[swahili, "Geschichte, Legende"]

Sieben Jahre im Mutterleib

Vor langer Zeit machte Obassi einmal einen Mann und eine Frau und setzte sie in eine Hütte, die er eigens für die beiden gebaut hatte. Schon nach wenigen Monaten glaubte die Frau, dass sie ein Kind bekommen würde. Trotzdem blieb sie sieben Jahre kinderlos. Als diese Zeit um war, begab sich der Mann eines Tages auf die Jagd. Er ging weit weg von ihrer Hütte und blieb viele Tage und Nächte fort. Als er zurückkam, sah er in der Hütte einen Jungen sitzen.

Während der Mann nämlich auf der Jagd war und seine Frau in den Wald ging, um Feuerholz zu holen, fühlte sie unterwegs, dass ihre Zeit gekommen war. Sie legte die Hände um einen Baum und hielt sich daran fest. Aber statt eines winzigen Säuglings - bewahre - kam da ein Junge zum Vorschein, der fast so groß war wie sie selbst. Sogleich nahm er seine Mutter bei der Hand und führte sie zur Hütte, denn sie war sehr schwach nach einer solchen Geburt.

Als der Mann bei seiner Rückkehr den Jungen sah, fragte er ihn, woher er komme. »Ich bin dein Sohn, Vater«, antwortete das Kind. »Wie ist das möglich?« fragte der Mann. »Meine Mutter hat mich geboren, deine treue Frau«, antwortete der Junge. »Weil ich aber wusste, dass du einen Helfer brauchst. wollte ich sieben Jahre lang nicht kommen und verbrachte die Zeit, in der man unbeholfen ist, im Leib meiner Mutter. Jetzt bin ich stark genug, um euch beiden zu helfen.« Der Mann vermochte die Geschichte des Jungen kaum zu glauben und hatte große Angst. Er meinte, er müsse nun, nachdem ihm etwas derart Seltsames widerfahren sei, sterben. »Vielleicht«, dachte er, »ist der Junge von den Geistern gesandt worden, um mich zu holen. « So wanderten seine Gedanken umher, obgleich auch seine Frau ihm versicherte, dass der Junge wirklich sein Sohn sei.

Vier Tage lang blieb der Junge zu Hause und kümmerte sich um seine Mutter. Am fünften Tag bat er seinen Vater, ihm ein Buschmesser zu geben, damit er in den Wald gehen könne.

In einer Hand hielt er das Buschmesser und in der anderen ein zweifach geschliffenes Messer, das Isawm genannt wurde. Das zweite war ein Zaubermesser. Es zeigte die Richtung jeder beliebigen Stelle an, die der Besitzer erreichen wollte. Beabsichtigte er zum Beispiel, zu einer Stadt im Süden zu gelangen, hätte sich das Messer, sobald es nach Osten, Norden oder Westen gerichtet worden wäre, von selbst in Richtung Süden gedreht und erst dann still gehalten.

Auf seinem Weg stellte der Junge von Zeit zu Zeit Fallen auf und wanderte so eine lange Strecke, bis es für ihn Zeit war, umzukehren. Auf dem Rückweg fand er in den Fallen viele Vögel. Die brachte er seinen Eltern, und sie dankten ihm sehr. Am nächsten Tag zog er wieder aus, um Fallen zu stellen, und als er eben heimkehren wollte, hörte er von fern Musik, wie sie bei einem Ringkampf gespielt wird.

Der Junge, der ein begeisterter Ringkämpfer war, eilte nach Hause und erzählte seinen Eltern, dass er die Ringkampfmusik gehört habe und am anderen Morgen aufbrechen würde, um herauszufinden, woher sie käme. Seine Eltern rieten ihm, nicht zu gehen, aber er war nicht davon abzuhalten und lief los, das Isawm in der Hand.

Als er wieder in dem Teil des Waldes angelangt war, in dem er die Musik vernommen hatte, blieb er stehen und lauschte, aber es blieb ganz still. Mit Hilfe seines Isawm fand er dennoch den Weg und lief weiter und weiter, bis er, nachmittags gegen drei Uhr etwa, die Musik wieder hörte. Das Zaubermesser hatte ihn direkt in die Gegend geführt, wo die Musik erklang. Von den Tönen angespornt, flog er vorwärts wie mit Flügeln und befand sich bald am Fuße eines sehr steilen Berges, von dessen Gipfel die lang gesuchte Musik hell und klar ertönte. Die Oberfläche des Berges aber war so glatt, der Berg noch dazu so steil, dass kein Sterblicher ihn ohne Hilfe hätte ersteigen können. Der Junge aber machte sich ans Werk. Mit dem Isawm hieb er zwei Löcher für die Füße, und dann weiter oben zwei neue, und stieg so immer höher, bis er den Gipfel erklommen hatte. Da sah er die Leute, die in dieser Höhe wohnten, und auch sie sahen ihn.

Sofort beteiligte der Junge sich am Ringkampf. Die besten aller Ringer, es waren sieben an der Zahl, der Neuangekommene bezwang sie alle! Obassi hörte den Kampfeslärm und kam sogleich, um nach der Ursache zu forschen, denn es war seine Stadt. Er sah den Jungen, erkannte ihn als jenen, den er zu dem armen Ehepaar gesandt hatte, und bedeutete ihm näher zu treten. Erst sieben Tage waren seit der Geburt des Jungen vergangen, aber er war schon erwachsen. Obassi sprach: »Du hast alle anderen besiegt, daher will ich dich als meinen Sohn annehmen.« Der junge Mann war so wunderschön, dass sich die Hauptfrau Obassis sofort in ihn verliebte. Zuerst wies der Jüngling sie ab, aber es dauerte nicht lange, da geriet er in Versuchung und ging törichterweise auf ihre Werbungen ein.

Obassi wusste von alledem, denn nichts bleibt ihm verborgen. Er fragte die Frau, ob sie gestehe, was sie getan habe, aber sie leugnete alles. Dann fragte er seinen Adoptivsohn, der gab seinen Fehler zu, und Obassi vergab ihm daraufhin sogleich.

Nach einer Woche trug der junge Mann Obassi vor, er wolle gern seine anderen Eltern besuchen und dann wiederkommen. Obassi willigte ein und gab ihm ein reiches Geschenk für seine armen Eltern mit. Zufrieden machte sich der junge Mann auf die Reise.

Als er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, hörte er auf einmal einen Laut im Gebüsch. Die Zweige wurden auseinander gebogen, und hervor trat jene Frau, die der junge Mann in der Stadt auf dem Berg verlassen hatte. Sie hatte die Unterhaltung zwischen Obassi und ihrem Liebsten gehört und war jenem eilig gefolgt. Der junge Mann, der nun einmal die Vorzüge, eine Frau zu haben, kennen gelernt hatte, war beglückt, dass er sie mitnehmen konnte, und kehrte daher niemals wieder zu Obassi zurück. dass seine Frau mit dem Burschen davongegangen war, wusste Obassi, aber nachsichtig dachte er: »Vielleicht kommt er zurück und bittet um Vergebung, wie er es schon einmal tat.« Als der junge Mann aber ausblieb, sandte Obassi lange Zeit später seine Krieger, um ihn zu bestrafen.

Nun hatte Obassi dem Jungen aber, nachdem er ihn zu sich genommen hatte, alle guten und bösen Jujus gezeigt, und als die Krieger bei ihm erschienen, wandte der ungeratene Sohn einen starken Zauber an und gebot ihnen, gegeneinander zu kämpfen. So kehrte sich jedes Kriegers Hand gegen den Nachbarn, und sie kämpften gegeneinander, bis sie tot dalagen, einige wenige ausgenommen. Die Überlebenden kehrten zurück zu ihrem Herrn und berichteten, was ihnen widerfahren war. Als Obassi dies vernommen hatte, packte ihn ein großer Zorn, und er wandte sich von den Menschen ab. Wäre dieses Paar nicht gewesen, so könnten wir noch heute jederzeit zu Obassi laufen und um Verzeihung bitten, was immer an Bösem wir auch getan hätten, aber seit dem Fehltritt dieser beiden ist dieser Weg, Vergebung zu erlangen, für immer versperrt.