[swahili, "Geschichte, Legende"]

Vierzig unglaubliche Geschichten

In der Steppe herrschte ein habgieriger und grausamer Khan. Der Feldzüge und Festgelage, der Jagd und der wilden Spiele überdrüssig, schickte er seine Boten in alle Ecken der Steppe mit der ungeheuerlichen Kunde. »Wer dem Khan ohne Stocken vierzig unglaubliche Geschichten erzählt, ohne ein wahres Wort fallen zu lassen, erhält einen Sack Gold! Doch wehe dem, der stecken bleibt und auch nur ein einziges wahres Wort beifügt! Den lässt der Khan in ein finsteres Verlies stecken und Hungers sterben.« Es heißt, um des Goldes willen kommt sogar ein Heiliger vom rechten Weg ab. Anfangs strömten Scharen zum Lager des Khans, es kamen Akyne, Märchenerzähler und andere redegewandte Leute. Aber niemand konnte es dem Khan recht machen, und alle erlitten das gleiche schmerzliche Schicksal: Tausende Unglückliche mussten in den dunklen Verliesen schmachten. Zu guter Letzt fanden sich keine Bewerber mehr, die dem Khan mit unglaublichen Geschichten die Zeit vertreiben wollten.

Finsterer als eine Herbstnacht lag der Khan in seinen Gemächern auf dem prunkvollen Ruhebett. Seine Wesire wagten kaum zu atmen. Die Diener, die ihm die goldenen Schüsseln mit seltenen Speisen und Getränken auftrugen, breiteten sich vor ihm aus wie Dunst. Mit einer Handbewegung schob er die Leckerbissen von sich und warf von Zeit zu Zeit solche Blicke um sich, dass allen vor Entsetzen das Blut in den Adern stockte.

Da kam ein fröhlicher Junge mit Betteltasche, barfuss, zerlumpt und mager wie ein Gerippe zur geschmückten Jurte des Khans: »Warum treibst du dich herum, wo du nichts zu suchen hast?« herrschte die Wache ihn an. »Was willst du?«

»Ich bin gekommen, um dem Khan vierzig unglaubliche Geschichten zu erzählen«, antwortete der Bursche munter. Viel Böses und viel Blut hatten die Wächter in ihrem Leben gesehen, und der Junge dauerte sie. »Fliehe vor dem Unglück, du Dummerchen! Die Verliese sind ohnehin schon brechend voll. Oder bist du des Lebens müde?«

»Besser einen Tag ein Reitpferd sein, als sechs Jahre eine Schindmähre.« Der Bettlerjunge zwinkerte den Wächtern zu. »Und du hast nicht die geringste Furcht vor dem Khan?« wunderten sich die Krieger. »An den Tapferen vergreifen sich nicht einmal Werwölfe«, antwortete der Junge lächelnd. Er wurde in die Jurte des Khans geführt.

Als der Khan die schäbige Mütze und die schmutzigen rissigen Füße des Jungen sah, bebten seine Lippen vor Zorn: »Du wagst es, in deinen Lumpen dem Khan vor die Augen zu treten? Wie einen Floh zerquetsche ich dich mit dem Fingernagel!«

»Zürne nicht, Tachsyr, mein Gebieter, ein Voreiliger endet schmählich. Höre lieber meine unglaublichen Geschichten, und der Sack Gold ist mein.« Wutentbrannt ließ sich der Khan auf die Kissen fallen und zischte böse: »Wenn du es sagst, dann will ich dich anhören.«

Und der Junge begann: »Sieben Jahre, bevor ich geboren wurde, hütete ich die Pferde meines zwölften Enkels. Einmal trieb ich in tiefer Nacht die Pferde zur Tränke. Die Sonne strahlte hell, und es war so heiß, dass den Vögeln die Flügel dampften und die Schwänze loderten. Deshalb wunderte ich mich überhaupt nicht, dass das Wasser im See bis zum Grund zugefroren war. Ich versuchte, mit der Axt das Eis aufzuschlagen, doch die Axt zersplitterte beim ersten Schlag, das Eis aber ließ sich um kein Stückchen aufschlagen. Was sollte ich tun? Da kam mir die Erleuchtung! Ich nahm den Kopf von den Schultern, packte mich fest am Hals und schlug mit der Stirn aufs Eis. Nach einer Weile hatte ich ein Eisloch geschlagen. Es war so groß, dass man ohne weiteres den kleinen Finger hineinstecken konnte. Aus diesem Eisloch trank die ganze Pferdeherde auf einmal, es waren hunderttausend Tiere.

Nachdem die Pferde sich satt getrunken hatten, spazierten sie übers Eis und rupften Gras. Ich setzte mich mit dem Rücken zur Herde und zählte die Pferde. Ein Hengst fehlte. Wo mochte er sein? Ich steckte den Kuryk in den Sand, kletterte auf ihn hinauf, schaute in die Runde, konnte aber den Hengst nicht entdecken. Nun stieß ich das Messer in den Kuryk und kletterte noch höher. Wieder sah ich nichts. Da fiel mir ein, dass ich schon als Kind die Angewohnheit hatte, anstatt Kieferharz Nadeln zu kauen. Ich zog eine Nadel aus dem Mund, steckte sie in den Messergriff und kroch - komme, was da wolle - auf sie hinauf. Ob ich einen Tag, ob ich einen Monat kletterte, wer weiß das schon, aber als ich durchs Nadelöhr schaute, sah ich den fehlenden Hengst. Aus einem stürmischen Meer ragte ein Felsen, spitz wie eine Ahle, auf dem Felsen stand auf einem Huf der Hengst, und in den Wellen, die den Felsen umspülten, tummelte sich sein Fohlen.

Ohne Zaudern setzte ich mich rittlings auf den Kuryk und ruderte mit dem Messer. So schwamm und schwamm ich, bewegte mich aber nicht von der Stelle. Da setzte ich mich auf die Messerscheide, stieß mich mit dem Kuryk vom Meeresgrund ab und war sogleich am Felsen. Der Kuryk versank, als wäre er aus Eisen. Wie sollte ich nun den Hengst ohne Kuryk fangen? So wand ich aus Sand ein Fangseil, warf es um das Pferd, sprang rückwärts in den Sattel, legte das Fohlen vor mich und ritt übers Meer zurück. Den halben Weg hatte ich schon hinter mir, als das Pferd plötzlich über eine Welle stolperte und unterging. O weh, dachte ich, jetzt bewahrheitet sich das Sprichwort: ›Wenn ein Pechvogel mal das Glück hat, bei einem Festgelage dabei zu sein, läuft ihm wie zum Trotz Blut aus der Nase.‹ Aber ich verlor nicht den Mut. Rasch setzte ich mich auf das Fohlen, nahm den Hengst huckepack und eilte weiter.

Kaum hatte ich am Ufer den Hengst am Baum festgebunden, als mir plötzlich vom Ast ein Hase vor die Beine sprang. Ich jagte ihm nach. Der Hase lief nach links, ich nach rechts. Der Hase lief schnell, ich aber noch schneller. Im Laufen zog ich einen Pfeil heraus und schoss auf den Hasen. Der Pfeil traf dem Hasen mit der Spitze genau in die Nase, prallte ab und flog zu mir zurück. Dann schoss ich ihn mit dem stumpfen Ende wieder ab. Einen Tag später hatte er den Hasen erwischt und nagelte ihn an einen Stein fest. Nun zog ich dem Hasen das Fell ab, schnitt den Speck heraus und sammelte trockenen Pferdemist zum Feuermachen. Was aber geschah da? Der Hengst scharrte, wieherte und erhob sich in die Lüfte. Zuerst wollte ich meinen Augen nicht trauen, doch dann erriet ich, dass ich das Pferd nicht an einen Baum, sondern an einen Schwanenhals gebunden hatte. Ich warf den Pferdemist weg und eilte, so schnell ich konnte, um das arme Pferd loszumachen. Der Pferdemist aber zischte, flatterte mit den Flügeln und war schon unter den Wolken - als hätte es ihn nie gegeben. Es stellte sich heraus, dass ich kleine Rebhühner und Lerchen gesammelt hatte!

Obwohl ich nun nichts zum Feuern besaß, entfachte ich schließlich doch ein Feuer. Den Hasenspeck legte ich in einen neuen Kupferkessel und stellte ihn ins Feuer. Da sah ich, dass mein Kessel undicht war, in Strömen floss der Speck durch die Wände, so dass bald nichts mehr übrig geblieben wäre. Also musste ich den Speck in einen durchlöcherten Kessel legen. Und natürlich tropfte kein einziger Tropfen Fett heraus. Ich erinnere mich, zehn Bullenblasen füllte ich mit geschmolzenem Speck. Nun kam es mir in den Sinn, meine Stiefel damit einzuschmieren. Für einen Stiefel reichte der Speck, für den anderen nicht.

Nachts kroch ich unter den Kessel und schlief ein. Im Schlaf hörte ich es lärmen und schreien. Vor Schreck sprang ich auf und sah, dass meine Stiefel eine Prügelei angefangen hatten. Der ungewichste Stiefel warf sich auf den Bruder und schlug erbarmungslos auf ihn ein: ›Hier hast du, gieriger Teufel, steck ein! Werde dir zeigen, was es heißt, Eigenes und Fremdes einzuheimsen! Konntest du mir denn nicht ein bisschen Fett lassen?!‹ Ich brachte die zwei Streithähne auseinander. ›Besinnt euch! Seid ja ganz aus dem Häuschen! Nicht ohne Grund heißt es: Kommen zwei Kluge zusammen, bringt es Nutzen, kommen zwei Dummköpfe zusammen, kratzen sie sich die Augen aus.‹

Nur mit Mühe konnte ich sie beschwichtigen. Nun legte ich einen Stiefel rechts neben mich, den anderen links neben mich und schlief wieder ein. Als ich am Morgen aufwachte, war der ungewichste Stiefel verschwunden, war gekränkt und weggelaufen. Da zog ich den übrig gebliebenen Stiefel auf beide Füße und jagte dem Ausreißer nach. So lief ich einen Tag, lief ein Jahr, der zweite Stiefel kam mir aber nicht unter die Augen. Einmal verschlug es mich in einen Aul. Eine Unmenge von Leuten strömte dorthin. Jemand ritt auf einem Bullen, ein anderer auf einem Käfer, der nächste auf einem Igel, noch einer auf einer Schlange, auf einer Bergziege, auf einem Kranich. Das Fest begann. Ich fragte: ›Aus welchem Anlass feiert ihr?‹ - ›Das ist kein fröhliches Fest, das ist ein Leichenschmaus‹, erhielt ich zur Antwort. ›Wer ist gestorben?‹ - ›Der Sohn des Beis. Vor sieben Jahren trieb er eine Ziegenbockherde auf die Weide und wurde nie wieder gesehen.‹

Die Diener setzten den Gästen Fleisch vor, und wen sah ich da unter ihnen - was glaubt ihr wohl? - meinen weggelaufenen Stiefel. Vor Freude schrie ich auf, der Stiefel drehte sich um und packte sich, hätte beinahe eine Schüssel umgestoßen. Anscheinend fürchtete er, dass es wegen der Flucht Hiebe setzen würde, und er brachte mir ein Gericht nach dem anderen mit den Worten: ›Dir war es um Hasenfett für mich schade, mir ist für dich aber nichts zu schade!‹ Einen Berg köstlicher Speisen so hoch wie eine Jurte setzte er mir vor. Ich freute mich, endlich konnte ich mich selbst und auch für meine Verwandten so richtig satt essen! Ich nahm Fleisch in beide Hände, als ich aber den Mund noch weiter aufreißen wollte, stutzte ich: Ich hatte ja keinen Mund, nicht mal einen Kopf - der lag am See, am Eisloch. Ich bat die Stiefel: ›Meine lieben Täubchen, lauft doch schnell mal nach meinem Kopf, versagt mir nicht diesen Liebesdienst... Ich will es euch lohnen.‹

Da stürzten die Stiefel los, um meinen Auftrag zu erfüllen, während ich wartete. Als ich so da saß, gaben die Gäste ihren Zähnen keine Ruhepause. Sie aßen fortwährend Fleisch und verschlangen nachher auch die Teller. Mir blieb kein einziges Krümchen. Wer schon einmal Pech hat, der wird auch an einem Sonnentag nass bis auf die Haut! Kaum hatte ich den Kopf aufgesetzt, zogen Wolken auf, und Zuckermelonen prasselten nieder. Ich wollte eine aufschneiden, setzte schon das Messer an, das blieb jedoch in der Zuckermelone stecken. ›Das Messer suche ich, und wenn ich in meinen eigenen Bauch kriechen müsste!‹ Ich band den Gürtel ab, fasste sein Ende und tauchte mit dem Kopf zuerst in die Zuckermelone. Viele Tage suchte ich vergeblich. Ich lief die Stiefel durch, wetzte den Pelzmantel ab, vom Messer keine Spur.

Unverhofft stieß ich auf einen Menschen. ›Was tust du hier?‹ fragte der mich. ›Ich suche mein Messer.‹ - ›Dumm bleibt dumm!‹ rief der andere. ›Holzkopf, dass du dein Messer suchst! Ich suche schon sieben Jahre lang meine Ziegenbockherde und kann sie nicht finden.‹ Ich roch sofort den Braten, der Sohn des Beis, auf dessen Leichenschmaus ich vor ein paar Tagen war, stand vor mir. Ich sagte zu ihm: ›Wozu unsinnige Zwistigkeiten anzetteln, ich würde an deiner Stelle auf die Ziegen pfeifen und zu den unglücklichen Eltern eilen.‹ - ›Aha, dir sind also meine Eltern lieber als die Ziegenböcke!‹ sagte der Sohn des Beis wütend und schnappte mich am Bart. Nun riss mir die Geduld. Wir fielen übereinander her, und die Schlacht begann.

Von unserer Schlägerei kam die Melone ins Wanken, und wir rollten um die Welt bis auf den Gipfel eines hohen Berges, da platzte die Melone in zwei Hälften. Wohin der Sohn des Beis von dem Berg flog, habe ich nicht gesehen, ich plumpste direkt an dem See nieder, wo ich meine Herde verlassen hatte. Ich stieß so heftig auf, dass sich die Erde durchbog. Mir aber passierte gar nichts. Plötzlich spürte ich furchtbaren Durst. Wahrscheinlich von dem fetten Fleisch, das ich beim Leichenschmaus nicht zu kosten bekam.

Ich steckte den Kopf ins Eisloch und schlürfte das Wasser. Ich trank den See leer, konnte den Durst aber nicht stillen. Nun versuchte ich, mich aufzurichten, es gelang mir aber nicht, und ich stutzte. Es erklärte sich aber sehr einfach: Während ich das Wasser schlürfte, froren sechzig Wildenten und siebzig Enteriche an meinem Schnurrbart an. Wozu brauche ich so viel Wild? dachte ich. Ich steckte sämtliche Vögel an die Brust und tauschte sie gegen einen Kranich ein. Und du musst wissen, großmächtiger Khan, dass dieser Kranich, obwohl er größer war als ein Kamel, aus einem Brunnen Wasser trank, ohne dabei den Hals zu beugen.«

»Der Brunnen war eben seicht!« rief der Khan in der Hoffnung, den Jungen wenigstens am Ende der Geschichte ins Stocken zu bringen. »Schon möglich, dass der Brunnen nicht tief war, aber der Stein, der im Morgengrauen hineingeworfen wurde, traf erst in der Nacht auf dem Wasser auf«, antwortete der Junge, ohne mit der Wimper zu zucken. »Also waren die Tage um jene Zeit kurz!«

Der Khan zuckte zusammen. »Ja, anscheinend waren die Tage kurz, wenn an einem solchen Tag eine Hammelherde die Steppe von einem Ende zum anderen durchwanderte«, folgte ohne Zögern die Antwort. Der Khan erbleichte und biss sich auf die Lippen. Der kleine Herumtreiber endete seine Geschichte so: »Tachsyr, mein Gebieter, ich habe dir auf dein Geheiß vierzig unglaubliche Geschichten erzählt. Belohne mich nun nach Recht und Gewissen! Wenn du nicht um deine Kasse bangst, will ich dir gern noch vierzigmal je vierzig unglaubliche Geschichten erzählen. Denn das Wort wird aus den Worten geboren wie eine gute Tat aus guten Taten!« Der Khan verzog vor Zorn das Gesicht, nickte seinen Wesiren zu, und die schütteten einen Sack mit Gold voll. Je mehr sich der Sack blähte, desto wütender wurde der Khan vor Habgier. Der Sack war schon fast voll, als der barfüßige Junge das schmutzige Händchen hob und abermals zu sprechen begann: »Khan, ich verzichte auf das Gold! Behalte es. Erfülle mir nur eine Bitte! Lasse die Gefangenen frei, die in deinen Verliesen schmachten.« Der Khan war wie von Sinnen, als er die Worte des kleinen Vagabunden hörte. Er kreischte auf und stürzte sich auf den Sack wie ein Aasgeier auf den Kadaver, legte die Arme um ihn und presste sich mit seinem ganzen Körper daran. Die Wesire wussten nun, dass der Khan seine Wahl getroffen hatte. Mit den Schlüsseln klappernd, schlossen sie eilig die Gefängnistüren auf. Bald schon waren alle Verliese leer. Der zerlumpte Junge, der die unwahrscheinlichen Geschichten erzählt hatte, war verschwunden. Der Khan war nicht von seinem Goldsack wegzukriegen. Drei Tage später starb er.