[swahili, "Geschichte, Legende"]

Jarty-gulak und der Zauberer

Eines Morgens wollte die Mutter mit Jarty-gulak aufs Feld gehen. Sie tranken eine Piale Tee und verzehrten einen Fladen, doch auf dem Teller blieb noch ein Fladen und ein Stückchen Schafskäse zurück. Jarty streckte schon die Hand danach aus, denn der Fladen war noch warm und locker. Jarty dachte bei sich: Wenn der Fladen zum Mittagsmahl bleibt, wird er hart und schmeckt nicht mehr so fein. Ich will ihn lieber gleich verzehren. Die Mutter legte dem Knaben ihre Hand auf die Schulter und sprach: »Weißt du, Jungchen, wir wollen Vater diesen Tschurek und den Käse aufs Feld mitnehmen. Er ist heute schon vor Sonnenaufgang aufgestanden und sicher sehr hungrig.« Der Tschurek blieb also auf dem Teller neben dem Käse liegen. Da tönte von der Straße, hinter dem Duwal, eine klagende Stimme: »Wur-cha-cha! Wur-cha-cha...!« Als die Mutter diesen Ruf vernahm, erbleichte sie. Sie sprang von der Koschma auf, nahm den Käse und den Tschurek und lief auf die Straße. »Edshe-dshan!« Der Knirps klammerte sich an den Saum ihres Kleides. »Weshalb trägst du den letzten Tschurek fort? Du wolltest ihn doch aufs Feld mitnehmen!« Doch die Mutter flüsterte ängstlich: »Schweig, Jungchen. Porchan ist es, der da so ruft. Er ist ein Heiliger. Heiligen aber geben alle Almosen.« Doch der Knabe gab sie nicht frei: »Ist denn der Porchan arm?«

»Wohin denkst du? Heilige sind niemals arm.«

»Dann ist er alt?«

»Nein, er wird nie alt.«

»Dann ist er also krank?«

»Wie kannst du nur so etwas denken, Jungchen! Heiligsein schützt vor Krankheit.« Also antwortete die alte Frau und eilte zur Pforte.

Doch Jarty war schneller: Er erreichte die Pforte noch vor ihr, sprang hoch, hängte sich an die Klinke und klammerte sich mit beiden Händchen fest. »Edshe-dshan!« flüsterte der Knirps. »Wenn der Porchan gesund und jung ist, weshalb gibst du ihm dann unseren letzten Fladen? Er ist kräftiger als du, er ist jünger als Vater und reicher als wir alle drei zusammen!« Die Worte erzürnten die alte Frau: »Ein unreifer Apfel schmeckt nicht, sagen die Leute. Du bist wie jener Apfel, mein Kind: Redest viel und weißt wenig! Der Porchan ist kein Mensch wie alle. Er ist ein Zauberer. Man darf ihn nicht kränken, dann wird er böse und schickt Unglück ins Haus.« Der Knabe verstand nicht: »Was für ein Unglück?« Die alte Frau erklärte ihm: »Der Porchan kann alles. Er braucht nur ein Wort zu sagen, und die bösen Geister, die Dshine, nisten sich in unserer Kibitka ein. Er braucht nur ein Wort zu sagen, damit wir an einer Krankheit sterben, du, ich und unser alter Vater. Er kann uns mit unseren Nachbarn entzweien, dann verlieren wir all unsere Freunde im Aul. Was aber ist ein Mensch ohne Freunde? Er ist wie ein junger Trieb in der Wüste: Die glühende Sonne lässt ihn verdorren, und keiner vermag ihn vor der brennenden Hitze zu schützen!«

Bei diesen Worten spuckte die alte Frau in alle vier Winde, auf dass der Zauberer sie für diese Worte nicht behexe, und lief hinaus. Jarty-gulak folgte ihr. Er sprang auf den Duwal, um zu beobachten, was sich auf der Straße zutrug. Dort zog eine große Menschenmenge entlang. Voran schritt ein kräftiger schwarzbärtiger Mann in einem langen sackartigen Gewand aus Kamelhaarwolle, das bis zur Erde reichte. Auf seinem Haupt leuchtete ein Riesenturban, und am Gürtel und am Hals prangten bunte Amulette, kleine Säckchen aus Teppichstoff mit roten und blauen Troddeln.

Frauen und Kinder eilten zum Zauberer und reichten ihm Almosen - einen Fladen, ein Bündel gedörrte Zuckermelonen, ein Huhn und eine Weinrebe. Der Porchan reckte seinen schwarzen Bart zum Himmel und rief mit eintönig singender Stimme: »He...he...he! Ich zähle am Himmel die Sterne, ich vertreibe auf Erden die bösen Geister, ich suche unter der Erde, was verloren ging! Bin Wahrsager, bin Weissager, vermag euch von allen Leiden zu befreien!« In diesem Augenblick sah Jarty, dass auch sein Fladen in dem riesigen Sack des Porchan verschwand. Er drohte dem Zauberer mit seiner kleinen Faust, sprang vom Duwal und rannte hinter der Menge her.

Am Ende der Straße wohnte der ehrenwerte und fleißige Bjaschim-aga. Der Zauberer näherte sich seinem Haus und pochte laut mit seinem langen Stecken ans Tor: »He-he! Bjaschim-aga! Das Unglück thront als schwarzer Rabe auf deinem Duwal! Wenn du nicht willst, dass es dein Haus betritt, so gib mir also gleich ein drei Tage altes Lämmlein oder einen halben Sack voll Gerste!« Das Tor tat sich auf, und der Hausherr ging dem Gast entgegen. Er verneigte sich tief vor dem Zauberer und führte den Gast in den Hof. Die Menge strömte hinterdrein, denn ein jeder wollte sehen, wie der heilige Porchan die bösen Geister aus Bjaschims Haus vertreiben würde. Jarty-gulak war natürlich mitten unter ihnen.

Der Hausherr breitete im Hof seinen besten Teppich aus. Der Zauberer sprang darauf, begann mit den Armen zu fuchteln und sich auf der Stelle zu drehen. Er schrie, so laut er vermochte, und rief die guten Geister an: »Wur-cha-cha-a! Meine Geister, die ihr in den Tälern wohnt! Meine Peri, die ihr über die Berge fliegt! Meine Dewe, die ihr euch im Schöße der Erde verborgen haltet! Eilet herbei! Kommt her zu mir!« Er schrie immer lauter und drehte sich immer rascher im Kreise. Er schüchterte die Menschen mit seinen Rufen ein, so dass viele vom Hofe flüchteten, die blieben, vermochten sich nicht von der Stelle zu rühren. »Auf die Knie!« schrie der Zauberer mit schrecklicher Stimme und hob beschwörend die Arme. »Schließet die Augen! Die Dshine sind hier! Ich sehe sie, sie nahen sich uns!«

Die Menschen fielen auf die Knie und kniffen die Augen zu, doch Jarty-gulak tat es ihnen nicht nach. Er beobachtete vielmehr alles aus weit geöffneten Augen, denn er wollte zu gern die guten Dshine sehen, die gleich mit den bösen Dshinen kämpfen würden, welche, ohne zu fragen, ins Haus des ehrenwerten Bjaschims eingedrungen waren. »Du stehst nun vor mir, großer, allmächtiger Dshin!« schrie der Porchan so laut, dass es über den Hof hallte. »Mit einer Hand hebst du Berge an, mit einem Finger vermagst du einen Menschen zu töten!« Die Menschen lagen auf der Erde, sie fürchteten, die Augen zu dem schrecklichen Dshin zu erheben, doch Jarty-gulak konnte nichts gewahren, so sehr er sich auch anstrengte, und dies, obwohl er bereits auf dem Turban des Porchan saß. »Gleich werdet ihr es vernehmen...« Der Porchan fuhr fort, das Volk einzuschüchtern. Doch da ertönte aus dem riesigen Turban des Zauberers ein helles durchdringendes Piepsen: »Hier ist ja überhaupt kein Dshin! Glaubt dem unverschämten Porchan nicht! Er ist ein Lügner und Betrüger!«

Alle sprangen auf und sahen, dass in der Tat weit und breit keine Spur von einem Dshin war! Der Porchan erschrak. Er erschrak so sehr, dass er ohne ein weiteres Wort seinen Sack nahm und Hals über Kopf vom Hofe rannte. Er lief die Straße entlang und hielt sich die Ohren zu, dennoch vernahm er, wie die Menschen ihm nachriefen: »Er ist ein Lügner und Betrüger! Hier ist überhaupt kein Dshin!« Mag das Volk rufen, du aber höre, was dem Porchan nun widerfuhr. Der Zauberer wusste nicht, was da geschehen war. Wäre es ein Feind gewesen, der da gerufen hatte, so hätte er ihn gesehen. Aber die Stimme war nicht vom Hof und nicht von der Straße erklungen, sondern aus dem Turban des Porchan. Als er weit genug von Bjaschim-agas Haus war, blieb er stehen, um sich von dem raschen Laufen zu verschnaufen, doch miteins ertönte aus seinem ureigenen Bart abermals die helle Stimme: »Betrüger, gib alles zurück, was du gestohlen hast!« Der Porchan sprang auf, als habe ihn ein Skorpion oder eine Giftschlange gebissen und rannte zu seinem Haus. Er stürzte in die Kibitka und fiel erschöpft auf den Teppich.

Doch auch daheim fand der Bösewicht keine Ruhe. Mittlerweile war es Mittag geworden. Seine Frau stellte dem Porchan eine große Schüssel fetten Pilaw hin: Auf dem Reis lagen zarte Stückchen Hühnerfleisch, und der würzige Duft der grünen Zwiebeln stieg einem appetitlich in die Nase. Die weißen lockeren Tschureks glänzten vor Fett. Auch so eine leckere Schurpa hatte Jarty-gulak noch niemals gesehen. Neben dem Kasan mit der Suppe lagen auf einer Platte saftige Fleischstückchen mit Knoblauch und Mohrrüben verziert, und darauf prangten frische Aprikosenscheiben. Dem Porchan lief das Wasser im Munde zusammen.

Er hatte seit dem frühen Morgen nichts mehr zu sich genommen und verspürte großen Hunger, doch gerade als er mit den Fingern kunstvoll ein Häuflein Reis nehmen wollte, ertönte unter dem Tischtuch eine Stimme: »Halt ein! Gib sofort das fremde Gut heraus, du Dieb! Sonst bleibt dir der Bissen im Halse stecken!« Entsetzt stieß der Porchan die Platte zurück und warf sich aufs Bett. Doch auch beim Schlaf sollte er keine Ruhe finden. Kaum hatte er die Augen geschlossen, da summte diese aufdringliche Stimme ihm ins Ohr: »Gib es zurück, gib alles zurück, gib sofort zurück, was du guten Menschen gestohlen hast, du gewissenloser Betrüger!« Der Zauberer zog sich die Decke über die Ohren, doch auch das half ihm nicht: Jemand zerrte ihn am Bart: »Wach auf! Wenn du das Geraubte nicht zurückgibst, so will ich dich so zurichten, dass du dich im Aul nicht mehr blicken lassen kannst!« Der Porchan sprang auf und wollte aus dem Haus flüchten. Er griff nach den Stiefeln, doch da hopste ein Stiefel vor ihm her und brach in lautes Lachen aus. Er wollte in den Chalat schlüpfen, doch der kroch von ihm fort wie eine Schlange. Da begann der Porchan zu weinen. »Ob du nun weinst oder nicht, es hilft dir nicht, du musst schon deine Schuld sühnen, oder es wird dir übel ergehen!« tönte die Stimme aus dem Gürtel des Zauberers. Der stopfte sich die Finger in die Ohren, um nichts mehr zu hören, und rannte in den Hof.

Im Hofe des Porchan aber werkten Daichane. So war es nun einmal Brauch im Aul, dass der Zauberer selbst keinerlei Arbeit verrichtete, an jedem Morgen aber kamen die Armen, um ihm zu helfen. An diesem Tag breiteten sie auf dem Dach Kischmisch zum Trocknen aus. Als sie den Hausherrn sahen, brachen sie in lautes Gelächter aus. »Ihr Unseligen! Was lacht ihr?« Der Porchan war wütend. Doch die Bauern lachten nur noch lauter. Der Porchan hub an, sie zu verfluchen.

Der Lärm trieb sein Weib aus dem Haus. Die schlug die Hände entsetzt über dem Kopf zusammen: »Was für eine Schande, Mann! Was hast du mit deinem Bart getan?« Der Zauberer fasste sich an den Bart, hielt jedoch verzweifelt inne: Eine Hälfte war abgeschnitten. »Wach!« Verzweifelt heulte der Porchan auf. »Mein Lebtag habe ich die Daichane mit bösen Geistern eingeschüchtert und habe selbst niemals an sie geglaubt. Doch heute sehe ich, dass sie sich in meinem eigenen Haus eingenistet haben!« Er fiel vor den Daichanen auf die Knie und gab ihnen sein Wort, das Volk fortan nicht mehr zu betrügen und den Armen alles zurückzugeben, was er ihnen in vielen Jahren gestohlen hatte, wenn ihn die bösen Geister nur in Ruhe lassen wollten!

Der hurtige Jarty hüpfte unbemerkt vom Hof des Porchan und schlenderte gemächlich heim, dabei sang er sein fröhliches Liedchen: »Bin klein aber mutig,
Am hurtigsten von allen bin ich.«
Kaum hatte er seinen Hof betreten und sein Liedchen zu Ende gesungen, da pochte jemand ans Tor. Die Mutter öffnete. »Hier, nimm deinen Tschurek zurück!« ertönte eine klägliche Stimme. »Nimm ihn um aller Geister willen, der bösen und der guten. Errette mich von den Dshinen!« Also sprach der Porchan, denn er war es, der da angeklopft hatte, und gab der Mutter den Tschurek mitsamt dem Käse zurück. Die Mutter war zutiefst verblüfft. Der Porchan ging von dannen. Jarty-gulak aber lachte ausgelassen.