[swahili, "Geschichte, Legende"]

Gut und Böse

Jungen Eheleuten wurde ein Sohn geboren. Es war ein stilles und sanftes Knäblein. Als er sieben Jahre alt war trug sich folgende Geschichte zu. In der Nachbarschaft lebte ein Mann, der sich gar zu gern groß tat. Auf der ganzen Welt gibt es keinen Klügeren als mich, pflegte er von sich zu sagen. Einmal stieß er beim Graben auf eine Truhe in der Erde. Er betrachtete sie von allen Seiten und versuchte vergeblich sie zu öffnen. Wahrscheinlich ist in ihr ein Goldschatz verborgen, dachte der Prahler bei sich. Er zerschlug das schloss. Als er vorsichtig den Deckel anhob, glitt eine Schlange hervor und wand sich um des Prahlers Hals. Sie zischelte bösartig, zeigte ihren Giftzahn und blähte sich fürchterlich. »Schlange, ich habe dich befreit und eine gute Tat vollbracht«, flehte der Prahler, »du aber vergiltst Gutes mit Bösem - willst mich erwürgen.«

»Das hat man mich stets gelehrt«, gab die Schlange mit Menschenstimme zur Antwort. Sie stritten lange, wer Recht habe von ihnen und wer nicht, konnten sich jedoch nicht einig werden.

Just in diesem Augenblick zog eine Kamelkarawane vorbei. Fragte der Prahler das älteste der Tiere: »Sag, Kamel, darf man Gutes mit Bösem vergelten?«

»Ja«, nuschelte das Kamel mit zahnlosem Maul. »Alle Kamele, die vor mir herziehen, sind meine Söhne und Enkel. Ich habe sie alle aufgezogen. Nun aber, da ich alt bin und mich kaum fortbewegen kann, wollen sie mich allein und hilflos in der Wüste zurücklassen. Ist das etwa eine gute Tat?«

»Du hörst es«, zischte die Schlange und wand sich noch fester um des Prahlers Hals. »Wart noch ein Weilchen, wir wollen noch andere befragen«, flehte der Prahler.

Sie zogen weiter. Unterwegs gelangten sie an einen großen verdorrten Maulbeerbaum. Der Prahler blieb stehen und fragte: »He, Baum! Du hast viel erlebt und viel gesehen in deinem Leben. Sprich, darf man Gutes mit Bösem vergelten?«

»Ja«, knarrte der Maulbeerbaum. »Jahrelang habe ich allen Lebewesen Schatten gespendet, und die Seidenspinner fraßen mein saftiges Laub. Mein Herr ist reich geworden durch Puppen und Seide. Doch jetzt will er mich absägen und als Brennholz verfeuern. Darf man auf diese Weise Gutes vergelten?«

»Hörst du es wohl?« zischte die Schlange, und ihr Würgegriff wurde fester. »Wart, Schlange, wart«, bat abermals der Prahler. »Wir wollen noch jemanden fragen.«

Sie zogen weiter. Da begegneten ihnen Kinder. Als sie die Schlange sahen, die sich um den Hals des Alten geringelt hatte, vergaßen sie ihr Spiel und flüchteten. Nur der siebenjährige Sohn der jungen Eheleute blieb zurück. Der Prahler trat zu ihm und fragte: »Sprich du, mein Kind, darf man Gutes mit Bösem vergelten?«

»Ach, Vater«, erwiderte der Knabe, »man soll nicht nach Gut oder Böse fragen. Erzähle mir lieber, was trägst du da um den Hals?«

»Ich habe gegraben«, hub der Prahler an, »und bin auf eine Truhe gestoßen. Ich dachte, ein Schatz sei in ihr verborgen, doch als ich den Deckel öffnete, glitt eine Schlange heraus und ringelte sich mir um den Hals. Jetzt gibt sie mich nicht frei und will mich erwürgen, weil ich ihr Gutes tat.«

Der Knabe war erstaunt: »Ach, du sprichst sicher nicht die Wahrheit. Findet so eine große Schlange etwa Platz in einer Truhe?«

»Doch, wirklich«, suchte der Prahler den Knaben zu überzeugen, »sie lag in dieser Truhe.«

»He, Schlange«, fragte der Knabe, »stimmt es, dass du, groß wie du bist, in einer Truhe Platz fandest?«

»Ja, natürlich«, zischte die Schlange. »Das kann nicht sein«, erwiderte der Knabe ungläubig. »Wenn du es nicht glaubst, so schau her«, zischte die Schlange, glitt vom Hals des Prahlers, fuhr durch die Luft und glitt in die Truhe, nur ihr Kopf schaute noch heraus. »Haha, der Kopf aber hat keinen Platz!« triumphierte der Knabe. »Und wie der Platz hat«, zischte die Schlange und zog den Kopf ein. Im selben Augenblick schlug der Knabe den Truhendeckel zu, drehte den Schlüssel im schloss um und fragte den glücklichen Prahler: »Vater, hattest du selbst die Truhe dort versteckt, wo du sie gefunden hast?«

»Nein.«

»Wenn du sie nicht selbst versteckt hast, so hättest du dich des Sprichworts erinnern müssen: Nimm nie Dinge, die du nicht selbst fortgelegt hast. Jetzt musst du die Truhe dorthin tragen, wo sie gestanden hat.« Den Prahler erstaunte die Klugheit des Kindes, und er dankte ihm aus vollem Herzen für seine Rettung. Die Truhe vergrub er an dem Ort, wo er sie gefunden hatte, und versuchte niemals mehr sich groß zu tun.