[swahili, "Geschichte, Legende"]

Sihamba Ngenyana, die Nachtwandlerin

Ein Mann hatte zwei Frauen. Eine von ihnen bekam keine Kinder und grämte sich deshalb sehr. Da kam eines Tages ein Vogel zu ihr, gab ihr kleine Kügelchen und sagte: »Nimm vor jeder Mahlzeit eine davon, dann bekommst du ein Kind.« Die Frau war sehr froh und bot dem Vogel zum Dank ein bisschen Hirse an. Aber er sagte: »Nein, Hirse mag ich nicht.« Da wollte ihm die Frau Schmuck geben, aber wieder lehnte der Vogel ab: »So etwas kann ich nicht brauchen.« Nun holte die Frau feinen Sand und streute ihn vor den Vogel hin, den nahm er an.

Die Frau bekam eine Tochter. Ihr Mann erfuhr nichts davon, denn er liebte sie nicht mehr, weil sie keine Kinder gebar, und war schon lange nicht mehr bei ihr gewesen. Also sagte sich die Frau: »Ich werde meine Tochter bei mir in der Hütte behalten, bis mein Mann einmal zu mir kommt. Sieht er erst, was für eine schöne Tochter ich habe, gewinnt er mich sicher wieder lieb.« Dem Mädchen gab sie den Namen Tangalimlibo.

Der Mann aber ging immer nur zu der anderen Frau, und so konnte es geschehen, dass Tangalimlibo schon zu einer jungen Frau herangewachsen war, als ihr Vater sie zum ersten Mal sah. Voller Freude sprach er: »Liebe Frau, das hättest du mir schon eher mitteilen sollen.« Tangalimlibo war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie am Tage ausgegangen, nur nachts, wenn die Leute sie nicht sehen konnten.

Der Mann sagte zu seiner Frau: »Du musst viel Bier brauen und eine Menge Leute einladen, dass sie kommen und sich mit mir freuen.« Und die Frau tat das. Vor dem Kraal stand ein großer Baum. Darunter wurden Matten ausgelegt. Es war ein wunderschöner, sonniger Tag, und es kamen viele Leute. Unter ihnen auch ein Häuptlingssohn, der sich, sobald er Tangalimlibo erblickte, in sie verliebte.

Als der junge Häuptling wieder in seinem Dorf war, sandte er dem Vater des Mädchens die Botschaft, er solle seine Tochter zu ihm schicken, weil er sie heiraten wolle. Der Mann erzählte das allen seinen Freunden. Er bat sie auch, sie möchten zu einer bestimmten Zeit bereit sein, das Mädchen zu dem Häuptling zu geleiten. So kamen sie und holten das Mädchen und feierten eine große Hochzeit. Es waren viele Ochsen, die an diesem Tag geschlachtet wurden. Tangalimlibo hatte von ihrem Vater einen großen wunderschönen Ochsen bekommen. Dieser Ochse wurde bei ihrem Namen gerufen. Sie riss ein Stück von ihrem Kleid ab und gab es dem Ochsen, und der fraß es auf.

Einige Zeit nach der Hochzeit gebar die junge Frau einen Sohn. Ihr Mann liebte sie sehr, weil sie hübsch und fleißig war; nur eines fiel auf, dass sie niemals bei Tageslicht ausging. Deshalb bekam sie den Namen Sihamba Ngenyana, die Nachtwandlerin.

Eines Tages ging ihr Mann weit weg auf die Jagd. Zu Haus blieben außer Tangalimlibo nur ihr Schwiegervater, die Schwiegermutter und ein Mädchen, das den kleinen Sohn betreute. Der Schwiegervater fragte: »Warum arbeitet Tangalimlibo nicht am Tage?« Er gab vor, durstig zu sein, und sandte das Mädchen mit den Worten »Ich sterbe vor Durst« zu Tangalimlibo Wasser holen. Die junge Frau schickte ihrem Schwiegervater Wasser, aber er schüttete es auf den Boden und sagte: »Was ich möchte, ist Flusswasser.« Tangalimlibo antwortete: »Ich gehe nie bei Tage an den Fluss.« Er bat sie noch einmal und sagte wieder: »Ich sterbe vor Durst.«

Da nahm sie einen Krug und eine Schöpfkelle und ging weinend zum Fluss. Sie tauchte die Kelle ins Wasser, da wurde sie ihr weggerissen. Dann tauchte sie den Krug ins Wasser, und auch der wurde ihr weggezogen. Als sie versuchte, mit ihrem Umhang Wasser zu schöpfen, verschwand sie selbst im Fluss. Nach einer Weile schickte man das Mädchen nach ihr aus, aber es kehrte zurück und sprach: »Ich habe sie, die immer nur bei Nacht Wasser holt, nicht gefunden.« Eilig trieb ihr Schwiegervater Ochsen zum Fluss. Den großen Ochsen, der auf ihren Namen hörte, schlachtete er, warf das Fleisch und die Ochsenhaut ins Wasser und rief: »Nimm das an Stelle meines Kindes!« Da ertönte eine Stimme: »Geh zu meinem Vater und zu meiner Mutter und sage ihnen, dass mich der Fluss geholt hat.« An diesem Abend weinte der kleine Sohn von Tangalimlibo sehr. Sein Vater war noch nicht von der Jagd zurückgekehrt. Vergeblich suchte die Großmutter das Kind zu beruhigen. Dann gab sie es dem Mädchen, das sich das Kind auf den Rücken band. Aber es hörte nicht auf zu weinen. Um Mitternacht lief das Mädchen mit dem Kleinen auf dem Rücken zum Fluss und klagte: »Es weint, es weint,
das Kind von Sihamba Ngenyana.
Es weint und will nicht still werden!«
Da tauchte die Mutter aus dem Fluss empor und klagte ebenfalls: »Es weint, es weint,
das Kind der Nachtwandlerin.
Das haben Menschen mit Absicht getan,
Menschen, die ich nicht nennen kann.
Sie schickten am Tag sie nach Wasser,
Sihamba Ngenyana.
Mit dem Krug wollt sie schöpfen, er sank,
Sihamba Ngenyana.
Mit der Kelle wollt sie schöpfen, sie sank,
Sihamba Ngenyana.
Mit dem Umhang wollt sie schöpfen, er sank,
Sihamba Ngenyana.«
Dann nahm sie ihr Kind und legte es an die Brust. Als sich der Kleine satt getrunken hatte, reichte sie ihn dem Mädchen und befahl ihr, niemandem zu verraten, dass sie aus dem Wasser auftauche. Falls jemand wissen wolle, wie das Kind genährt würde, sollte sie sagen, dass der Kleine Beeren bekomme. Das wiederholte sich einige Male. Jede Nacht brachte das Mädchen das Kind zum Fluss, die Mutter tauchte auf und säugte es. Zuvor aber vergewisserte sie sich stets, dass auch niemand in der Nähe war. Und wenn sie das Kind dem Mädchen zurückgab, befahl sie ihr stets, Stillschweigen zu bewahren.

Nach einiger Zeit kehrte der Vater des Kindes von der Jagd zurück. Man erzählte ihm, dass Tangalimlibo an den Fluss gegangen und nicht wiedergekommen sei. Als ihm das Mädchen seinen Sohn brachte, erkundigte er sich, was der Kleine denn zu essen bekomme, und als er hörte, dass sie ihm Beeren gebe, sagte er: »Das kann nicht sein! Geh und hol ein paar Beeren, damit ich sehe, ob er sie isst.« Das Mädchen holte Beeren, aber das Kind aß sie nicht. Da schlug der Vater das Mädchen, bis es die Wahrheit sprach und verriet, dass es in der Nacht zum Fluss ginge, dass die Mutter des Kleinen aus dem Wasser auftauche, ihr Kind liebkose und ihm Milch gebe.

Nun dachten sie sich einen Plan aus. Tangalimlibos Mann wollte sich im Schilf verstecken und versuchen, seine Frau, sobald sie aus dem Wasser käme, festzuhalten. Das eine Ende eines langen Riemens, den er aus einer Ochsenhaut gefertigt hatte, band er sich um den Leib. Das andere Ende gab er den Männern aus dem Dorf und hieß sie, es gut festzuhalten, wenn sie merken sollten, dass es ihnen weggerissen würde.

In der Nacht verbarg sich der Mann im Schilf. Tangalimlibo tauchte aus dem Wasser und schaute umher, während sie ihr Lied sang. Sie fragte das Mädchen, ob jemand hier sei, und als sie antwortete, da sei niemand, nahm sie ihr Kind. Da sprang ihr Mann auf sie zu und umarmte sie ganz fest. Sie versuchte sich loszureißen, aber die Dorfleute zogen den Riemen an. Sie wurde weggezerrt, aber der Fluss folgte ihr, und sein Wasser verwandelte sich in Blut. Als es nahe ans Dorf herankam, sahen es die Männer, die an dem Riemen zogen, und bekamen Angst. Sie ließen den Riemen los, und da kehrte der Fluss plötzlich wieder in sein Bett zurück und nahm Tangalimlibo mit. Dann rief die Stimme aus dem Wasser ihrem Mann zu: »Geh zu meinem Vater und zu meiner Mutter und sage ihnen, dass mich der Fluss geholt hat.«

Der Mann rief seinen Rennochsen und fragte: »Willst du, mein Ochse, diese Botschaft Vater und Mutter von Tangalimlibo überbringen?« Der Ochse brüllte nur.

Er rief seinen Hund und fragte: »Willst du, mein Hund, diese Botschaft Vater und Mutter von Tangalimlibo überbringen?« Der Hund bellte bloß.

Zuletzt rief er den Hahn. Er fragte: »Willst du, mein Hahn, diese Botschaft Vater und Mutter von Tangalimlibo überbringen?« Der Hahn antwortete: »Das will ich tun, mein Gebieter.« Er sagte: »lass hören, was du erzählen wirst.« Und der Hahn antwortete: »Ich werde singen - Ich bin ein Hahn, den man nicht töten darf. Kikerikiki!
Ich komme, um von Tangalimlibo zu erzählen. Kikerikiki!
Tangalimlibo ist tot. Kikerikiki!
Sie hat Wasser für einen geholt, den man nicht nennen kann. Kikerikiki!
Man wollte einen Ochsen schicken, er hat nur gebrüllt. Kikerikiki!
Man wollte einen Hund schicken, er hat nur gebellt. Kikerikiki!«
Der Häuptling sagte: »Das ist gut, mein Hahn, geh jetzt!« Als der Hahn seines Weges kam, sahen ihn einige Jungen, die Kälber hüteten. Da rief der eine: »Kommt her, Jungs, kommt her! Hier ist ein Hahn, den wir uns kochen können.« Der Hahn aber reckte sich und sang sein Lied. Die Jungen sprachen: »Sing noch einmal, wir haben dich nicht richtig verstanden.« Also sang der Hahn noch einmal: »Ich bin ein Hahn, den man nicht töten darf. Kikerikiki!
Ich komme, um von Tangalimlibo zu erzählen. Kikerikiki!
Tangalimlibo ist tot. Kikerikiki!
Sie hat Wasser für einen geholt, den man nicht nennen kann. Kikerikiki!
Man wollte einen Ochsen schicken, er hat nur gebrüllt. Kikerikiki!
Man wollte einen Hund schicken, er hat nur gebellt. Kikerikiki!«
Da ließen ihn die Jungen weitergehen. Er verließ den Ort und kam zu einem Dort, wo die Männer beieinander saßen. Da flog er auf den Zaun des Kraals, um sich auszuruhen, und die Männer entdeckten ihn. Sie sagten: »Woher kommt dieser Hahn? Wir dachten, alle Hähne hier sind tot. Beeilt euch, Männer, und tötet ihn.« Da krähte der Hahn sein Lied. Die Männer sagten: »Wartet, wir wollen hören, was er singt.« Dann sagten sie zu ihm: »Fang noch einmal an, wir haben dich nicht verstanden.« Der Hahn bat: »Gebt mir etwas zu essen, ich habe Hunger.« Die Männer schickten einen Jungen nach Hirse und gaben ihm die. Als er gegessen hatte, sang er sein Lied. Die Männer meinten: »Lassen wir ihn gehen.« Da ging er davon.

Dann kam er zum Dorf von Tangalimlibos Vater, zu der Hütte, die er suchte. Er richtete die Botschaft aus, mit der er unterwegs war. Tangalimlibos Mutter war sehr erfahren im Umgang mit Zaubermedizin. Sie sagte zu ihrem Mann: »Hol einen fetten Ochsen, wir werden ihn mitnehmen.«

Als sie am Fluss ankamen, töteten sie den Ochsen. Und während sie das Fleisch ins Wasser warfen, übte die Frau ihren Zauber aus. Es gab ein großes Beben, das Wasser stieg auf und Tangalimlibo kam heraus. Da herrschte große Freude bei den Leuten, als sie Tangalimlibo zu ihrem Mann nach Hause brachten.