[swahili, "Geschichte, Legende"]

Halbhühnchen

Ein Mann besaß viele Hühner. Darunter war eins verkrüppelt. Es besaß nur einen Flügel, ein Auge, einen halben Kamm und ein Bein. Deshalb riefen es alle »Halbhühnchen«. Die anderen Hühner auf dem Hühnerhof trieben ihren Spott mit ihm. Oft ließen sie es nicht einmal an den Futternapf. Bisweilen verprügelten sie es sogar. Halbhühnchen dachte bei sich: Ehe ich so weiterlebe, will ich lieber von dannen gehen und mein Glück versuchen. Mühselig gelangte es aufs Feld, pickte den lieben langen Tag Körner und hatte gegen Abend einen halben Sack beisammen. Tags darauf säte es die Körner aus. Wenn es eine gute Ernte wird, dann stehe ich gar nicht schlecht da, überlegte Halbhühnchen und wurde ein wenig fröhlicher. Eines Tages fielen die Pferde des Khans über sein Feld her und zerstampften die Saaten. Halbhühnchen jagte die Pferde vom Feld und trieb sie zum Khan. Unterwegs verspürte es einen Mordshunger. Als Halbhühnchen einem Fuchs begegnete, verschlang es ihn mit Haut und Haaren. Da es jedoch noch nicht gesättigt war, fraß es kurzerhand noch einen Wolf, der ihm begegnete. Nun war Halbhühnchens größter Hunger gestillt. Es bekam Durst, ging zu einem See und trank ihn bis auf den letzten Tropfen leer. Dann trieb es die Pferde auf den Hof des Khans. »Was hat das zu bedeuten? Woher kommst du?« fragte der Wesir. »Mit dir hab ich nichts zu schaffen, Nichtswürdiger, rufe den Khan!« Der Wesir rief den Khan. »Wegen dieses elenden Geschöpfs hast du meine Ruhe gestört?« Der Khan war empört. Halbhühnchen schnarrte erbost: »Dein Geschrei rührt mich nicht! Ersetze mir umgehend meinen Schaden!«

Drauf befahl der Khan: »In den Gänsestall mit der Missgeburt! Die Tiere werden sie über Nacht in Stücke reißen!« Halbhühnchen wurde zu den Gänsen geworfen, doch es spie den Fuchs aus. Der würgte alle Gänse, vertilgte sie und machte sich aus dem Staub. Am nächsten Morgen, als der Gänsehirt in den Stall blickte, sah er Halbhühnchen in einen Winkel gekauert. Von den Gänsen aber waren nur die gerupften Federn geblieben. Der Hirte lief zum Wesir, der zum Khan. Bitterböse befahl der Khan: »Werft das Vieh den Pferden vor! Sie werden es zerstampfen!« Die Bediensteten warfen Halbhühnchen in den Pferdestall. Dort war es sehr eng. Halbhühnchen dachte: Am Ende zertrampeln mich die Pferde noch, und spie den Wolf aus. Der riss alle Pferde und lief davon. Morgens schaute der Pferdeknecht in den Stall, erblickte die gerissenen Pferde und lief zum Wesir, der Wesir zum Khan. »Alle Pferde sind tot. Halbhühnchen aber sitzt wohlbehalten im Stall!« Da wurde der Khan noch zorniger. »Verbrennt das Scheusal!« Die Bediensteten heizten den Ofen an und schoben Halbhühnchen auf die glühenden Kohlen. Da spie es ein wenig Wasser aus dem See aus und übergoss damit das Feuer. Die Flamme versengte ihm keine Feder. Halbhühnchen fror vielmehr ganz jämmerlich.

Nun sind wir endlich das Huhn los, dachte der böse Khan und blickte in den Ofen. Da fuhr Halbhühnchen auf ihn los, hackte ihm erst ein Auge aus und verschlang ihn dann mit Haut und Haaren. Anschließend machte sich Halbhühnchen allen Reichtum des Khans zu Eigen und trieb den Wesir vor sich her. Auf dem Heimweg wiederholte es ständig: »Nun mögt ihr mich hänseln, soviel ihr wollt!«