[swahili, "Geschichte, Legende"]

Vom halben Hähnchen

Es war einmal eine schöne Henne, die lebte ganz vergnügt in einem Hofe, umgeben von ihren zahlreichen Jungen, unter welchen jedoch ein Hähnchen durch seine Verstümmelung und Missgestalt auffiel. Und gerade dieses war der Mutter Liebling. Es war eigentlich nur die Hälfte eines Hahnes, denn es hatte nur ein Auge, einen Flügel und einen Fuß; dabei war es aber viel stolzer und aufgeblasener als sein Vater, der doch auf zwanzig Meilen in der Runde der schönste, tapferste und galanteste Hahn war. Ja, in seinem Dünkel sah es sich für den Phönix seines Geschlechtes an und hielt es für Neid, wenn die andern jungen Hähne sich über ihn lustig machten, und für Rache verschmähter Liebe, wenn die Hühnchen es auslachten.

Eines Tages sagte dieses Hähnchen zur Mutter: »Hört mal, Frau Mutter, ich langweile mich hier auf dem Lande. Ich habe den Vorsatz gefasst, in die Residenz zu gehen: Ich will den König und die Königin sehen.« Die arme Mutter fing an zu zittern, als sie dies hörte. »Söhnchen«, rief sie, »wer hat dir solchen Unsinn in den Kopf gesetzt? Dein Vater hat in seinem ganzen Leben nicht dieses Gehöft verlassen und ist doch die Zierde seines Geschlechtes geblieben. Wo wirst du einen Hof wie diesen finden? Wo einen ansehnlicheren Düngerhaufen? Wo eine gesündere und reichlichere Nahrung, einen besser geschützten Stall, eine Familie, die dich mehr liebt?«

»Nego«, erwiderte das halbe Hähnchen auf Latein, denn es tat sich was darauf zugute, ein paar Worte Latein krähen und kratzen zu können, »meine Brüder und Vettern sind mir zu dumm und zu unwissend!«

»Aber Söhnchen«, entgegnete die Mutter, »hast du dich nie im Spiegel erblickt? Hast du nicht da bemerkt, dass ein Auge und ein Fuß dir fehlt?«

»Und das wollt Ihr mir vorhalten«, rief das Hähnchen, »Ihr, die Ihr vor Scham vergehen solltet, in einem solchen Zustande mich in die Welt gesetzt zu haben? Ja, Ihr allein seid schuld daran! Aus was für einem Ei bin ich gekrochen? War es etwa ein von einem alten Hahne gelegtes?«

»Nein, nein, mein Söhnchen«, rief die Mutter, »aus solchen Eiern kriechen ja nur Basilisken heraus. Du aber bist aus dem letzten Ei gekrochen, das ich selbst gelegt habe, und eben weil es mein letztes und ich schon erschöpft war, bist du so unvollkommen und schwächlich zur Welt gekommen. Du siehst wohl, dass dies nicht meine Schuld war.«

»Vielleicht«, versetzte das halbe Hähnchen, und dabei schwoll ihm der Kamm rot wie ein Granatapfel, »vielleicht kann ich einen Chirurgen finden, dem es gelingt, die fehlenden Glieder mir anzusetzen. Kurz, da hilft keine Widerrede; ich ziehe fort.«

Als die Mutter sah, dass sie nicht vermochte, es von seinem Vorsatze abzubringen, sprach sie zu ihm: »So höre wenigstens, mein Söhnchen, auf die klugen Ratschläge einer guten Mutter. Vermeide die Kirchen, wo ein Bildnis des heiligen Petrus aufgestellt ist; denn dieser Heilige ist den Hähnchen nicht sehr geneigt und noch viel weniger ihrem Rufe. Fliehe auch gewisse Menschen, die man Köche nennt, die sind unsere geschworenen Feinde, sie drehen uns den Hals um, bevor man noch Amen ausgesprochen hat. Und nun, mein Söhnchen, möge dich Gott geleiten und der heilige Raphael, der Schutzpatron der Reisenden. Gehe und bitte deinen Vater um seinen Segen.«

Das halbe Hähnchen ging zu seinem Vater, küsste ihm den Fuß und erbat sich seinen Segen. Der ehrwürdige Hahn gab ihm diesen mit mehr Würde als Zärtlichkeit, denn er hatte keine große Zuneigung zu diesem Söhnchen wegen dessen Hochmut und Widerspenstigkeit. Die Mutter aber ward so weichmütig, dass sie sich die Tränen mit einem dürren Laube abtrocknen musste. Das halbe Hähnchen setzte seinen einen Fuß in Reiseschritt, schlug mit seinem einzigen Flügel und krähte dreimal zum Zeichen des Abschiedes.

Als es an das Ufer eines fast ausgetrockneten Baches kam - denn es war im Hochsommer -, traf es sich, dass gerade der schwache Wasserfaden von Zweigen noch aufgehalten wurde, und als der Bach unseren Wanderer sah, rief er ihm zu: »Du siehst, Freund, wie schwach ich nun bin, ich kann kaum noch fortkommen und habe nicht mehr Kraft genug, um diese lästigen Zweiglein wegzudrängen, die meinen Lauf hindern. Noch weniger vermag ich es, sie durch einen Umweg zu vermeiden; denn dies würde mich allzu sehr erschöpfen. Du aber kannst mir leicht aus dieser Not helfen, wenn du sie mit deinem Schnabel zurückbiegst. Zum Lohne kannst du nicht nur deinen Durst in meinem Wasser löschen, sondern auch sonst auf meine Dienste zählen, wenn des Himmels Wasser meine Kräfte wiederhergestellt haben wird.« - Das Hähnchen erwiderte darauf: »Ich könnte dir wohl helfen, aber ich will nicht. Sehe ich etwa danach aus, der Diener armseliger schmutziger Bächlein zu sein?«

»Du wirst an mich denken, eher als du glaubst!« murmelte der Bach mit schwacher Stimme.

»Nun, das fehlte noch, dass du mir drohtest!« rief erbost das Hähnchen, »du rechnest wohl schon auf die nächste Sintflut?«

Als es etwas weitergegangen war, traf es mit dem Winde zusammen; der lag ausgestreckt und fast atemlos am Boden. »Liebes Hähnchen«, sprach er, »in dieser Welt bedürfen wir alle bald einer des anderen. Komm her und schau mich an. Siehst du, wie mich die Sommerhitze zugerichtet hat, mich, den sonst so Starken, Mächtigen, mich, der ich die Wellen aufwühle, die Felder verwüste, dessen Anfalle nichts widersteht? Diese Hundstage haben mich so herabgebracht; berauscht vom Duft der Blumen, mit denen ich tändelte, schlief ich ein, und nun findest du mich hier bis zur Ohnmacht ermattet. Wenn du mich mit deinem Schnabel nur ein paar Zoll über den Boden erheben und mit deinem Flügel mich anfächern wolltest, so würde es hinreichen, mich wieder in Flug zu bringen und die Höhle erreichen zu lassen, wo meine Mutter und meine Schwestern, die Windsbräute, beschäftigt sind, einige alte Wolken auszubessern, die ich zerrissen habe. Dort werden sie mir schon ein Süppchen kochen, dass ich wieder zu Kräften komme.«

»Caballero«, entgegnete das böswillige Hähnchen, »oft genug haben sich Euer Gnaden mit mir einen Spaß gemacht, mich in den Rücken geblasen und mir den Schweif wie einen Fächer auseinandergetrieben, zum Spott aller, die mich sahen. Nein, Freund, jede Sau hat ihren Martinstag: auf Wiedersehen, Herr Possenreißer!« So sprach das Hähnchen, krähte dreimal mit heller Stimme, und, sich gewaltig aufblähend, setzte es seinen Weg fort.

Da kam es zu einem geschnittenen Getreidefeld; die Schnitter hatten die Stoppeln ausgebrannt, und es stieg noch eine kleine Rauchsäule davon auf. Als Halb-Hähnchen näher hinzutrat, sah es noch ein kleines Fünkchen, das nahe daran war, unter der Asche zu verlöschen.

»Geliebtes Halb-Hähnchen«, rief der Funke, als er es ersah, »zu guter Stunde bist du gekommen, um mir das Leben zu retten. Aus Mangel an Nahrung bin ich im Verlöschen. Ich weiß auch nicht, wo mein Vetter der Wind sich herumtreibt, der mir sonst in solchen Nöten immer beistand. Bring mir einige Strohhälmchen, um mich wieder zu beleben.«

»Was geht mich dein Notgeschrei an!« entgegnete das Hähnchen, »zerplatze, wenn es dich freut; denn es stünde schlimm mit mir, sollte ich je deiner Hilfe bedürfen!«

»Wer weiß, ob du nicht eines Tages meine Hilfe brauchst?« versetzte der Funke. »Keiner kann sagen: Von diesem Wasser trinke ich nicht!«

»Oho!« rief das böse Tier. »Wie, du willst noch prahlen? Da, nimm das!« und damit überdeckte es den Funken mit Asche und begann seiner Gewohnheit nach zu krähen, als wenn es eine Heldentat verübt hätte.

Endlich gelangte Halb-Hähnchen in der Residenz an; es kam zu einer Kirche, die man ihm als die Petruskirche nannte. Da pflanzte es sich der Pforte gegenüber auf und krähte, bis es heiser wurde, und zwar gerade dem Heiligen zum Possen und aus Lust, der Mutter ungehorsam zu sein. Als es sich dem Palaste nahte, wo es den König und die Königin sehen wollte, riefen ihm die Schildwachen zu: »Zurück!« Das verscheuchte es, und es schlich sich durch eine Seitentür in ein großes Gemach, wo es viele Leute ein- und ausgehen sah. Auf seine Frage, was das für Leute seien, sagte man ihm, das seien die Köche des Königs. Aber statt diese zu fliehen, wie ihm seine Mutter empfohlen, ging es mit emporgerichtetem Kamm und Schweif auf sie los. Da erfasste es einer der Küchenjungen, und im Nu hatte er ihm den Kragen umgedreht. Dann rief er nach Wasser, um die Federn abzubrühen. »Ach, Wasser, mein liebes kristallreines Wasser«, schrie nun Halb-Hähnchen, »hilf mir, verbrühe mich nicht, erbarme dich meiner!«

»Hast du dich meiner erbarmt, als ich dich um Hilfe bat?« entgegnete das Wasser, vor Zorn glühend, und brühte es ab von oben bis unten, so dass die Küchenjungen keine Mühe mehr hatten, ihm seine Federn abzustreifen.

Dann steckte der Koch Halb-Hähnchen an den Bratspieß. »Feuer, goldenes Feuer«, schrie das Unglückskind, »du, das du so mächtig und so leuchtend bist, habe Mitleid mit meiner traurigen Lage, zähme deine Glut, dämpfe deine Flamme, verbrenne mich nicht.«

»Unverschämter Schlingel«, versetzte das Feuer, »wie, du hast noch den Mut, dich an mich zu wenden, nachdem du mich zu ersticken gesucht unter dem Verwände, dass du meine Hilfe nie benötigen würdest? Komm nur her, und du wirst sehen, was gut ist.« Und in der Tat begnügte sich das Feuer nicht damit, das Hähnchen goldgelb zu braten, sondern verbrannte es, dass es schwarz wie Kohle wurde. Wie es der Koch in diesem Zustande sah, ergriff er es bei seinem einen Fuße und warf es zum Fenster hinaus.

Da bemächtigte sich seiner der Wind. »Wind«, schrie das Hähnchen, »mein geliebter, verehrter Wind, du, der du über alles Macht hast und niemandem gehorchest. Gewaltigster unter den Gewaltigen, habe Mitleid mit mir, lass mich zur Ruhe kommen auf diesem Düngerhaufen.«

»Dich zur Ruhe kommen lassen!« schnaubte der Wind, indem er es im Wirbel herumdrehte und in den Lüften hin und her warf wie einen Kreisel, »nimmermehr!«

Endlich setzte der Wind Halb-Hähnchen auf der Spitze eines Glockenturmes ab. St. Peter erfasste es und nagelte es dort fest. Seitdem nimmt es diesen Posten ein, schwarz, fleischlos und entfiedert, vom Regen gepeitscht und vom Winde gedreht, dem es immer den Schweif nachtragen muss. Nun heißt es nicht mehr Halb-Hähnchen, sondern Wetterfähnchen.