[swahili, "Geschichte, Legende"]

Sonne, Mond und Sterne

Am Anfang waren Sonne und Mond Mann und Frau. Sie lebten zusammen und hatten viele Kinder. Die Kinder von Sonne und Mond nennt man Sterne. Sonne, Mond und Sterne essen nicht die gleichen Speisen wie wir. Sie ernähren sich von Feuer, und darum glänzen sie.

Am Anfang waren Sonne und Mond also Mann und Frau und lebten zusammen. Da kam eines Tages ein mächtiger Häuptling in ihr Dorf; seinen Namen und sein Land kenne ich nicht. Er brachte viele Kisten voller Waren mit. Seine Schönheit und sein Reichtum waren so groß, dass des Mondes Herz sich ihm zuneigte. Als der Häuptling weiter zog, gab Frau Mond ihm ein Zeichen. An der Wegbiegung wollten sie heimlich zusammentreffen, um gemeinsam zu fliehen.

Herr Sonne merkte aber bald, dass seine Frau, der Mond, nicht mehr an seiner Seite war. »Wo ist sie?« schrie er seinen Kindern zu. Die wussten keine Antwort. »Wo ist sie, frage ich euch?« Sein Gesicht funkelte vor Zorn, dass alle Sterne sich fürchteten. »Aha«, tobte er, »ihr wart es, die eurer Mutter geholfen habt.« Seitdem macht er Jagd auf seine Kinder. Jedes Mal, wenn er einen Stern ergreifen kann, verschlingt er ihn, und niemand spricht mehr von diesem Stern. Aber die Sterne sind so weit verstreut und so zahlreich, dass immer noch einige übrig bleiben, sogar viele.

Seit dieser Zeit läuft Herr Sonne jeden Tag dem Abend und den Sternen hinterher. Sobald Frau Mond Herrn Sonne am Himmelsrand aufgehen sieht, beeilt sie sich, in ihrer Hütte zu verschwinden. Hat Herr Sonne das Firmament durchwandert, wie wir es täglich sehen, eilt er wieder zur anderen Seite. Niemals ermüdet er und rastet nicht einen Tag. Kaum ist er verschwunden, seht ihr Frau Mond aufsteigen, bald hier, bald da, denn sie wechselt oft den Schlupfwinkel, um ihren Mann von der Spur abzubringen. Mitunter überrascht er sie, und dann reißt er ihr mit einem Biss ein Stück aus. Manchmal, wenn Mutter Mond sich inmitten ihrer Kinder zu sehr verspätet hat, trifft er sie noch am Himmel und will sie verschlingen. Bis jetzt gelang ihm das nicht, denn Frau Mond ist sehr flink. Sobald ihr Mann sie erreicht, rettet sie sich rasch, und die Verfolgung beginnt von neuem. Bisweilen entdeckt Herr Sonne den Schlupfwinkel seiner Frau. Er nähert sich leise, leise, und über lange Stunden ist der Mond nicht zu sehen. Doch wenn Frau Mond frei ist, begibt sie sich schnell in die Mitte ihrer Kinder, der Sterne, denn sie liebt sie sehr, und sie verschlingt sie, wie eine gute Mutter, niemals. Von einer Hütte zieht sie zur anderen und besucht die Sterne nacheinander. Ab und zu feiert sie mit ihnen Hochzeit. Dann windet sie sich ein wunderbares Band um den Kopf, das gleiche, das sie am Tag ihrer Hochzeit mit der Sonne trug. Sobald die Sonne auf der anderen Seite der Erde wieder erscheint, flieht Frau Mond mit all ihren Kindern. Nur eines lässt sie zurück, immer den gleichen Stern, damit er im Fall der Gefahr Nachricht bringt. Dieser Stern wacht sorgsam, morgens wie abends.

Die Verfolgung dauert schon lange, lange Zeit. Aber einmal wird der Tag kommen, an dem sie zu Ende geht, denn schließlich ist der Mann Meister der Dinge, und er muss Recht behalten. Ohne ihn wären die Dinge schlimm. An diesem Tag wird Herr Sonne seine Frau in der Erde in einer tiefen Grube verschließen, und niemals mehr darf sie heraufsteigen. Ist die Mutter erst gefangen, werden die Kinder rasch gefressen sein. Was dann mit uns, den Menschen, geschieht, weiß niemand, mein Bruder.