[swahili, "Geschichte, Legende"]

Wie Aldar-Kosse einen geizigen Mullah bestrafte

Die Truhen des Mullahs platzten von den Gaben der Gläubigen, aber dem Mullah war es immer noch zu wenig. Kaum ein Mensch hatte von ihm nicht das Wort »gib« gehört, und es gab keinen, zu dem er wenigstens einmal »nimm« gesagt hätte. Wenn sich ein armer Teufel an ihn um Hilfe wandte, lautete dessen Antwort immer so: »Mein Sohn, bete inbrünstiger zu dem Allerhöchsten. Allah ist allmächtig und gnädig zu den Rechtgläubigen. Hast du keine Sünde begangen, wird er mit seinen Wohltaten nicht geizen.« Aldar-Kosse erfuhr von der Habgier und Heuchelei des Mullahs und wollte ihm einen Denkzettel erteilen.

Nun begab es sich, dass der Mullah auf seinem Esel von einem Aul zum anderen ritt. Da hörte er es bitterlich weinen. Was war das? Beweinte man etwa einen Toten? Der Mullah peitschte den Esel an. Wie heißt es doch so schön: »Das Vieh wird von gutem Futter fett, der Mullah von vielen Toten.« Der Mullah kam zu einem alten Wegebrunnen, dort sah er einen Menschen sitzen, der, den Kopf auf die Knie gelegt, laut weinte. »Was ist geschehen?« fragte der Mullah. »Oh, ein Unglück, ein Unglück!« wehklagte der Mann. »Was für ein Unglück? Ist ein Verwandter gestorben?«

»O weh, o weh, noch schlimmer!«

»Was kann denn schlimmer sein?«

»Der gewitzte Aldar-Kosse hat mich ausgeraubt.«

»Aldar-Kosse? Diesem Gottlosen ist alles zuzutrauen. Ich habe ihn nie gesehen, aber viel von ihm gehört. Was hat er dir angetan?«

»Am Brunnen trafen wir zufällig zusammen, und es entspann sich eine Unterhaltung. Aldar-Kosse bat mich um eine Prise Kautabak. Ich reichte ihm meinen alten Tabakbeutel, aber dieser Nichtsnutz warf ihn in den Brunnen.«

Der Mullah schmunzelte. »Weshalb hebst du wegen des alten Tabakbeutels, auch wenn Tabak darin war, ein Geschrei durch die weite Steppe an?«

»In dem Beutel bewahrte ich unter dem Tabak drei Goldmünzen auf - meinen ganzen Besitz«, erzählte der Unbekannte und heulte noch lauter. Der Mullah sprang aus dem Sattel: »Du sagst, im Beutel sind drei Goldmünzen? Warum steigst du nicht in den Brunnen und holst sie heraus, du komischer Kauz? Der Brunnen ist doch nicht sehr tief.«

»Wie soll ich da runterkommen ohne Seil?«

»Höre, ich leihe dir meine Eselszügel, wenn du mir dafür eine Münze gibst«, sagte er. »Segne euch Allah, frommer Mullah! Liebend gern würde ich euch Gold geben, doch ich fürchte, auch der Zügel wird nicht helfen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich von klein an nichts so fürchte wie kaltes Wasser und eher sterbe, als dass ich in den Brunnen tauche.« So ein Narr! dachte der Mullah. Wegen Geld würde ich nicht nur in einen Brunnen, selbst in die Hölle würde ich kriechen...

Laut sprach er: »Wenn es so ist, will ich dir aus deiner Bedrängnis helfen und dein Geld aus dem Brunnen holen. Für das Wagnis und die Mühe musst du mir aber zwei Münzen geben.«

»Du sollst sie haben! Ich gebe sie dir ohne Bedauern! Das Geld geht sowieso verloren. Wollen wir es so halten: zwei Goldmünzen euch, eine mir.« In Windeseile legte der Mullah seine Gewänder ab und schaute, seinen Bauch haltend, zaghaft in den Brunnen. »Halte den Zügel schön fest, und wenn ich den Beutel habe, ziehe aus Leibeskräften«, sagte er.

Der Mullah klammerte sich an den Zügel, ließ sich schnaufend in den Brunnen herab und hing über dem Wasser. »Lass mich herunter, vorsichtig, gib acht!« klang aus der Tiefe seine Stimme. »Warum zögerst du?«

»Weshalb die Eile, mein Vater?« hörte er von oben. »Wer nicht hastet, holt auch auf der Arba einen Hasen ein. Ich lasse mir Zeit, weil ich nachdenke. Und ich denke darüber nach, ob ich es euch nicht gleich gestehen soll, dass im Brunnen überhaupt kein Geld liegt.«

»Wie?!« schrie der Mullah. »Im Brunnen liegt kein Geld? Schurke! Also ist es gelogen, dass Aldar-Kosse dir einen bösen Streich gespielt hat?«

»Gelogen, gelogen! Ich bekenne, heiliger Vater! Aldar-Kosse hat tatsächlich einen bösen Streich gespielt, nur nicht mir, sondern euch. Denn Aldar-Kosse bin ich selbst.«

»O weh, ich Ärmster!« winselte der Mullah. Der Zügel riss und er plumpste ins Wasser.

Der Brunnen war nun wirklich nicht sehr tief. Bis zum Bauch im Wasser, schimpfte, fluchte und drohte der Mullah, musste aber bald einsehen, dass das bei Aldar nichts nutzte. Der stand über den Brunnen gebeugt und lachte aus vollem Herzen. Da schlug der Mullah einen anderen Ton an: »Aldaken, meine Seele, ich bin dir wegen deines üblen Streichs nicht mehr gram. Sei auch du mir nicht mehr gram. Hast mich zum Narren gehalten und damit soll's genug sein. Lasse mir nur den Zügel herunter, hilf mir aus dem Brunnen heraus!«

Aldar jedoch antwortete im Ton des Mullahs: »Bete inbrünstiger zu dem Allerhöchsten, heiliger Vater. Allah ist allmächtig und gnädig zu den Rechtgläubigen. Hast du keine Sünde begangen, wird er mit seinen Wohltaten nicht geizen.« Der Bartlose setzte sich auf den Esel und ritt weiter, versteckte aber vorher die Gewänder des Mullahs. Der Mullah planschte ziemlich lange im Brunnen, bis ihn endlich vorbeiziehende Kaufleute herauszogen.