[swahili, "Geschichte, Legende"]

Warum die Fliegen keinen Schwanz haben

Eines Tages hielten die Tiere auf dem Gerichtsplatz eine Versammlung ab. Da bemerkten sie, dass die Riesenschlange noch nicht da war. Sie beschlossen, die Zwergantilope als Boten zu schicken, um die Riesenschlange zur Versammlung zu holen. Als die Zwergantilope bei der Riesenschlange ankam, blieb sie am Schwanzende stehen. Näher wagte sie sich nicht heran, weil sie fürchtete, die Riesenschlange würde sie verschlingen. Vom Schwanzende her rief sie: »Alle Tiere sind auf dem Gerichtsplatz versammelt. Auch du bist eingeladen!« Dann lief sie eilig davon.

Als die Tiere lange genug gewartet hatten, die Riesenschlange aber immer noch nicht erschien, schickten sie die Manguste. Die machte es aber nicht anders als die Zwergantilope, und so blieb die Riesenschlange auch diesmal aus. Schließlich gab man der Fliege den Auftrag, sie endlich herbeizuschaffen. Die Fliege nun machte zusammen mit ihren Gefährten einen solchen Lärm, dass die Riesenschlange erschrak und verwirrt davon schoß. Sie landete vor dem Eingang des Rattenlochs und schlüpfte hinein.

Als die Ratte die Riesenschlange erblickte, sagte sie sich: »O weh, der Kerl, von dem man sagt, dass er nichts taugt, ist gekommen. Bleibe ich hier, tut er mir und meinen Kindern Böses an.« Und so raffte die Ratte ihre Habe zusammen, nahm ihre Jungen und huschte am anderen Ende ihrer Behausung hinaus. Ein kleines Vögelchen, der Honiganzeiger, sah das und dachte bei sich: »Die Ratte geht doch sonst nie am helllichten Tag aus. Wie kommt sie denn heute dazu?« Erhielt seinen Kopf schief, damit er die Ratte nicht aus den Augen verlor, und so kam es, dass er im Flug die Beine der Schirrantilope streifte. »O weh, man hat auf mich geschossen!« schrie die Schirrantilope auf. »Die Kugel ging mir zwischen den Beinen durch!« Und sie rannte davon, so schnell sie konnte, stieß dabei aber gegen einen Baum, der im Weg stand. Es war ein Ameisenbaum, und die Ameisen fielen herunter, mitten auf den Elefanten. Von den schmerzenden Stichen gepeinigt, stürzte nun auch der Elefant vorwärts und trat auf seiner Flucht aus Versehen auf die große Winkerkrabbe an der Quelle des Baches, und die Winkerkrabbe starb.

Jetzt versiegte die Quelle. Da waren die Tiere furchtbar zornig und veranlassten sofort eine Untersuchung. »Wer ist wohl schuld, dass die Winkerkrabbe den Tod fand?« überlegten sie. »Wenn wir es der Krabbe zu verdanken hatten, dass wir bisher trinken konnten, so bekommen wir nun niemals mehr Wasser. « Nachdem die Sache vorgetragen war, wusste die Zwergantilope zu berichten: »Der Elefant ist schuld am Tod der Krabbe.« Da rief man den Elefanten vor und fragte ihn: »He, du, was ist in dich gefahren, dass du die Winkerkrabbe getötet hast!«

»Freunde, bringt mich nicht um!« antwortete der Elefant. »Die Ameisen auf dem Baum erhoben ein großes Geschrei und stachen mich. Da fuhr ich aus dem Schlaf und rannte los.« Nun riefen die Tiere eine Ameise vor und wollten wissen: »Wie kommt ihr dazu, den Elefanten zu stechen?« Die Ameise antwortete: »Bringt uns nicht um! Ganz ruhig saßen wir auf dem Baum, da stieß die Schirrantilope plötzlich so heftig gegen den Stamm, dass wir herunterfielen, mitten auf den Elefanten. Und so kam es, dass wir den Elefanten stachen, um ihn aufzuwecken, denn wir durften keine Zeit verlieren. Sind Schirrantilopen auf der Flucht, muss man auf der Hut sein, sonst wird man ohne weiteres totgeschossen.« Die Schirrantilope aber verteidigte sich. »Der Vorsichtige braucht sich nicht zu schämen, heißt es im Sprichwort. Ich merkte, wie mir der Honiganzeiger, husch, zwischen den Beinen hindurch strich. Da vermutete ich, er eile davon, weil man auf ihn geschossen hatte.«

Nun hieß es: »Honiganzeiger, komm näher! Wie steht es mit dir? Was ist denn dich angekommen?« Er antwortete: »Sehr verehrte Anwesende, hört alle, die ihr hier seid, samt der Schildkröte, dem Richter! Habt ihr schon einmal gesehen, dass die Ratte mit ihren Jungen am helllichten Tag ihr Hab und Gut davonträgt?« Alle erwiderten einstimmig: »Nein!« Und der Honiganzeiger erklärte: »Die Sache kam so. Ich sah die Ratte und ihre Jungen, wie sie ihr Hab und Gut davontrugen. Da floh ich. Und es glückte mir, der Schirrantilope zwischen den Beinen durchzufliegen, damit auch sie gewarnt war, denn das Sprichwort sagt: ›Wenn die Ratte aus dem Loch ist, droht Gefahr‹.«

Die Ratte wurde nach vorn gerufen und man hielt ihr vor: »Du gehst doch sonst nicht am Tage aus, warum denn nun diesmal?« Und die Ratte berichtete: »O liebe Geschwister, bringt mich nicht um! Das kommt alles von der Riesenschlange. Zeit meines Lebens habe ich noch nie eine Riesenschlange in meiner Behausung gehabt. Als sie nun jetzt dahergeschnellt kam und in meine Behausung schlüpfte, da fürchtete ich einfach, dass sie mich und meine Jungen auffressen würde, wenn ich in ihrer Nähe bliebe. Aus diesem Grund floh ich mit meinen Jungen und nahm all meine Habe mit.« Als nun die Riesenschlange gefragt wurde: »Du bist doch viel zu groß, was hattest du denn in der Behausung der Ratte vor?« gab die ihnen zur Antwort: »Die Fliegen kamen und gaben mir Faustschläge auf die Wangen. Ich schrak aus dem Schlaf, fürchtete mich und schoss davon. Bringt mich Unschuldige nicht um!«

»Komm her«, rief man nun der Fliege zu, »wie kommst du mit deinen Gefährten dazu, auf die Riesenschlange, die doch ruhig schlief, mit Fäusten loszugehen! Haben wir dich das geheißen?«

»Nein«, antwortete die Fliege. »Warum hast du das dann getan?« lautete die nächste Frage. Aber die eingeschüchterte Fliege wagte nicht, auch nur noch ein Wort dazu zu sagen. Daraufhin fällten die Tiere folgendes Urteil: »Weil die Fliege am Tod der Krabbe schuld ist, wird so entschieden. Alle Tiere haben Schwänze. Aber bei dir, Fliege, wird es in deinem ganzen Leben bei so einem stumpfen Leib bleiben. Du bekommst niemals einen Schwanz!« Und deshalb haben die Fliegen keinen Schwanz.