[swahili, "Geschichte, Legende"]

Mussil-Muchad

Ob er nun lebte oder nicht - es war einmal ein armer Mann mit Namen Mussil-Muchad. Der besaß viele Kinder. Er bestellte fleißig seinen Acker, und als die Erntezeit kam, ging er mit seiner ältesten Tochter Raiganat aufs Feld. Das Mädchen schnitt das Getreide, und Mussil-Muchad band Garben. Plötzlich erblickte er unter dem gemähten Getreide einen großen Drachen, der zu ihm sprach: »Mussil-Muchad, gib mir deine Tochter zur Frau, es wird dir Nutzen bringen.« Mussil-Muchad erschrak so, dass er nicht einmal die Kraft fand, die Garbe zu Ende zu binden. Die Tochter fragte: »Was ist, Vater, warum bindest du nicht die Garbe?«

»Wie sollte ich, meine Tochter? Der Drache hier will dich zum Weibe. Er verspricht mir großen Nutzen davon.«

»Verheirate mich lieber mit dem Drachen, als dass die ganze Familie Hunger leiden muss«, entgegnete das Mädchen. »Doch frage ihn zuvor, wie er dir dienen wird.« Mussil-Muchad trat zu dem Drachen und fragte: »Ich will dir meine Tochter zur Frau geben, doch was wirst du mir für Nutzen bringen?«

»Deine Familie und du, ihr werdet niemals mehr Not leiden in euerm Leben.« Mit diesen Worten führte der Ashdacha den Vater und dessen Tochter auf ein Feld.

Mitten auf diesem Feld gähnte ein Krater. Steinstufen führten ins Erdinnere. Endlich erblickten die Wanderer eine breite Straße mit Häusern wie Festungen. Alle Straßen wurden von Drachen bewacht. Als die Ashdachen die drei Ankömmlinge erblickten, stießen sie ihnen geifernd ihren flammenden Brodem entgegen. Doch der Drache befahl ihnen, sich ehrfurchtsvoll zu verneigen. Die Fremdlinge betraten Gemächer, in denen alles aus purem Gold und Silber gefertigt war. Die Fußböden waren dick mit wertvollen Teppichen ausgelegt. Der Drache drehte sich um und gebot Raiganat, ihm auf den Schwanz zu treten. Furchtsam gehorchte sie. Im nächsten Augenblick schlüpfte aus dem Schädel des Drachen ein Jüngling von solcher Schönheit, wie man sie kaum mit Worten beschreiben kann. Bei seinem Anblick wurde dem Mädchen und ihrem Vater froh ums Herz. Der Jüngling sprach: »Mussil-Muchad, du wirst fortan keine Sorgen mehr kennen. Ich bin fortan dein Sohn und will für dich sorgen.« Er öffnete eine Truhe, nahm ein Tischtuch heraus und wandte sich an den Vater seiner Braut. »Nimm dieses Tuch, geh heim und sage nur: ›Tischtuch, deck dich!‹ Sogleich werden darauf die verschiedensten Speisen stehen. Wenn ihr euern Hunger gestillt habt, sprich: ›Tischtuch, falte dich zusammen!‹« Mussil-Muchad zog heim, doch als er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, konnte er es nicht mehr erwarten, warf das Tuch auf die Erde und rief: »Tischtuch, deck dich!« Sofort standen die wohlschmeckensten Speisen auf dem Tuch.

Heimgekommen, rief Mussil-Muchad Frau und Kinder zum Essen. Die Frau trat mit den Kindern in die Stube und fragte: »Wo steht dein Essen? Ich sehe nichts. Und wo ist Raiganat?«

»Raiganat hat geheiratet und ist glücklich. Schau einmal her«, sagte Mussil-Muchad zu seiner Frau, warf das Tuch auf den Fußboden und rief: »Tischtuch, deck dich!« Das Tischtuch breitete sich aus. Da merkte Mussil-Muchad, dass es so groß war wie die ganze Stube. Auf dem Tuch standen die leckersten Speisen, Früchte und Getränke. »Greift zu, esst und trinkt, was ihr wollt! Nehmt euch von allem.« Da zog große Freude in Mussil-Muchads Haus ein, und sie schmausten ein paar Tage nach Herzenslust.

Die Kunde von Mussils Wohlstand verbreitete sich rasch im ganzen Aul. Mussil-Muchad aber hatte drei neidische Nachbarn. Die redeten untereinander: »Seltsam, Mussil-Muchad wird immer dicker, und seine Kinder sind in letzter Zeit auch so wohlgenährt. Wie sind die bloß zu solchem Reichtum gekommen?« Die drei brachten alles über das Wundertischtuch in Erfahrung und entwendeten es kurzerhand bei Nacht. Am nächsten Morgen, als die Kinder erwachten, suchten sie das Tischtuch, doch es war verschwunden. An diesem Tag mussten Mussils Kinder wieder Hunger leiden.

Mussil-Muchad ging zu seinem Schwiegersohn und klagte ihm sein Leid. Der gab ihm zwei Mühlsteine und sprach: »Wenn du sagst: ›Mühlsteine, mahlt!‹, so werden sie sich drehen und Mehl mahlen. Wenn du genug Mehl hast, brauchst du nur zu sagen: ›Mühlsteine, haltet ein!‹ Dann bleiben sie stehen.« Mussil-Muchad nahm die Mühlsteine und ging heim. Als er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte und rasten wollte, stellte er die Mühlsteine an den Wegesrand und sagte: »Mühlsteine, mahlt!« Die Mühlsteine begannen zu mahlen, und feines Mehl quoll unter ihnen hervor. Da befahl Mussil-Muchad den Mühlsteinen, einzuhalten. Froh gestimmt kehrte er heim. Er stellte die Mühlsteine in der großen Stube auf und sagte: »Mühlsteine, mahlt!« Bald häufte sich im Zimmer ein kleiner Berg Mehl. Sie backten Brot und aßen, soviel sie wollten. Das restliche Mehl verkauften sie.

Die missgünstigen Nachbarn stahlen auch die Mühlsteine und das Mehl. Wieder ging Mussil-Muchad zu seinem Schwiegersohn und erzählte, dass man ihm die Mühlsteine gestohlen habe. Der Schwiegersohn gab ihm einen Esel und sprach: »Ziehe heim und sage: ›Esel-Mesel, pur-mur!‹ - dann wird er Goldstücke werfen.« Mussil-Muchad dankte dem Schwiegersohn und trieb den Esel heim. Er brachte ihn in die große Stube, band die Leine an einen dicken Nagel und sagte: »Esel-Mesel, pur-mur!« Sofort füllte sich die Stube bis unter die Decke mit klingenden Münzen. Sie gaben dem Esel eine Schüssel voll Datteln und hießen ihn, sich auf die Goldstücke zu legen. Mussil-Muchad wurde noch reicher.

Doch wiederum gelang es den Dieben, den Esel mitsamt den Goldstücken zu stehlen. »Was soll ich bloß tun?« Mussil-Muchad war verzweifelt. »Was ist geschehen, lieber Nachbar?« erkundigten sich scheinheilig die bösen Nachbarn.

Wieder machte sich Mussil-Muchad zu seinem Schwiegersohn auf. Der fragte: »Weshalb bist du gekommen? Was ist passiert?«

»Ich schwöre dir, lieber Schwiegersohn, ich schäme mich schon, zu dir zu kommen. Jetzt haben sie mir auch noch den Esel gestohlen!«

»Beruhige dich, Vater, wir werden alles zurückbekommen.« Der Schwiegersohn gab Mussil-Muchad drei kräftige Knüppel, die an einem Ende zugespitzt waren. »Ziehe mit diesen Knüppeln heim! Hocke dich auf die Schwelle deiner Sakija und sprich: ›Knüppel-Tückel, tark-mark! Tanzt auf den Köpfen derer, die das Tischtuch, die Mühlsteine und den Esel gestohlen haben. Prügelt sie durch, bis sie mir alles zurückbringen!‹« Mussil-Muchad nahm die Knüppel und ging nach Hause. Auf halbem Wege aber packte ihn die Neugier, und er sagte: »Knüppel-Tückel, tark-mark!« Sofort fielen die Knüppel über den armen Mussil-Muchad her und verbleuten ihn. »Oje, das hab ich doch nur so dahingesagt, hör auf!« schrie der Unglückliche. Die Knüppel hielten inne.

Mussil-Muchad kam heim und hockte sich auf die Schwelle seiner Sakija. Die Diebe aber hielten bereits nach ihm Ausschau. Als sie seiner ansichtig wurden, eilten sie herbei und fragten: »Na, lieber Nachbar, hast du dein gestohlenes Gut wiederbekommen? Du tust uns wirklich leid.«

»Wie soll ich das gestohlene Gut zurückbekommen«, seufzte Mussil-Muchad traurig. »Setzt euch lieber zu mir! Ich will euch etwas zeigen.« Alle Nachbarn fanden sich ein. Mussil-Muchad legte die drei Knüppel vor sich auf die Erde und befahl: »He, Knüppel-Tückel, bleut die Diebe durch, die mir das Tischtuch, den Esel, die Mühlsteine und meine Goldstücke gestohlen haben! Tanzt so lange auf ihren Köpfen, bis sie mir all meine Habseligkeiten zurückbringen! Gerbt ihnen tüchtig das Fell, tark-mark, schlagt kräftig zu!«

Die Knüppel sprangen auf und begannen die Diebe zu verprügeln. Die wollten sich in ihren Sakijas verstecken, doch die Knüppel holten sie ein und prügelten sie grün und blau, bis sie Mussil-Muchad anflehten, sie von ihren unbarmherzigen Verfolgern zu befreien, und versprachen, das gestohlene Gut zurückzubringen. Mussil-Muchad aber sagte: »Solange nicht alles wieder in meinem Hause ist, lassen euch die Knüppel keine Ruhe!« Da gaben die Diebe zurück, was sie gestohlen hatten, und baten Mussil-Muchad: »Hab Erbarmen, liebster Nachbar, lass Gnade vor Recht ergehen!«

»Knüppel, haltet ein!« befahl Mussil-Muchad. Die Knüppel gehorchten, doch die Diebe waren so derb verprügelt, dass sie krank das Bett hüten mussten. Mussil-Muchad aber stellte die drei Knüppel in die Ecke und befahl: »Passt gut auf! Wenn sich ein Dieb in mein Haus schleicht, so schlagt ihn tot!«

Seither fürchteten die Diebe Mussil-Muchad, und er lebte mit seiner Frau und seinen Kindern glücklich und in Frieden.