der diese Stadt besudelt! Ja, du bist der Königsmörder, du bist derjenige, der mit dem Teuersten in fluchwürdigem Verhältnisse lebt.«

Ödipus war nun einmal verblendet: er schalt den Seher einen Zauberer, einen ränkevollen Gaukler; er warf Verdacht auch auf seinen Schwager Kreon und beschuldigte beide der Verschwörung gegen den Thron, von welchem sie durch ihre Lügengespinste ihn, den Erretter der Stadt, stürzen wollten. Aber nur noch näher bezeichnete ihn jetzt Tiresias als Vatermörder und Gatten der Mutter, weissagte ihm sein nahe bevorstehendes Elend und entfernte sich zürnend an der Hand seines kleinen Führers. Auf die Beschuldigung des Königes war indessen auch der Fürst Kreon herbeigeeilt, und es hatte sich ein heftiger Wortwechsel zwischen beiden entsponnen, den Iokaste, die sich zwischen die Streitenden warf, vergeblich zu beschwichtigen suchte. Kreon schied unversöhnt und im Zorn von seinem Schwager.

Noch blinder als der König selbst war seine Gemahlin Iokaste. Sie hatte kaum aus dem Munde des Gatten erfahren, dass Tiresias ihn den Mörder des Laïos genannt, als sie in laute Verwünschungen gegen Seher und Seherweisheit ausbrach.»Sieh nur, Gemahl«, rief sie, »wie wenig die Seher wissen; sieh es an einem Beispiel! Mein erster Gatte Laïos hatte auch einst ein Orakel erhalten, dass er durch Sohneshand sterben werde. Nun erschlug aber jenen eine Räuberschar am Kreuzweg, und unser einziger Sohn wurde, an den Füßen gebunden, ins öde Gebirge geworfen und nicht über drei Tage alt. So erfüllen sich die Sprüche der Seher!« Diese Worte, die die Königin mit Hohnlachen sprach, machten auf Ödipus einen ganz andern Eindruck, als sie erwartet hatte. »Am Kreuzweg«, fragte er in höchster Gemütsangst, »ist Laïos gefallen? O sprich, wie war seine Gestalt, sein Alter?« »Er war groß«, antwortete Iokaste, ohne die Aufregung ihres Gatten zu begreifen, »die ersten Greisenlocken schmückten sein Haupt; er war dir selbst, mein Gemahl, von Gestalt und Ansehen gar nicht unähnlich.« »Tiresias ist nicht blind, Tiresias ist sehend!« rief jetzt entsetzenvoll Ödipus, dem die Nacht seines Geistes auf einmal, wie durch einen Blitzstrahl, erleuchtet ward. Doch trieb ihn das Grässliche selber, weiter danach zu forschen, als müssten auf seine Fragen Antworten kommen, welche die schreckliche Entdeckung auf einmal als Irrtum darstellten. Aber alle Umstände trafen zusammen, und zuletzt erfuhr er, dass ein entronnener Diener den ganzen Mord gemeldet habe. Dieser Knecht aber habe, sowie er den Ödipus auf dem Throne sah, flehentlich gebeten, ihn so weit als möglich von der Stadt weg auf die Weiden des Königes zu schicken. Ödipus begehrte ihn zu sehen, und der Sklave wurde vom Lande hereinbeschieden. Ehe er jedoch noch ankam, erschien ein Bote aus Korinth, meldete dem Ödipus den Tod seines Vaters Polybos und rief ihn auf den erledigten Thron des Landes.

Bei dieser Botschaft sprach die Königin abermals triumphierend: »Hohe Göttersprüche, wo seid ihr? Der Vater, den Ödipus umbringen sollte, ist sanft an Altersschwäche verschieden!« Anders wirkte die Nachricht auf den frömmeren König Ödipus, der, obgleich er noch immer gerne geneigt war, den Polybos für seinen Vater zu halten, es doch nicht begreifen konnte, wie ein Orakel unerfüllt bleiben sollte. Auch wollte er nicht nach Korinth gehen, weil seine Mutter Merope dort noch lebte und der andere Teil des Orakels, seine Heirat mit der Mutter, immer noch erfüllt werden konnte. Diesen Zweifel benahm ihm freilich der Bote bald. Er war derselbe Mann, der vor vielen Jahren das neugeborne Kind von einem Diener des Laïos auf dem Berge Kithairon empfangen und ihm die durchbohrten und gebundenen Fersen gelöst hatte. Er bewies dem Könige leicht, dass er nur ein Pflegesohn, wiewohl Erbe des Königes Polybos von Korinth sei. Ein dunkler Trieb nach Wahrheit ließ den Ödipus nach jenem Diener des Laïos verlangen, der ihn als Kind dem Korinther übergeben hatte. Von seinem Gesinde erfuhr er, dass dies derselbe Hirte sei, der, von dem Morde des Laïos entronnen, jetzt an der Grenze das Vieh des Königes weide.

Als Iokaste solches hörte, verließ sie ihren Gemahl und das versammelte Volk mit einem lauten Wehruf. Ödipus, der sein Auge absichtlich mit Nacht zu bedecken suchte, missdeutete ihre Entfernung. »Gewiss befürchtet sie«, sprach er zu dem Volke, »als ein Weib voll Hochmut, die Entdeckung, dass ich unedlen Stammes sei. Ich aber halte mich für einen Sohn des Glückes und schäme mich dieser Abkunft nicht!« Jetzt erschien der greise Hirte, der aus der Ferne herbeigeholt worden war und von dem Korinther sogleich als derjenige erkannt wurde, der ihm einst den Knaben auf dem Kithairon übergeben hatte. Der alte Hirt aber war ganz blass vor Schrecken und wollte alles leugnen; nur auf die zornigen Drohungen des Ödipus, der ihn mit Stricken zu binden befahl, sagte er endlich die Wahrheit: wie Ödipus der Sohn des Laïos und der Iokaste sei, wie der furchtbare Götterspruch, dass er den Vater ermorden werde, ihn in seine Hände geliefert, er aber ihn aus Mitleid erhalten habe.

Iokaste und Ödipus strafen sich

Aller Zweifel war nun gehoben und das Entsetzliche enthüllt. Mit einem wahnsinnigen Schrei stürzte Ödipus davon, irrte in dem Palast umher und verlangte nach einem Schwert, um das Ungeheuer, das seine Mutter und Gattin sei, von der Erde zu vertilgen. Da ihm, wie einem Rasenden, alles aus dem Wege ging, suchte er grässlich heulend sein Schlafgemach auf, sprengte das verschlossene Doppeltor und brach hinein. Ein grauenhafter Anblick hemmte seinen Lauf. Mit fliegendem und zerrauftem Haupthaar erblickte er hier, hoch über dem Lager schwebend, Iokaste, die sich mit einem Strang die Kehle zugeschnürt und erhängt hatte. Nach langem Hinstarren nahte sich Ödipus der Leiche mit brüllendem Stöhnen, ließ das hoch aufgezogene Seil zur Erde herab, dass sich die Leiche auf den Boden senkte. Wie sie nun vor ihm ausgestreckt lag, riss er die goldgetriebenen Brustspangen aus dem Gewande der Frau, hob sie hoch in der Rechten auf, fluchte seinen Augen, dass sie nimmer schauen sollten, was er tat und duldete, und wühlte mit dem spitzen Gold in denselben, bis die Augäpfel durchbohrt waren und ein Blutstrom aus den Höhlen drang. Dann verlangte er, ihm, dem Geblendeten, das Tor zu öffnen, ihn herauszuführen, ihn dem ganzen Thebanervolk als den Vatermörder, als den Muttergatten, als einen Fluch des Himmels und ein Scheusal der Erde vorzustellen. Die Diener erfüllten sein Verlangen, aber das Volk empfing den einst so geliebten und verehrten Herrscher nicht mit Abscheu, sondern mit innigem Mitleid. Kreon selbst, sein Schwager, den sein ungerechter Verdacht gekränkt hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu verspotten, wohl aber um den fluchbelasteten Mann dem Sonnenlicht und dem Auge des Volkes zu entziehen und ihn dem Kreise seiner Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Ödipus rührte soviel Güte. Er übergab seinem Schwager den Thron, den er seinen jungen Söhnen aufbewahren sollte, und erbat sich für seine unselige Mutter ein Grab, für seine verwaisten Töchter den Schutz des neuen Herrschers; für sich selbst aber begehrte er Ausstoßung aus dem Lande, das er mit doppeltem Frevel besudelt, und Verbannung auf den Berg Kithairon, den schon die Eltern ihm zum Grabe bestimmt hatten und wo er jetzt leben oder sterben wollte, je nach der Götter Willen. Dann verlangte er nach seinen Töchtern, deren Stimme er noch einmal hören wollte, und legte seine Hand auf ihre unschuldigen Häupter. Den Kreon segnete er für alle Liebe, die dieser ihm, der es nicht um ihn verdient hätte, erwiesen, und wünschte ihm und allem Volke bessern Schutz der Götter, denn er selbst erfahren hatte.

Darauf führte ihn Kreon in das Haus zurück, und der jüngst noch verherrlichte Retter Thebens, der mächtige Herrscher, dem viele Tausende gehorchten, der Ödipus, der so tiefe Rätsel erforscht und so spät erst das eigene furchtbare Rätsel seines Lebens gelöst hatte, sollte, einem blinden Bettler gleich, durch die Tore seiner Vaterstadt und an die Grenzen seines Königreichs wandern.

Ödipus und Antigone

In der ersten Stunde der Entdeckung wäre der schnellste Tod dem Ödipus der liebste gewesen, ja er hätte es als eine Wohltat aufgenommen, wenn das Volk sich gegen ihn erhoben und ihn gesteinigt hätte. Und so schien ihm auch die Verbannung, um welche er flehte und welche sein Schwager Kreon ihm bewilligte, als ein Geschenk. Als er aber in seiner Finsternis zu Hause saß und der Zorn allmählich auskochte, da fing er auch an, das Grässliche zu empfinden, was das Herumirren eines blinden Verbannten in der Fremde mit sich führen musste. Die Liebe zur Heimat begann mit dem Gefühle wieder zu erwachen, dass er für nicht beabsichtigte und nicht mit Bewusstsein begangene Verbrechen teils durch den Tod Iokastes, teils durch die Blendung, die er an sich selbst vollzogen habe, doch eigentlich genug bestraft sei, und er scheute sich auch nicht, den Wunsch, zu Hause zu bleiben, gegen Kreon und seine eigenen Söhne Eteokles und Polyneikes laut werden zu lassen. Aber da zeigte sich, dass die Rührung des Fürsten Kreon nur eine vorübergehende gewesen und auch seine Söhne eine harte und selbstsüchtige Gemütsart hatten. Kreon nötigte seinen unglücklichen Verwandten, auf seinem ersten Beschlusse zu verharren, und die Söhne, deren erste Pflicht doch war, dem Vater zu helfen, verweigerten ihm ihren Beistand. Ja fast ohne dass ein Wort gewechselt wurde, gab man ihm den Bettelstab in die Hand und stieß ihn zum Königspalaste von Theben hinaus. Nur seine Töchter fühlten kindliches Erbarmen mit dem Verstoßenen. Die jüngere Tochter Ismene blieb im Hause ihrer Brüder zurück, um hier soviel als möglich der Sache des Vaters zu dienen und gleichsam der Anwalt des Entfernten zu sein. Die ältere, Antigone, teilte mit dem Vater die Verbannung und lenkte die Schritte des Blinden. So zog sie mit ihm auf schwerer Irrfahrt herum, schweifte unbeschuht und ohne Speise mit ihm durch die wilden Wälder; Sonnenhitze und Regenguss hielt die zarte Jungfrau mit dem Vater aus, und während sie zu Hause bei den Brüdern die beste Pflege genießen konnte, war sie im Elende zufrieden, wenn nur der Vater satt wurde. Sein Wille war anfangs gewesen, in einer Wüstenei des Berges Kithairon das elende Leben zu fristen oder zu endigen. Doch weil er ein frommer Mann war, wollte er auch diesen Schritt nicht ohne den Willen der Götter tun, und so pilgerte er vorher zum Orakel des pythischen Apollo. Hier ward ihm ein tröstlicher Spruch zuteil. Die Götter erkannten, dass Ödipus wider seinen Willen sich gegen die Natur und die heiligsten Gesetze der Menschengesellschaft versündigt hatte. Gebüßt musste ein so schweres Vergehen freilich werden, wenn es auch unfreiwillig war; aber ewig sollte die Strafe nicht währen. Darum eröffnete ihm der Gott: »Nach langer Frist zwar, aber endlich doch harre seiner die Erlösung, wenn er zu dem ihm vom Schicksale bestimmten Lande gelangt wäre, wo die ehrwürdigen Göttinnen, die strengen Eumeniden, ihm eine Zufluchtsstätte gönnten.« Nun war aber der Name Eumeniden, die Wohlwollenden, ein Beiname der Erinnyen oder Furien, der Göttinnen der Rache, welche die Sterblichen mit einem so begütigenden Namen ehren und besänftigen wollten. Der Orakelspruch lautete rätselhaft und schauerlich. Bei den Furien sollte Ödipus für seine Sünden gegen die Natur Ruhe und Erlösung von seiner Strafe finden! Dennoch vertraute er auf die Verheißung des Gottes und zog, dem Schicksal überlassend, wann die Erfüllung eintreten sollte, in Griechenland herum, von seiner frommen Tochter geleitet und gepflegt und vom Almosen mitleidiger Menschen erhalten. Immer bat er nur um weniges und erhielt auch nur weniges. Aber er begnügte sich damit jedes Mal; denn die lange Dauer seiner Verbannung, die Not und seine eigene edle Sinnesart lehrten ihn Genügsamkeit.

Ödipus auf Kolonos

Nach langer Wanderung, bald durch bewohntes, bald durch wüstes Land, waren die beiden eines Abends in einer sehr milden Gegend bei einem anmutigen Dorfe mitten im lieblichsten Haine angekommen. Nachtigallen flatterten durch das Gebüsch und sangen mit süßem Schall; Rebenblüte duftete; mit Oliven- und Lorbeerbäumen waren die rauen Felsstücke, welche die Gegend viel mehr schmückten als entstellten, überkleidet. Der blinde Ödipus selbst hatte durch seine übrigen Sinne eine Empfindung von der Anmut des Ortes und schloss aus der Schilderung seiner Tochter, dass derselbe ein geheiligter sein müsse. Aus der Ferne stiegen die Türme einer Stadt auf, und ihre Erkundigungen hatten Antigone belehrt, dass sie sich in der Nähe von Athen befänden. Ödipus hatte sich, von dem Wege des Tages müde, auf ein Felsstück gesetzt. Ein Bewohner des Dorfes, der vorüberging, hieß ihn jedoch bald diesen Sitz verlassen, weil der Boden geheiligt sei und keinen Fußtritt dulde. Da erfuhren denn die Wanderer bald, dass sie sich im Flecken Kolonos und auf dem Gebiet und in dem Haine der Alles erspähenden Eumeniden niedergelassen, unter welchem Namen die Athener hier die Erinnyen verehrten.

Nun erkannte Ödipus, dass er am Ziele seiner Wanderung angekommen und der friedlichen Lösung seines feindseligen Geschickes nahe sei. Seine Worte machten den Koloneer nachdenklich, und er wagte es jetzt schon nicht mehr, den Fremdling von seinem Sitz zu vertreiben, ehe er den König von dem Vorfall unterrichtet hätte. »Wer gebietet denn in eurem Lande?« fragte Ödipus, dem in seinem langen Elende die Geschichten und Verhältnisse der Welt fremd geworden waren. »Kennst du den gewaltigen und edlen Helden Theseus nicht?« fragte der Dorfbewohner, »ist doch die ganze Welt voll von seinem Ruhme!« »Nun, ist euer Herrscher so hochgesinnt«, erwiderte Ödipus, »so werde du mein Bote zu ihm und bitte ihn, nach dieser Stelle zu kommen; für so kleine Gunst verspreche ich ihm großen Lohn.« »Welche Wohltat könnte unsrem König ein blinder Mann reichen?« sagte der Bauer und warf einen lächelnden, mitleidigen Blick auf den Fremdling. »Doch«, setzte er hinzu, »wäre nicht deine Blindheit, Mann, du hättest ein edles, hohes Aussehen, das mich zwingt, dich zu ehren. Darum will ich dein Verlangen erfüllen und meinen Mitbürgern und dem Könige deine Bitte melden. Bleibe so lange hier sitzen, bis ich deinen Auftrag ausgerichtet habe. Jene mögen dann entscheiden, ob du hier verweilen kannst oder gleich wieder weiterwandern sollst.«

Als sich Ödipus mit seiner Tochter wieder allein sah, erhub er sich von seinem Sitze, warf sich zu Boden und ergoss sein Herz in einem brünstigen Gebete zu den Eumeniden, den furchtbaren Töchtern des Dunkels, und der Mutter Erde, die eine so liebliche Wohnung in diesem Haine aufgeschlagen. »Ihr Grauenvollen und doch Gnädigen«, sprach er, »zeiget mir jetzt nach dem Ausspruche Apollos die Entwicklung meines Lebens, wenn anders ich in meinem mühseligen Dasein nicht immer noch zuwenig erduldet habe! Erbarmet euch, ihr Kinder der Nacht; erbarme dich, ehrenwerte Stadt Athenes, über das Schattenbild des Königs Ödipus, der vor euch steht, denn er selbst ist es nicht mehr!« Sie blieben nicht lange allein. Die Kunde, dass ein blinder Mann von Ehrfurcht gebietendem Aussehen sich in dem Furienhaine gelagert, den zu betreten Sterblichen sonst nicht vergönnt ist, hatte bald die Ältesten des Dorfes, welche die Entweihung zu hindern gekommen waren, um ihn versammelt. Noch größerer Schrecken ergriff sie, als der Blinde sich ihnen als einen vom Schicksale verfolgten Mann zu erkennen gab. Sie fürchteten, den Zorn der Gottheit auf sich zu laden, wenn sie einen vom Himmel Gezeichneten länger an diesem heiligen Orte duldeten, und befahlen ihm, auf der Stelle ihre Landschaft zu verlassen. Ödipus bat sie inständig, ihn von dem Ziele seiner Wanderschaft, das ihm die Stimme der Gottheit selbst angewiesen habe, nicht zu verstoßen; Antigone vereinigte ihre Flehen mit dem seinen. »Wenn ihr euch der grauen Haare meines Vaters nicht erbarmen wollet«, sprach die Jungfrau, »so nehmet ihn doch um meiner, der Verlassenen, willen auf; denn auf mir lastet ja keine Schuld. Eilet, bewilliget uns eure Gunst unverhofft!« Während sie solche Zwiesprache pflegten und die Einwohner zwischen Mitleid und Furcht von den Erinnyen in ihrem Entschlusse zweifelhaft hin und her schwankten, sah Antigone ein Mädchen, auf einem kleinen Rosse sitzend, das Angesicht mit einem Reisehut vor der Sonne geschützt, heraneilen. Ein Diener, gleichfalls zu Rosse, folgte ihr. »Es ist meine Ismene«, sagte sie in freudigem Schrecken, »schon glänzt mir ihr liebes, helles Auge! Gewiss bringt sie uns neue Kunde aus der Heimat!« Bald war die Jungfrau, das jüngste Kind des verstoßenen Königs, bei ihnen angelangt und vom Saumrosse gesprungen. Mit einem einzigen Knechte, den sie allein treu befunden, hatte sie sich von Theben aufgemacht, um dem Vater Nachricht von dem Stande der dortigen Angelegenheiten zu bringen. Dort waren seine Söhne von großer, selbstverschuldeter Not bedrängt. Anfangs hatten sie die Absicht, ihrem Oheime Kreon den Thron ganz zu überlassen; denn der Fluch ihres Stammes schwebte ihnen drohend vor Augen. Allmählich aber, je mehr ihres Vaters Bild in die Ferne trat, verlor sich diese Regung; das Verlangen nach Herrschaft und Königswürde und mit ihm die Zwietracht erwachte bei ihnen. Polyneikes, der das Recht der Erstgeburt auf seiner Seite hatte, setzte sich zuerst auf den Thron. Aber Eteokles, der jüngere, nicht zufrieden, abwechslungsweise mit ihm zu herrschen, wie der Bruder vorschlug, verführte das Volk und stieß den älteren Bruder aus dem Lande fort. Dieser, so ging in Theben das Gerücht, war nach Argos im Peloponnes entflohen, wurde dort der Schwiegersohn des Königes Adrastos, verschaffte sich Freunde und Bundesgenossen und bedrohte seine Vaterstadt mit Eroberung und Rache. Zugleich aber war ein neuer Götterspruch ruchbar geworden, welcher dahin lautete, dass die Söhne des Ödipus ohne ihn selbst nichts vermögen; dass sie ihn suchen müssten, tot oder lebendig, wenn ihr eigenes Heil ihnen lieb wäre.

Dies waren die Nachrichten, welche Ismene ihrem Vater brachte. Die Koloneer horchten staunend, und Ödipus hub sich hoch empor von seinem Sitze: »Also steht es mit mir«, sprach er, und königliche Hoheit strahlte von dem blinden Angesichte; »bei dem Verbannten, bei dem Bettler sucht man Hilfe? Nun, da ich nichts bin, werde ich erst ein rechter Mann?« »So ist es«, fuhr Ismene in ihren Nachrichten fort. »Auch wisse, Vater, dass eben deswegen unser Oheim Kreon in ganz kurzer Zeit hierher kommen wird und dass ich mich sehr beeilt habe, ihm zuvorzukommen. Denn er will dich überreden oder fangen, wegführen und an die Grenzen des thebanischen Gebietes stellen, damit der Orakelspruch sich zu seinen und unsers Bruders Eteokles Gunsten erfülle und deine Gegenwart die Stadt doch nicht entweihe.« »Von wem weißt du alles dieses?« fragte der Vater. »Von Opferpilgern, die nach Delphi ziehen.« »Und wenn ich dort sterbe«, fragte Ödipus weiter, »werden sie mich in thebischer Erde begraben?« »Nein«, erwiderte die Jungfrau, »das duldet deine Blutschuld nicht.« »Nun«, rief der alte König entrüstet, »so sollen sie auch meiner niemals mächtig werden! Wenn bei meinen beiden Söhnen die Herrschsucht stärker ist als die kindliche Liebe, so soll ihnen auch der Himmel nie ihre verhängnisvolle Zwietracht löschen; und wenn auf mir die Entscheidung ihres Streites beruht, so soll weder der, welcher jetzt den Zepter in Händen hat, auf dem Throne sitzen bleiben noch der Verjagte je sein Vaterland wiedersehen! Nur diese Töchter sind meine wahren Kinder! In ihnen ersterbe meine Schuld, für sie erflehe ich den Segen des Himmels, für sie bitte ich euch um euren Schutz, mitleidige Freunde! Gewähret ihnen und mir euren tätigen Beistand; und ihr erwerbet dadurch eurer Stadt eine mächtige Brustwehr!«

Ödipus und Theseus

Die Koloneer hatte große Ehrfurcht vor dem blinden Ödipus erfüllt, der in seiner Verbannung noch so gewaltig erschien; sie rieten ihm, durch ein Trankopfer die Entweihung des Furienhaines zu sühnen. Erst jetzt erfuhren auch die Greise den Namen und die unverschuldete Schuld des Königs Ödipus, und wer weiß, ob das Grauen vor seiner Tat sie nicht aufs neue gegen ihn verhärtet hätte, wenn nicht ihr König Theseus, den die Botschaft herbeigerufen hatte, jetzt eben in ihren Kreis getreten wäre. Dieser ging freundlich und ehrerbietig auf den blinden Fremdling zu und redete ihn mit liebreichen Worten an: »Armer Ödipus, mir ist dein Geschick nicht unbekannt, und schon deine gewaltsam geblendeten Augen sagen mir, wen ich vor mir habe. Dein Unglück rührt mich tief in der Seele. Sage mir, was du bei der Stadt und mir suchest. Die Tat, zu der du meine Beihilfe verlangst, müsste eine schreckliche sein, wenn ich mich von dir abwenden könnte. Ich hab es nicht vergessen, dass auch ich gleich dir in fremden Landen herangewachsen bin und viele Fährlichkeiten ausgestanden habe.« »Ich erkenne deinen Seelenadel in dieser kurzen Rede«, antwortete Ödipus, »ich komme, dir eine Bitte vorzutragen, die eigentlich eine Gabe ist. Ich schenke dir diesen meinen leidensmüden Leib, freilich ein sehr unscheinbares Gut, aber doch ein großes Gut. Du sollst mich begraben und reichen Segen von deiner Mildigkeit ernten!« »Fürwahr«, sagte Theseus erstaunt, »die Gunst, um welche du flehst, ist klein. Verlange etwas Besseres, etwas Höheres, und es soll dir alles von mir gewährt sein.« »Die Gunst ist nicht so leicht, als du glaubst«, fuhr Ödipus fort; »du wirst einen Streit um diesen meinen elenden Leib zu bestehen haben.« Nun erzählte er ihm seine Verjagung und das späte und eigennützige Verlangen seiner Verwandten, ihn wieder zu besitzen; dann bat er ihn flehentlich um seinen Heldenbeistand. Theseus hörte aufmerksam zu und sprach dann feierlich: »Schon weil jedem Gastfreunde mein Haus offen steht, darf ich meine Hand nicht von dir abziehen; wie sollte ich es tun, da du noch dazu mir und meinem Lande soviel Heil versprichst und von der Hand der Götter an meinen Herd geleitet worden bist!« Er ließ dem Ödipus hierauf die Wahl, mit ihm nach Athen zu gehen oder hier in Kolonos als Gast zu bleiben. Dieser wählte das zweite, weil ihm vom Schicksale bestimmt sei, an der Stelle, wo er jetzt eben sich befinde, den Sieg über seine Feinde davonzutragen und sein Leben rühmlich zu beschließen. Der Athenerkönig versprach ihm den kräftigsten Schutz und kehrte in die Stadt zurück.

Ödipus und Kreon

Bald darauf drang der König Kreon von Theben mit Bewaffneten in Kolonos ein und eilte auf Ödipus zu. »Ihr seid von meinem Eintritt ins attische Gebiet überrascht«, sprach er zu den noch immer versammelten Dorfbewohnern gewendet; »doch sorget und zürnet nicht! Ich bin nicht so jung, im Übermute gegen die stärkste Stadt Griechenlands einen Kampf zu unternehmen. Ich bin ein Greis, den seine Mitbürger nur abgesandt haben, diesen Mann hier durch gütliche Überredung zu bewegen, mit mir nach Theben zurückzukehren.« Dann kehrte er sich zu Ödipus und drückte in den ausgesuchtesten Worten eine erheuchelte Teilnahme an seinem und seiner Töchter Elend aus. Aber Ödipus erhob seinen Stab und streckte ihn aus, zum Zeichen, dass Kreon ihm nicht näher kommen sollte. »Schamlosester Betrüger«, rief er, »das fehlte noch zu meiner Pein, dass du kämest und mich gefangen mit dir fortführtest! Hoffe nicht, durch mich deine Stadt von der Züchtigung zu befreien, die ihr bevorsteht. Nicht ich werde zu euch kommen, sondern nur den Dämon der Rache werde ich euch senden, und meine beiden lieblosen Söhne sollen nur so viel von thebanischem Boden besitzen, als sie brauchen, um sterbend darauf zu liegen!« Kreon wollte nun versuchen, den blinden König mit Gewalt hinwegzuführen; aber die Bürger von Kolonos erhoben sich dagegen, stützten sich auf Theseus' Wort und duldeten es nicht. Inzwischen hatten in dem Getümmel auf einen Wink ihres Herrn die Thebaner Ismene und Antigone ergriffen und von der Seite ihres Vaters weggerissen. Diese schleppten sie fort und trieben den Widerstand der Koloneer ab. Kreon aber sprach höhnend: »Deine Stäbe wenigstens habe ich dir entrissen. Versuch es jetzt, Blinder, und wandre weiter!« Und durch diesen Erfolg kühner gemacht, ging er aufs neue auf Ödipus los und legte schon Hand an ihn, als Theseus, den die Nachricht vom bewaffneten Einfalle in Kolonos zurückgerufen hatte, auftrat. Sobald dieser hörte und sah, was geschehen und noch im Werke sei, entsandte er Diener zu Fuß und zu Rosse auf der Straße hin, auf der die Töchter von den Thebanern als Raub fortgeführt wurden; dem Kreon aber erklärte er, ihn nicht eher freilassen zu wollen, als bis er dem Ödipus die Töchter zurückgegeben. »Sohn des Aigeus«, hub dieser beschämt an, »ich bin wahrlich nicht gekommen, dich und deine Stadt zu bekriegen. Wusste ich doch nicht, dass deine Mitbürger ein solcher Eifer für diesen meinen blinden Verwandten, dem ich Gutes tun wollte, befallen habe, dass sie den Vatermörder, den Gatten seiner Mutter, lieber bei sich hegen würden als ihn in sein Vaterland entlassen!« Theseus befahl ihm zu schweigen, ohne Verzug mit ihm zu gehen und den Aufenthalt der Jungfrauen anzugeben; und in kurzem führte er die geretteten Töchter dem tiefgerührten Ödipus in die Arme. Kreon und die Diener waren abgezogen.

Ödipus und Polyneikes

Aber noch sollte der arme Ödipus keine Ruhe haben. Theseus brachte von dem kurzen Zuge die Nachricht mit, dass ein naher Blutsverwandter desselben, jedoch nicht aus Theben kommend, Kolonos betreten und sich an dem Altar des benachbarten Poseidontempels, wo Theseus eben geopfert hatte, als Schutzflehender niedergelassen habe. »Das ist mein hassenswerter Sohn Polyneikes«, rief Ödipus zürnend aus. »Es wäre mir unerträglich, ihn anhören zu müssen!« Doch Antigone, die diesen Bruder als den sanfteren und besseren liebte, wusste die Zornaufwallung des Vaters zu dämpfen und dem Unglücklichen wenigstens Gehör zu verschaffen. Nachdem sich Ödipus auch gegen diesen den Arm seines Beschützers ausgebeten hatte, falls er ihn mit Gewalt hinwegführen wollte, ließ er den Sohn vor sich.

Polyneikes zeigte schon durch sein Auftreten eine ganz andere Gemütsart als sein Oheim Kreon, und Antigone versäumte nicht, ihren blinden Vater darauf aufmerksam zu machen. »Ich sehe jenen Fremdling«, rief sie, »ohne Begleiter herschreiten! Ihm strömen die Tränen aus den Augen.« »Ist er es?« fragte Ödipus und wendete sein Haupt ab. »Ja, Vater«, erwiderte die gute Schwester, »dein Sohn Polyneikes steht vor dir.« Polyneikes warf sich vor dem Vater nieder und umschlang seine Knie. An ihm hinaufblickend, betrachtete er jammernd seine Bettlerkleidung, seine hohlen Augen, sein ungekämmt in der Luft flatterndes Greisenhaar. »Ach, zu spät erfahre ich alles dieses«, rief er, »ja ich selbst muss es bezeugen, ich habe meines Vaters vergessen! Was wäre er ohne die Fürsorge meiner Schwester! Ich habe mich schwer an dir versündigt, Vater! Kannst du mir nicht vergeben? Du schweigst? Sprich doch etwas, Vater! Zürne nicht so unerbittlich hinweggewandt! O ihr lieben Schwestern, versucht ihr es, den abgekehrten Mund meines Erzeugers zu rühren!« »Sage du selbst zuvor, Bruder, was dich hergeführt hat«, sprach die milde Antigone; »vielleicht öffnet deine Rede auch seine Lippen!« Polyneikes erzählte nun seine Verjagung durch den Bruder, seine Aufnahme beim König Adrastos in Argos, der ihm die Tochter zur Gemahlin gab, und wie er dort sieben Fürsten mit siebenfacher Schar für seine gerechte Sache geworben habe und diese Bundesgenossen das thebanische Gebiet bereits umringt hätten. Dann bat er den Vater unter Tränen, sich mit ihm aufzumachen, und nachdem durch seine Hilfe der übermütige Bruder gestürzt sei, die Krone von Theben aus Sohnes Händen zum zweiten Mal zu empfangen. Doch die Reue des Sohnes vermochte den harten Sinn des gekränkten Vaters nicht zu erweichen. »Du Verruchter!« sprach er und hob den Niedergeworfenen nicht vom Boden auf, »als Thron und Zepter noch in deinem Besitze war, hast du den Vater selbst aus der Heimat verstoßen und in dieses Bettlerkleid eingehüllt, das du jetzt an ihm bemitleidest, wo gleiche Not über dich gekommen ist! Du und dein Bruder, ihr seid nicht meine wahren Kinder; hinge es von euch ab, so wäre ich längst tot. Nur durch meine Töchter lebe ich. Auch harrt euer schon der Götter Rache. Du wirst deine Vaterstadt nicht vertilgen; in deinem Blute wirst du liegen, und dein Bruder in dem seinen. Dies ist die Antwort, die du deinen Bundesfürsten bringen magst!« Antigone nahte sich jetzt ihrem Bruder, der bei dem Fluche des Vaters entsetzt vom Boden aufgesprungen und einige Schritte rückwärts gewichen war. »Höre mein inbrünstiges Flehen, Polyneikes«, sprach sie ihn umfassend, »kehre mit deinem Heere nach Argos zurück, bekriege deine Vaterstadt nicht!« »Es ist unmöglich«, erwiderte zögernd der Bruder; »die Flucht brächte mir Schmach, ja Verderben! Und wenn wir Brüder beide zugrunde gehen müssen, dennoch können wir nicht Freunde sein!« So sprach er, wand sich aus der Schwester Armen und stürzte verzweifelnd davon.

So hatte Ödipus den Versuchungen seiner Verwandten nach beiden Seiten hin widerstanden und sie dem Rachegott preisgegeben. Jetzt war sein eigenes Geschick vollendet. Donnerschlag auf Donnerschlag erscholl vom Himmel. Der Greis verstand diese Stimme und verlangte sehnlich nach Theseus. Die ganze Gegend hüllte sich in Gewitterfinsternis. Eine große Angst bemächtigte sich des blinden Königes; er fürchtete, von seinem Gastfreunde nicht mehr lebend oder nicht mehr unverstörten Sinnes getroffen zu werden und ihm den vollen Dank für so viele Wohltaten nicht mehr bezahlen zu können. Endlich erschien Theseus, und nun sprach Ödipus seinen feierlichen Segen über die Stadt Athen. Dann forderte er den König auf, dem Heroldrufe der Götter zu folgen und ihn allein an die Stelle zu begleiten, wo er, von keiner sterblichen Hand berührt und nur vom Auge des Theseus geschaut, enden sollte. Keinem Menschen dürfe er sagen, wo Ödipus die Erde verlassen. Bleibe das heilige Grab, das ihn verschlingen würde, verborgen, so werde es mehr als Speer und Schild und alle Bundesgenossen eine Schutzwehr gegen alle Feinde Athens sein. Seinen Töchtern und den Bewohnern von Kolonos erlaubte er dann, ihn eine Strecke weit zu begleiten, und so vertiefte sich der ganze Zug in die schauerlichen Schatten des Furienhaines. Keines durfte an Ödipus rühren; er, der Blinde, bisher von der Tochter Hand geleitet, schien auf einmal ein Sehender geworden, ging wunderbar gestärkt und aufgerichtet allen andern voran und zeigte ihnen den Weg zu dem vom Schicksal ihm bestimmten Ziele.

Mitten in dem Haine der Erinnyen sah man einen geborstenen Erdschlund, dessen Öffnung mit einer ehernen Schwelle versehen war und zu welchem mehrere Kreuzwege führten. Von dieser Höhle ging von uralter Zeit her die Sage, dass sie einer der Eingänge in die Unterwelt sei. Jener Kreuzwege einen betrat nun Ödipus, doch ließ er sich von dem Gefolge nicht bis zu der Grotte selbst begleiten, sondern unter einem hohlen Baume machte er halt, setzte sich auf einen Stein nieder und löste den Gürtel seines schmutzigen Bettlerkleides. Dann rief er nach einer Spende fließenden Wassers, wusch sich von aller Unreinigkeit der langen Wanderung und zog ein schmuckes Gewand an, das ihm durch seine Töchter aus einer nahen Wohnung herbeigebracht wurde. Als er nun völlig umgekleidet und wie erneuert dastand, tönte unterirdischer Donner vom Boden herauf. Bebend warfen sich die Jungfrauen, die bisher um ihren Vater bemüht gewesen waren, in seinen Schoß; Ödipus aber schlang seinen Arm um sie, küsste sie und sprach: »Kinder, lebet wohl, von diesem Tag an habt ihr keinen Vater mehr!« Aus dieser Umarmung weckte sie eine donnergleiche Stimme, von der man nicht wusste, ob sie vom Himmel herab- oder aus der Unterwelt herauftönte: »Was säumest du, Ödipus? Was zögern wir zu gehen?« Als der blinde König die Stimme vernahm und wusste, dass der Gott ihn abfordere, machte er sich aus den Armen seiner Kinder los, rief den König Theseus zu sich und legte seiner Töchter Hände in die Hand desselben, zum Zeichen seiner Verpflichtung, sie nimmermehr zu lassen. Dann befahl er allen andern, umgewendet sich zu entfernen. Nur Theseus an seiner Seite durfte auf die offene Schwelle mit ihm zuschreiten. Seine Töchter und das Gefolge waren dem Winke gefolgt und schauten sich erst um, als sie eine gute Strecke rückwärtsgegangen waren. Da hatte sich ein großes Wunder ereignet. Von dem Könige Ödipus war keine Spur mehr zu erblicken. Kein Blitz war zu sehen, kein Donner zu hören, kein Wirbelwind zu spüren; die tiefste Stille herrschte in der Luft. Die dunkle Schwelle der Unterwelt schien sich sanft und lautlos für ihn aufgetan zu haben, und durch den Erdspalt war der entsündigte Greis ohne Stöhnen und Pein sachte wie auf Geisterflügeln zur Tiefe hinabgetragen worden. Den Theseus aber erblickten sie allein, mit der Hand die Augen sich überschattend, als hätte er ein göttliches, überwältigendes Gesicht gehabt. Dann sahen sie, wie er, die Hände hoch gen Himmel gehoben, zu den Olympiern, und wieder, demütig auf den Boden niedergeworfen, zu den Göttern der Unterwelt flehte. Nach kurzem Gebete kehrte der König zu den Jungfrauen zurück, versicherte sie seines väterlichen Schutzes und schritt mit ihnen, in heiliges Schweigen versunken, nach Athen zurück.