[swahili, "Geschichte, Legende"]

Wie Jarty-gulak Vater und Mutter fand

Ob es sich nun wirklich so zugetragen hat oder nicht, wer weiß es zu sagen. Einmal ritt ein Greis durch die glutheiße Wüste. Er ritt auf einem Esel und führte ein Kamel an der Leine. Der Alte hatte bis zum Morgengrauen in der Mühle gewerkt und war todmüde. Das Kamel schleppte die schweren Säcke und war ebenfalls müde. Der Esel wiederum war müde, weil der Alte auf seinem Rücken saß. Bis zum Aul aber war es noch weit. Der Weg führte von Barchan zu Barchan, von einem Sandhügel zum anderen. Der Vogel weiß nicht, wo dieser Weg endet. Auch der Wind weiß nicht, wo die Wüste endet. Der Mensch aber nennt diese Wüste Karakum, was auf Turkmenisch »schwarzer Sand« bedeutet. So ritt der Greis seines Weges. Er ritt und sang sich ein Lied, lang wie sein Leben und wehmütig wie seine Gedanken, denn er war schon alt und sein Bart war weiß wie ein Häufchen Baumwolle, doch er besaß keinen Sohn, keinen Helfer im Alter. Was der Greis dachte, darüber sang er auch: »Hätte ich ein Söhnelein,
Und wäre es auch noch so klein,
Mit einem Gesicht wie blühender Mohn,
Mit einem Wesen wie die güldene Sonn'
Und fleißig wie ein Bienelein,
So wollte ich ganz glücklich sein!«
Miteins vernahm der Alte, wie ihn jemand anrief: »He, Ata-dshan, lieber Vater! Wenn du keinen Sohn hast, so nimm mich zu dir!« Erstaunt hielt der Alte seinen Maulesel an und blickte auf den Weg hinab, doch er sah nichts außer dem trockenen Distelgestrüpp. Da ertönte abermals die Stimme: »Wenn du einen Adler erblicken willst, schau nicht zur Erde!« Der Alte hob den Blick zum Himmel, doch auch dort fiel ihm nichts auf. Da sagte die Stimme sehr laut: »He, Ata-dshan, wer sucht den Leoparden in den Wolken?« Der Alte bat: »Verstecke dich nicht länger! Zeige dich mir.« Er hatte großes Verlangen, seinen so lang ersehnten Sohn zu sehen. Und da entdeckte er ihn: Ein kleiner Knabe lugte aus einem Kamelohr! Er sah den Alten munter an und piepste mit sehr hellem Stimmchen: »Ich bin doch hier! Hier bin ich doch! Siehst du mich? Sei so freundlich und hilf mir aus dieser engen Kibitka heraus, sonst ersticke ich am Ende gar.«

Der Alte hob den Knirps aus dem Kamelohr und setzte ihn sich auf seine Handfläche, so klein war er! Über der Stirn war sein Haar ausrasiert wie bei allen kleinen turkmenischen Jungen, hinter den Ohren aber lugten zwei feste schwarze Zöpfchen hervor. »Wie heißt du?« fragte der Alte den Knaben voll Zärtlichkeit. »Nenne mich, wie du magst«, erwiderte der Knirps munter und hub an, sich die Zöpfchen neu zu flechten. Das machte er so ruhig, als säße er daheim auf einer weichen Koschma und nicht auf dieser rauen verarbeiteten Hand. Der Alte schüttelte den Kopf. »Was bist du doch für ein kleiner Knirps! Ich wette, dass du nicht größer bist als ein halbes Kamelohr!« Der Knirps sah den Alten an und lachte: »Nenn mich doch so! Der Name gefällt mir!« Und der Alte nannte den Knaben fortan Jarty-gulak, was soviel bedeutet wie »Halbohr«.

Der Alte seufzte: »Du bist zwar niedlich, Jarty-gulak, aber wirst du mir auch eine Stütze im Alter sein? Du bist ja so klein!« Der Knirps zwinkerte ihm schlau zu und erwiderte: »Ata-dshan, der Diamant ist auch nicht groß, doch für ihn gibt man leichten Herzens hundert große Kamele her.« Dann fügte er hinzu: »Aber du, lieber Vater, gib mich nicht einmal für tausend Kamele fort, denn ich bringe dir und deinem Haus Glück und Erfolg.« Bei diesen Worten sprang Jarty-gulak auf die Füße und schrie wie ein uralter Treiber den schläfrigen Maulesel an: »Hü-hott, Esel, bringe uns rasch heim, sonst brennt Mutter der Pilaw an!« Der Maulesel schüttelte die Ohren, und sie setzten zu viert den Weg fort.

Mögen sie weiter reiten, du aber höre, was mit der Alten geschah. Die Alte saß mitten auf dem Hof auf einer weißen Koschma und knüpfte einen Teppich. Sie knüpfte kleine Wollschlingen und sann über ihr Ungemach nach. Wenn ein Mensch traurig ist, so weint er, oder er singt. Die Alte also sang: »Hätte ich ein Söhnelein,
Und wäre es auch noch so klein,
Würde ich ihm einen Teppich weben,
Rot wie aufgeblühte Nelken,
Golden wie die Sonne, wenn sie schlafen geht,
Tiefblau wie der Himmel, wenn der Mond aufzieht.«
Als die Alte aus dem Tor blickte, sah sie, dass ihr Alter auf seinem Maulesel geradewegs zum Haus galoppierte, das alte Kamel aber lief tänzelnd hinter dem Alten her. »He, Mutter«, rief der Mann schon von fern. »Das Glück ist Alten und Jungen gleichermaßen hold. Bei uns ist es sehr spät eingekehrt, doch umso besser werden wir es zu schätzen wissen. Ich habe dir einen Sohn mitgebracht!« Die Alte erzürnten die Worte: »Weshalb treibst, du deinen Spott mit unserem Leid?«

»Warum sollte das Schicksal uns nicht erfreuen und uns am Ende gar ein kleines Söhnchen bescheren?« fragte der Alte und wies auf den Knirps.

Jarty-gulak saß zwischen den Ohren des Kamels und sah wichtig zu den Eltern hinab. Die Alte blickte zu dem Knaben auf und klatschte vor Freude in die Hände: »Ach Jungchen, was bist du hübsch, was hast du für niedliche rote Wängelein!« Sie nahm den Kleinen behutsam in ihre Hände und konnte sich gar nicht genug erfreuen an ihm. »Warum bist du nur so klein?«

»Sei nicht traurig, Edshe-dshan: Für einen kleinen Sohn brauchst du weniger Seide zum Chalat.«

Das war am Tage gewesen, dann aber brach der Abend an. Die Alte ging zu den Nachbarn und bat sie zum Ume, auf dass sie ihr in der Wirtschaft hülfen. Großzügig bewirtete sie ihre Gäste: Sie kochte einen großen Kessel Pilaw, buk lockere Fladen und stellte ein Holzgefäß mit Weintrauben und süße Melonenscheiben auf den Tisch. Die Nachbarinnen sangen an diesem Abend alle Lieder, die sie kannten, und bis spät in die Nacht tönte der Dutar. Die Frauen sangen und nähten für Jarty-gulak drei Chalate aus einem einzigen kleinen Tüchlein, eine Tjubetejka aus einer Baumwollkapsel und Itschigen, Schuhe, aus feinem Kükenleder. Alsdann kleideten sie Jarty-gulak an, betrachteten ihn von rechts, drehten ihn nach links, klatschten fröhlich in die Hände und riefen lachend: »Jetzt ist er ein echter Dshigit!« Jarty-gulak verneigte sich vor den Eltern und verkündete mit wichtiger Miene: »Habt Dank für eure Fürsorge. Genießt nun euer Alter. Fortan will ich euch die Wirtschaft führen.«