[swahili, "Geschichte, Legende"]

Sununa

In einer Stadt lebte einst ein Padischah. Lange Zeit blieb er kinderlos. Eines Tages, als dichter Regen fiel, sprang auf das Dach seines Palastes zusammen mit den Regentropfen ein Apfel. Die Frau des Padischahs hob ihn auf, teilte ihn, gab die eine Hälfte dem Padischah und verzehrte die andere selbst. Nach ein paar Tagen fühlte sie sich guter Hoffnung. Als die Zeit kam, da sie niederkommen sollte, schenkte sie vierzig Knaben das Leben. Der Padischah erschrak und dachte bei sich: Das hat nichts Gutes zu bedeuten! Und er befahl, die Kinder der Mutter an die Brust zu legen, sie alsdann in Seide zu hüllen und die Bündel in den Bergen auszusetzen.

So geschah es. Die Sonne erwachte. Der Monat ging zu Ende. Viele Jahre zogen ins Land. Doch die Söhne des Padischahs blieben verschollen.

Eines Tages, als der Padischah und seine Frau sich ihren Erinnerungen hingaben, sprachen sie über die ausgesetzten Söhne. Die Frau des Padischahs schlug vor: »Zieh aus, um nach den Knaben zu sehen.« Der Padischah war einverstanden und ritt tags darauf in die Berge. Er ritt und ritt, und schließlich gelangte er in einen Aul. Auf dem Platz in diesem Aul erblickte der Padischah vierzig Jünglinge. Als sie des Padischahs ansichtig wurden, warfen sie sich ihm an die Brust. »Gegrüßt seiest du, unser Vater!« Da wusste der Padischah, dass seine Söhne vor ihm standen. Große Scham erfüllte ihn, und er sprach: »Kinder, verzeiht euerm sündigen Vater! Ich erschrak zu Tode, als eure Mutter damals vierzig Kinder auf einmal gebar.«

»Allah sei dir gnädig, Vater! Wozu von der Vergangenheit sprechen!« entgegneten die Söhne und labten den Vater mit Zucker und Honig. Dann sprachen die Söhne: »Zieh durch die Lande, Vater, und suche vierzig Töchter, die von einer Mutter und einem Vater sind, und gib sie uns zur Frau.«

»So soll es geschehen«, erwiderte der Padischah. »Ich werde mir eiserne Stiefel anfertigen lassen, nehme mir einen eisernen Wanderstab und mache mich auf den Weg.« Der Padischah kehrte heim und erzählte alles, was er erlebt hatte, seiner Frau. Da sprang sie auf, schlüpfte vor Aufregung mit beiden Füßen in einen Stiefel und lief zu ihren Söhnen. Der Padischah hingegen ließ sich eiserne Stiefel anpassen, nahm einen eisernen Wanderstab und begab sich auf den Weg. Er wanderte und wanderte, überwand hohe Berge, kletterte durch schmale Schluchten, wanderte nachts und wanderte tags.

Da erblickte er einen Mann, der ihm entgegenkam. Dieser trug ebenfalls eiserne Stiefel und hatte einen eisernen Wanderstab. Die Wanderer kamen ins Gespräch, und der Unbekannte erzählte: »Mir wurden an einem Tag vierzig Töchter geboren. Nun fordern sie, dass ich ihnen vierzig Freier suche, die von einer Mutter geboren worden sind.« Man einigte sich, dass der Padischah mit seinen Söhnen in einer Woche zu dem Fremden zu Gast kommen werde. Eine Woche später machte sich also der Vater mit neununddreißig Söhnen auf den Weg zu den Bräuten. Sununa aber, den jüngsten Sohn, ließ er der Mutter zum Schutz. Beim Abschied sprach Sununa zum Vater: »Wenn ihr nach Hause zurückkehrt, wird es zuerst in Strömen gießen. Dann werden Schlangen aus den Wolken fallen, und schließlich wird es Steine regnen. Was auch immer geschehen mag, macht um nichts in der Welt halt. Wenn ihr rasten solltet, verlierst du mich in alle Ewigkeit.«

»Ich will es mir wohl merken.« Darauf machte sich der Vater mit seinen neununddreißig Söhnen auf den Weg. Im Hause der Mädchen wurden die Gäste mit Klängen der Surnen und Tamburins empfangen, mit Liedern und Tänzen. Wozu die vielen Worte! Es wurde Hochzeit gehalten. Drei Tage und drei Nächte feierte man, aß Zucker, trank Met, und dann zogen die jungen Paare mit dem Padischah wieder heimwärts.

Es war ein heiterer sonniger Tag, doch unvermittelt verdunkelten schwarze Wolken den Himmel, es donnerte, es blitzte, und ein Platzregen brach los. Die jungen Ehepaare baten den Vater, das Unwetter abzuwarten, doch jener erinnerte sich Sununas Worten und trieb zur Eile. Dann fielen Nattern aus den Wolken, doch der Padischah setzte seinen Weg fort.

Als es aber anfing, Steine zu regnen, setzten die jungen Leute ihren Willen durch, und der Vater legte eine Rast ein. Sie schlugen Zelte auf und beschlossen, in der Einöde die Nacht abzuwarten. Als sie am nächsten Morgen ihre Reise fortsetzen wollten, umzingelte sie drohend ein Riesendrache. Die Reisenden baten ihn, sie ziehen zu lassen. Sie fanden viele Worte für ihre inständige Bitte, doch der Drache hörte nicht einmal, was sie sagten. Endlich ließ er sich vernehmen. »Ich will gar nicht euch. Bringt mir euern jüngsten Bruder Sununa, und ich lasse euch frei. Andernfalls reiße ich euch allen den Kopf ab!« Dem Vater blieb nichts weiter übrig, er musste den jüngsten Sohn holen.

Furchtlos trat Sununa vor den grausigen Drachen: »Reiße nur deinen Rachen auf, Verfluchter, und verschlinge mich! Doch lass meine Brüder frei!«

»Ich will dich nicht verschlingen und auch deine Bruder nicht«, erwiderte der Riesendrache. »Ich will dir nur eine Aufgabe stellen. Wenn du sie löst, lasse ich euch alle frei.«

»Gib mir deinen Auftrag, Verfluchter, und lass meine Brüder frei!« rief Sununa. »Jenseits des weiten Meeres wohnt ein Padischah, der eine wunderschöne Tochter hat. Beschaffe mir das Mädchen!« befahl der Drache. »Ich will's versuchen«, entgegnete Sununa und machte sich auf. Der Riesendrache ließ den Padischah und dessen Söhne mit ihren Frauen ziehen.

Sununa ritt durch tiefe Täler, durch enge Schluchten, über hohe Berge und durch dichte Wälder. Unterwegs traf er einen Dshigiten, der mit einem Pfeil in den Himmel zielte und Wildvögel schoss. Sununa ritt zu ihm, verneigte sich tief und fragte: »Was tust du hier, Bruder?«

»Ich habe gehört, Sununa kommt vorüber. Auf den warte ich.«

»Ich bin Sununa!« Sie setzten den Weg gemeinsam fort und standen bald am Meeresstrand. Don erblickten sie einen Wassermann, der mit einem Schluck das ganze Meer aufsaugte und es dann mit einem einzigen Strahl zurückströmen ließ. »Was tust du hier, Bruder?« fragte Sununa. »Ich habe gehört, Sununa kommt vorüber. Auf den warte ich.«

»Ich bin Sununa!«

»So will ich dein Freund sein!« rief der Wassermann. Nun mussten die Dshigiten das Meer überqueren. Mit einem Schluck leerte der Wassermann das Meer, und die Freunde ritten an den gegenüberliegenden Strand. Dann ließ der Wassermann das Meer wieder zurückfließen, behielt aber für alle Fälle neunundneunzig Krug Wasser in seinem Mund zurück.

Sie setzten ihre Reise fort. Sie ritten tags, sie ritten nachts. Endlich erreichten die Dshigiten jene Stadt, in welcher der fremde Padischah regierte. Sie betraten das Schloss, und als Sununa vor dem Herrscher stand, sprach er: »Gib mir deine Tochter!« Der Padischah erwiderte: »Gut, ich will dir meine Tochter geben, wenn du drei Befehle ausführst, die ich dir erteilen werde. Erfüllst du sie nicht, lasse ich dir den Kopf abschlagen!«

»Befiel!« rief Sununa aus.

Darauf ließ der Padischah ein altes Weib rufen und sprach: »Einer von euch soll dieses alte Weib im Wettlauf überholen. Gelingt ihm das, so habt ihr gewonnen, gewinnt sie, lasse ich euch den Kopf abschlagen.«

»Ich will mit der Alten um die Wette laufen«, verkündete der Schütze, und sie zogen auf den Stadtplatz. Sie rannten und rannten, und die Alte begann den Dshigiten zu überholen. Da schoss er dem alten Weib einen Pfeil in den Rücken. Die Alte stürzte, und der Schütze ging als Sieger durchs Ziel. Am zweiten Tag ließ der Padischah wiederum Sununa mit seinen Freunden rufen und sprach: »Einer von euch soll einen randvoll gefüllten Becher nehmen, mit ihm auf einen hohen Baum klettern und wieder herunterkommen. Dabei darf er keinen einzigen Tropfen verschütten, sonst lasse ich euch allen den Kopf abschlagen!«

»Gut«, erwiderte Sununa, füllte den Becher und kletterte auf den Baum. Von der Baumkrone aus schaute Sununa zufällig in die Richtung, aus der er gekommen war, und erblickte seine Mutter und seine Braut. Beide trugen Trauergewänder und beklagten seinen frühen Tod. Da fiel eine Träne aus Sununas Auge auf das unter dem Baum ausgebreitete Saffianleder. Der Padischah wusste sich vor Freude kaum zu lassen und befahl dem Henker, die Hinrichtung vorzubereiten. Doch Sununa kam mit dem randvoll gefüllten Becher zurück auf die Erde. So sorgfältig der Padischah auch den herabgefallenen Tropfen untersuchen mochte, er musste sich davon überzeugen, dass es eine Träne aus Sununas Auge war. »Schön«, sprach er, »ihr könnt in der eisernen Stube übernachten. Morgen gebe ich euch meine Tochter und lasse euch ziehen.«

Sununa und seine Freunde gingen in die eiserne Stube. Der Padischah indes befahl, den Ofen zu heizen, bis die eisernen Wände rot glühend wurden. Da spie der Wassermann das Meereswasser aus und kühlte die Wände. Am nächsten Morgen fand der Padischah die Dshigiten gesund und wohlauf. Sie sangen fröhliche Lieder. Da blieb dem Gebieter keine andere Wahl: Er musste ihnen seine Tochter geben. Sununa belud vierzig Esel mit der Mitgift der Tochter des Padischahs und machte sich mit ihr und mit seinen Freunden auf den Heimweg.

Sie ritten und ritten, ritten so schnell, dass nicht einmal ein Vogel, im Flug sie einholen konnte. Unterwegs sahen sie viele Gestüte und Schafherden. »Wem gehören die Herden?« wollte Sununa wissen. »Dem Riesendrachen«, erwiderten die Hirten. Als die Tochter des Padischahs hörte, dass sie zum Drachen gebracht werden sollte, flehte sie Sununa an: »Errette mich vor dem Ungetüm! Nimm du mich lieber zur Frau!« Sununa wurde traurig, denn er hatte die schöne Tochter des Padischahs lieb gewonnen, und dachte darüber nach, wie er den Riesendrachen töten könne. Unweit der Drachenhöhle kam Sununa mit einem Hirten ins Gespräch und erzählte ihm alles. Der Hirte sagte: »Wenn du zu dem Riesendrachen kommst, wird er dich fragen, welchen Lohn du forderst. Bitte ihn um das Schwert in der Filzscheide. Er wird dir viele Reichtümer bieten, doch bleib bei dem Schwert. Nur mit ihm kannst du das Untier töten.«

Sununa ritt weiter und gelangte bald zum Riesendrachen. Der Drache empfing die Gäste voller Freude, erquickte sie mit Zucker und Honig und fragte schließlich Sununa: »Was wünschst du dir zum Lohn?«

»Gib mir das Schwert in der Filzscheide«, entgegnete Sununa. »Nimm lieber Pferde, Hammel, Gold und Silber«, schlug der Drache leutselig vor. Doch Sununa blieb bei seiner Bitte: »Ich will nichts, nur das Schwert!«

»Möge demjenigen die Zunge verdorren, der dich solches lehrte!« schrie der Drache und gab Sununa das Schwert. Sununa zog es aus der Scheide und teilte den Drachen mit einem Schlag in zwei Hälften. Die eine Hälfte verwandelte sich in einen Hund, die andere in ein Schwein, und beide jagten einander zu Tode.

Sununa verteilte die Reichtümer des Riesendrachen unter seine Freunde, nahm sich selbst nur das, was er auf seinem Pferd mit sich führen konnte, und kehrte mit der Tochter des Padischahs in sein Vaterhaus zurück. Der Vater, die Mutter und die Anverwandten freuten sich über seine glückliche Rückkehr. Sie legten die Trauerkleider ab, hüllten sich in Seidengewänder und feierten vierzig Tage und vierzig Nächte Hochzeit. Auf diesem großen Festgelage sangen die Gäste Lieder, das Tamburin wirbelte, die Surna erklang, die Trommel wurde geschlagen, und auch die Flöten lockten zum Tanz. Sununa nahm die Tochter des Padischahs zum Weibe und seine Braut dazu. Sie gebaren ihm Söhne, die dem Vater glichen, und Töchter, die den Müttern ähnelten. Ich aber nahm Abschied von ihnen und bin zu euch gekommen.