[swahili, "Geschichte, Legende"]

Kulbai

Ob es nun so war oder nicht - es lebten einst drei Brüder. Der jüngste hieß Kulbai. Die älteren Brüder zwangen ihn Tag für Tag, mit dem Esel Brennholz aus dem Wald herbeizuschaffen. Eines Tages fand Kulbai auf dem Heimweg eine Nadel. Er hob sie auf und legte sie aufs Reisigbündel. Zu Hause lud Kulbai das Brennholz ab und begann unruhig etwas zu suchen. Fragten ihn die Brüder: »Was suchst du?«

»Ich hab auf dem Heimweg eine Nadel gefunden und sie aufs Holz gelegt. Nun kann ich sie nicht finden.« Die Brüder waren außer sich. »Möge deine Sakija einstürzen, wie kannst du eine Nadel auf ein Reisigbündel legen!«

»Wohin sonst?«

»Was heißt, wohin! Konntest du sie nicht an deinem Hemd feststecken?« Antwortete Kulbai: »Wenn ich noch einmal etwas finde, will ich euren Rat befolgen.«

Tags darauf fand Kulbai unterwegs eine Ahle. Er dachte an die Worte seiner Brüder, steckte sie sich ans Hemd und stach sich jämmerlich. Als er heimkehrte, bemerkten die Brüder Blutflecken auf Kulbais Hemd. Besorgt fragten die Brüder: »Was ist passiert?«

»Ihr habt doch gesagt: Steck sie an! Das hab ich getan.«

»Möge deine Sakija einstürzen! Wir hatten dir geraten, eine Nadel festzustecken, nicht aber eine Ahle! Konntest du sie nicht in einen Lappen wickeln und in die Hosentasche stecken?«

»Wenn ich noch einmal etwas finde, werde ich's tun«, entgegnete Kulbai kurz.

Am dritten Tag fand Kulbai ein Hundejunges. Er wickelte es in einen Lappen und verstaute es mit Mühe in der Hosentasche. Als er daheim das Brennholz ablud, zog er das Hündchen aus der Tasche. Das arme Tier jaulte kläglich. Es wäre in der engen Hosentasche fast erstickt. Als dies die Brüder sahen, waren sie empört. »Dummkopf! Das ist doch ein Hundejunges! Wo hast du jemals gesehen, dass man junge Hunde in der Hosentasche herumträgt? Hättest du ihm ein Stück Brot hingeworfen, wäre er dir freiwillig gefolgt. Oder du hättest ihn mit einem Strick dem Esel an den Schwanz binden können!«

»Wenn ich noch mal was finde, mach ich's bestimmt, wie ihr sagt.«

Am vierten Tag fand Kulbai einen großen Kessel. Da brach er ein Stück von seinem Maisfladen ab, warf ihn auf die Erde und rief lockend: »Nimm, nimm!« Doch der Kessel rührte sich nicht vom Fleck. Der Fladen ging zu Ende, aber der Kessel blieb bockig. Da nahm Kulbai einen Strick, band den Kessel dem Esel an den Schwanz, und ab ging's. Als der Weg bergab führte, rollte der Kessel dem Esel unter die Hufe, der scheute und ging durch. Bestürzt rief Kulbai: »Wohin willst du, störrischer Esel?« Und er rannte ihm hinterdrein. Der Esel aber, noch mehr erschreckt vom Scheppern des Kessels, schlug aus und jagte davon. Als er in den Hof raste, fanden sich sofort Neugierige ein. Nach einiger Zeit kam auch der verstörte Kulbai. Er griff zur Axt, hieb den Strick durch und schlug unbarmherzig auf den Kessel ein, bis er durchs Hoftor rollte. Verblüfft fragten die Brüder: »Kulbai, was treibst du da?«

»Was ich will, das treibe ich!« Kulbai wurde wütend. »Ihr lehrt mich allen möglichen Unsinn, und ich habe das Nachsehen! Hab den ganzen Maisfladen an diesen verfluchten Kessel verfüttert, aber der rührt sich nicht einmal! So hab ich ihn dem Esel an den Schwanz gebunden. Da stürzte er sich auf meinen Esel und jagte ihn davon. Gut, dass er ihn nicht einholen konnte. Am Ende hätte er ihn noch gefressen. Seht nur, wie er dem armen Tier die Läufe blutig gebissen hat!« Bekümmert riefen die Brüder: »Nein, was hat uns Allah nur für einen Bruder beschert! Wie kann man dem Esel einen Kessel an den Schwanz binden? Du hättest ihn auf das Reisigbündel binden und so mit nach Hause bringen sollen.«

»Schön, das nächste Mal mach ich's richtig.«

Kulbai zog auch am fünften Tag in den Wald. Da erblickte er an einem riesigen Baum einen vertrockneten Ast und machte sich daran, ihn herunterzuholen. In diesem Ast aber war ein Loch, in dem ein ganzer Bienenschwarm nistete. Als sich Kulbai an dem Ast zu schaffen machte, tropfte ihm der Honig ins Gesicht. »Was spuckst du hier rum!« schrie Kulbai aufgebracht und wollte den Baumstamm mit der Axt »belehren«. Die aufgeschreckten Bienen schwärmten aus dem Astloch und begannen Kulbai zu stechen. Kulbai dachte: Ein ganzes Heer ist über mich hergefallen, und er floh, von panischer Angst gepackt. Pfeilgeschwind lief er heim, stürzte in die Sakija und versperrte die Tür. Erstaunt fragten die Brüder: »Was ist geschehen, Kulbai? Warum versperrst du die Tür?«

»Seid still, ein Heer zieht gegen uns zu Felde! Versteckt euch!« Als die Brüder Kulbais Gesicht sahen, errieten sie sofort, was geschehen war. »Wo ist es denn, das Heer?«

»Ich hab im Wald einen Baum gefällt, da stürzte ein ganzes Heer heraus und fiel über mich her.« Lachend erwiderten die Brüder: »Zeige uns diesen Baum! Wir wollen das Heer vertreiben.«

»Bei Allah, das tu ich nicht«, erwiderte Kulbai. »Ich geh auch nicht mehr dorthin. Geht allein und vertreibt es!« Doch die Brüder überredeten Kulbai, ihnen den Baum zu zeigen. Wirklich, dort saß ein Bienenschwarm, und der Honig floss aus dem Astloch. Die Brüder entzündeten ein Feuer, verjagten mit dem Qualm die Bienen und sprachen zu Kulbai: »Wir gehen ein Gefäß holen, du aber paß auf den Honig auf und gib keinem etwas davon.«

Kaum waren die Brüder fort, schlich ein Fuchs herbei. Der Fuchs bat: »Kulbai, gib mir ein bisschen Honig.«

»Nein«, schrie Kulbai, »meine Brüder haben's mir verboten. Ich geb dir nichts. Wenn du willst, nimm dir selber.« Das Füchslein naschte sich satt und verschwand. Drauf erschien der Bär. »Kulbai, gib mir Honig! Ich hab solchen Hunger.«

»Ich geb dir nichts. Die Brüder haben's verboten. Wenn du willst, nimm dir selbst, bist ja groß genug.« Der Bär stillte seinen Hunger und fragte: »Kulbai, wenn ich zu dir nach Hause komme, während deine Brüder fort sind, gibst du mir dann auch von dem Honig?«

»Nimm dir selbst, ich geb nichts.« Der Bär trollte sich. Da der Bienenstock groß war, bemerkten die Brüder nicht, als sie zurückkamen, dass sich Fuchs und Bär bedient hatten. Sie füllten die Krüge und kehrten mit Kulbai heim.

Morgens wollten die Brüder auf den Basar. Streng wiesen sie Kulbai an: »Wir gehen auf den Basar, Honig verkaufen, du aber bleib hier und wache über den Rest! Gib keinem etwas davon.« Kaum hatten die Brüder dem Haus den Rücken gekehrt, da erschien der Bär. »Kulbai, gib mir Honig!«

»Ich hab doch gesagt, ich geb nichts. Die Brüder haben's verboten. Wenn du willst, tritt ein und nimm dir selber.« Als der Bär sich gesättigt hatte, fragte er: »Kulbai, wenn ich morgen komme, gibst du mir dann etwas?« Da wurde Kulbai wütend: »Wie oft soll ich's dir noch sagen! Ich geb nichts, also geb ich nichts!«

»Gut«, knurrte der Bär und trollte sich.

Als die Brüder vom Basar heimkehrten, sahen sie, dass der Honig abgenommen hatte. »Kulbai, wer hat hier Honig gegessen?« fragten die Brüder erregt. »Der Bär war hier«, entgegnete Kulbai ruhig. »Dachte, ich werd ihm Honig geben. Da ist er gerade an den Richtigen gekommen! Hab gesagt, ihr hättet's verboten. Wenn er unbedingt Honig wolle, soll er sich selber was nehmen.«

»Schön, Kulbai. Wenn der Bär morgen wiederkommt, lass ihn in die Sakija! Wir werden ihm das Fell über die Ohren ziehen.«

Tags darauf kam der Bär wieder. »Kulbai, gib mir Honig.«

»Ich geb dir nichts. Wenn du willst, nimm dir selber.« Kaum hatte der Bär die Schwelle überschritten, sagte Kulbai: »He, dort sitzen meine Brüder!« Der Bär wollte das Weite suchen, doch Kulbai rief ihm nach: »Ich hab doch nur einen Scherz gemacht, lieber Bär!« Der Bär war gekränkt. »Was sind das für Scherze. Ich hätte vor Schreck beinahe meine Seele aufgegeben!« Doch kaum hatte er die Sakija betreten, stürzten sich die Brüder mit ihren Dolchen auf ihn, schlitzten ihm den Leib auf, zogen ihm das Fell ab, hängten es zum Trocknen auf und legten sich schlafen.

Kulbai legte sich an die Wand, wo das Bärenfell hing. Die Blutstropfen aber, die vom Bärenfell rannen, fielen Kulbai direkt ins Gesicht. Erbost sprang Kulbai auf. »Was spuckst du herum! Weil sie dir den Bauch aufgeschlitzt haben, he? Hättest du weniger Honig geschleckt, wäre dein Leib heil geblieben!« Die Brüder baten: »Kulbai, hör auf mit deinem Gerede! Gib endlich Ruhe! Wir wollen schlafen.«

»Brauch ich vielleicht keine Ruhe? Seht, wie er spuckt.«

»Leg dich in die andere Ecke! Da wird dich keiner anspucken.« Kulbai tat, wie ihm geheißen.

Zwei Tage danach wurden die Brüder zu einer Hochzeit geladen. Bevor sie gingen, trugen sie Kulbai auf: »Hab acht, Bruder, wir gehen zur Hochzeit, lass Fenster und Tür nicht aus den Augen.« Nach einer Weile tauchte eine lärmende Kinderschar vor der Sakija auf. Die einen hielten Brot in den Händen, andere gekochtes Fleisch. »Wohin wollt ihr?« fragte Kulbai. »Aber Kulbai, weißt du nicht, dass im Aul Hochzeit ist? Sie verteilen dort Brot an alle, komm mit!« Kulbai griff zur Axt, schlug Türen und Fenster heraus, hängte sich die Tür wie ein Joch um den Hals, nahm die Fensterrahmen in beide Hände und eilte, mit seiner Bürde ein Riesengetöse verbreitend, zur Hochzeit. »Schaut, Kulbai kommt! Seht euch Kulbai an! Da schaut!« In dichtem Kreis umdrängten die Kinder Kulbai und schrieen vor Aufregung laut durcheinander. Kulbai aber, mit Tür und Fensterrahmen behängt, stürmte geradewegs zu den Kochtöpfen. Die baumelnden Fensterflügel verhakten sich an den Töpfen, sie stießen gegeneinander und stürzten ins Herdfeuer, über das sich Brühe und Pilaw in einer solchen Menge ergossen, dass der Herd alsbald wie ein Sumpfgelände aussah. Alle lachten aus vollem Halse. »Schaut nur, schaut, was Kulbai anstellt, nein, so ein Gaudium!« Die Brüder liefen herbei. »Möge deine Sakija einstürzen, du Tölpel, was hast du bloß wieder angerichtet?«

»Bei Allah, seid selber Tölpel, und was für welche!«

Kulbai war ernstlich gekränkt. »Habt ihr mir nicht aufgetragen, die Tür und die Fenster nicht aus den Augen zu lassen? Als die Kinder zur Hochzeit gingen, wollte ich gern mit. Wenn ich Tür und Fenster zurückgelassen hätte, wärt ihr sicher ärgerlich geworden. Was blieb mir also übrig, als sie mitzunehmen?« Die Hochzeitsgäste hielten sich die Bäuche vor Lachen, als sie den Streit hörten. Kulbais Brüder nahmen wortlos Tür und Fenster und gingen beschämt heim.

Nachts konnte Kulbai lange keine Ruhe finden. Plötzlich hörte er, wie die Brüder leise miteinander flüsterten. »Kulbai hat uns im ganzen Umkreis blamiert. Wenn er eingeschlafen ist, packen wir das Notdürftigste in einen Sack und machen uns fort.« Als die Brüder glaubten, dass Kulbai schliefe, erhoben sie sich leise, packten ihre Sachen und gingen in den Hof. Kulbai stand ebenfalls auf und schlüpfte in den Reisesack. Als die Brüder zurückkamen, packten sie noch dies und das in diesen Sack, knüpften ihn zu, luden ihn auf den Esel und sagten erleichtert: »Endlich sind wir diesen Kulbai los!« Dann machten sie sich auf den Weg.

Noch in derselben Nacht gelangten sie in einen Aul. Sie kamen an einem Laden vorbei. Die Tür stand offen. Doch keine Menschenseele war zu sehen. Sprachen die Brüder: »Wollen doch mal hineinschauen, da ist sicherlich Geld in der Kasse oder etwas anderes, was sich lohnt, mitzunehmen.« Da erklang Kulbais Stimme aus dem Sack. »Brüder, ich möchte auch in den Laden. Ich spüre meine Beine gar nicht mehr. Knüpft den Sack auf!« Vor Schreck ließen die Brüder den Sack fallen, und der Älteste stieß hervor: »Möge deine Sakija einstürzen! Wir dachten, wir sind dich los, dabei haben wir dich mitgenommen!«

»Ja, das habt ihr!« Sie befreiten Kulbai aus seiner misslichen Lage, betraten den Laden, nahmen verschiedene Waren, die Ladenkasse und gingen. Kulbai, der ihnen gefolgt war, schleppte ächzend einen Mühlstein. »Was schleppst du dich mit dem Stein? Wirf ihn fort!« rieten die Brüder. »Nie und nimmer! Wenn wir wieder daheim sind, werde ich in unserem Aul eine Mühle bauen. Da können die Leute bei mir ihr Korn mahlen lassen.«

»Wir gehn aber nicht nach Hause. Wirf den Stein fort! Schlepp dich nicht unnütz damit!«

»Egal, wohin wir gehen! Menschen gibt's überall, und Mehl wird immer gebraucht.« Die Brüder gaben den Streit auf und zogen weiter. Kulbai folgte ihnen mit dem Mühlstein auf dem Rücken.

Kaum hatten sie den Aul verlassen, da sahen sie eine Karawane, die ihnen entgegenkam. Die Brüder erschraken, versteckten den Esel im Gebüsch, kletterten auf einen Baum und riefen Kulbai. »Wirf den Stein fort! Komm auf den Baum, sonst fangen sie uns!«

»Ich werfe den Mühlstein nicht fort!« widersprach Kulbai und kletterte ächzend mit dem Mühlstein auf den Baum. Als die Karawane zu dem Baum kam, schlug der Besitzer, ein Kaufherr, vor: »Hier ist ein passender Rastplatz. Wir wollen etwas ausruhen.« Die Karawane stoppte, die Leute entfachten ein Feuer und begannen Essen zuzubereiten. Der Kaufherr ließ sich am Feuer nieder, streckte die Glieder und wärmte sich. Kulbai flüsterte seinen Brüdern zu: »Mir erlahmen die Arme, ich lass den Stein fallen.« Die Brüder erschraken: »Bloß nicht! Gib ihn her, wir halten ihn!« Kulbai aber erwiderte: »Ich hab den Mühlstein mitgeschleppt, ich lasse ihn auch fallen.« Und er warf den schweren Mühlstein hinunter. Er fiel dem Kaufherrn auf den Kopf. Der Suppentopf stürzte ins Feuer, so dass die Funken sprühten. »Allah hat einen Stein auf uns geworfen zur Strafe für unsere Sünden!« schrieen die Diener und stoben in alle Himmelsrichtungen auseinander. Nur der vom Mühlstein erschlagene Kaufherr blieb an der Feuerstelle zurück. Die Brüder warteten ein Weilchen.

Schließlich kletterten sie vom Baum. Sprach der Älteste: »Ohne Kulbai wären uns solche Reichtümer nie zugefallen. Vielleicht hätten wir ohne ihn gar unser Leben eingebüßt. So wollen wir uns fortan von ihm nicht trennen.« Die Brüder nahmen die Reichtümer des Kaufherrn an sich, kehrten in ihren Aul zurück, heirateten und sollen, wie man sich erzählt, gemeinsam in einem Haus wohnen und aus einer gemeinsamen Schüssel essen.