[swahili, "Geschichte, Legende"]

Padischah Charun Raschid

Charun Raschid diente ein gewisser Dshakaer als Wesir. Eines Tages, als sie durch die Straßen der Hauptstadt schlenderten, begegnete dem Padischah und seinem Wesir ein weinender Mann. »Warum weinest du?« fragte der Padischah. »Ich bin Fischer«, entgegnete der Mann, »doch mein Lebtag bleiben meine Netze leer, und meine Familie leidet Hunger. Wie sollte ich da nicht weinen?«

»Das kann nicht sein!« rief der Padischah. »Lege deine Netze aus, und alles, was du in ihnen fängst, wollen wir dir abkaufen.« Sie gingen zum Fluss. Der Fischer ordnete die Netze und warf sie recht weit entfernt vom Ufer aus. Kaum waren sie im Wasser verschwunden, da hatte sich schon etwas in ihnen verfangen. »Zieh die Netze ein!« gebot der Padischah. Der Fischer gehorchte und zog eine große Truhe aus dem Wasser. Der Padischah belohnte den Fischer wie versprochen, und der eilte freudig heim. Die Truhe wurde in den Palast geschafft, und der Padischah ließ sie öffnen. Da erblickte er eine blutüberströmte, wunderschöne Gelin. »Wer in unserem Reich hat sich erfrecht, so ein grausames Verbrechen zu begehen!« Der Padischah war empört. »Solche Bluttat verzeihen wir keinem!« Er rief seinen Wesir und befahl: »Ich gebe dir drei Tage Zeit. Suche den Mörder und schaffe ihn herbei. Findest du ihn nicht, so lasse ich dir zur Strafe den Kopf abschlagen.« So sehr der Wesir sich auch mühte, doch die Frist, die der Padischah ihm gegeben, neigte sich dem Ende, der Schuldige aber ward nicht gefunden. Der Wesir kehrte heim, nahm Abschied von seinen Anverwandten und begab sich gesenkten Hauptes zum Padischah, um ihm von seiner erfolglosen Suche zu berichten. »Oh, großer Padischah, ich habe es nicht vermocht, deinen Auftrag zu erfüllen!« sagte der Wesir. Der Padischah vermochte seinen Zorn nicht zu beherrschen. »Hängt ihn!« befahl er der Wache. »Und treibt alles Volk zur Hinrichtungsstätte.« Die Menge säumte den Platz.

Der Henker führte den Wesir zu dem verhängnisvollen Baum und legte ihm schon den Strick um den Hals. »Haltet ein! Haltet ein!« ertönte da ein Ruf, und ein Jüngling stürzte aus der Menge. »Ich habe an allem Schuld!« Die Menge erstarrte vor Verblüffung, und dem Henker stand gar der Mund offen vor Überraschung. »Dieser Jüngling trägt keine Schuld!« ertönte eine andere Stimme, und ein Greis trat aus der Menge. »Ich habe an allem Schuld!« Die Wache nahm beide gefangen, führte sie zum Padischah und berichtete, was sich auf dem Hinrichtungsplatz zugetragen hatte. Auf die Fragen des Padischahs begann der Jüngling zu erzählen, was ihm geschehen war, doch der Herrscher unterbrach ihn alsbald. »Was hat dies alles mit dem Greis zu tun?«

»Der Greis ist mein Onkel väterlicherseits. Er fand, dass er lange genug gelebt habe, und beschloss für mich in den Tod zu gehen. Aber ich ganz allein hab' an allem Schuld. Ich besaß ein schönes, gütiges Weib. Wir liebten einander von Herzen. Eines Tages erkrankte sie, und ich kaufte ihr drei Birnen. Kaum war ich in meinen Laden zurückgekehrt, da erblickte ich einen Mann, der eine von den Birnen, die ich vor kurzem gekauft hatte, in der Hand hielt. ›Woher hast du sie?‹ fragte ich. ›Eine Gelin hat sie mir geschenkt.‹ Ich blickte mich um und sah, dass zwei Birnen dort lagen, wo ich sie hingelegt hatte, die dritte aber verschwunden war. Ich tötete die Ehebrecherin, legte sie in eine Truhe und warf sie in den Fluss. Kaum hatte ich dies getan, da eilte meine Tochter herbei und sagte: ›Mutter hat mir eine Birne geschenkt, aber ich habe sie einem Onkel gegeben.‹ Ich vermag meinen Kummer einfach nicht zu beschreiben. Ich habe ein Verbrechen begangen, und keine Strafe kann grausam genug für mich sein.«

Den Padischah rührte die Erzählung des jungen Mannes. »He, Wesir Dshakaer, suche binnen drei Tagen den Mann, der von dem Kind die Birne angenommen hat. Wenn du ihn nicht findest, so musst du dein Leben am Galgen beenden.« Abermals begab sich der Wesir auf die Suche. Am dritten Tag, als er schon zum Padischah gehen wollte, um ihm seinen neuen Misserfolg zu melden, kam einer seiner Söhne mit einer Birne in der Hand gelaufen. »Woher hast du diese Birne?« fragte der Wesir verwundert. »Der Onkel dort hat sie mir gegeben«, erwiderte der Knabe. Der Wesir holte den Fremden ein und führte ihn zum Padischah. »Ist das jener Mann, den du mit der Birne in der Hand gesehen hast?« fragte der Padischah den jungen Mann. »Ja, das ist er«, bestätigte der junge Mann. »Eine wunderschöne Gelin schenkte sie mir.«

»Wie sah sie aus?« fragte der junge Mann voller Hoffnung. »So groß ungefähr«, entgegnete der Unbekannte und legte seine Hand ein wenig oberhalb des Knies ans Bein, um die Größe der Gelin zu bedeuten. »Vielleicht sechs oder sieben Jahre alt.«

»So hat sich nun diese traurige Geschichte geklärt«, sprach der Padischah und gebot, auf ewige Zeiten die Eifersucht auszurotten und den Jüngling freizulassen.