[swahili, "Geschichte, Legende"]

Gunsari

Ob er nun lebte oder nicht: Es war einmal ein Khan, der besaß einen Sohn. Eines Tages sprach der Khan zu ihm: »Wachse auf, mein Sohn, und wenn du groß bist, will ich dich mit Gunsari vermählen.« Als der Sohn des Khans erwachsen war, brachte man die Braut ins Haus. »Sei gegrüßt, Gunsari!« Der Sohn des Khans war aufs höchste erfreut. »Warum bist du nicht eher gekommen?« Das Mädchen antwortete: »Ich bin nicht Gunsari, ich heiße Chalun.« Da wurde der Sohn des Khans tief betrübt. »Vater, du hast gesagt, dass du mich mit Gunsari vermählst und nicht mit Chalun.«

»Das war nur ein Märchen, mein Sohn«, entgegnete der Vater. »Gunsari bedeutet das, was uns unerreichbar ist. Gunsari ist jung und schön, und sie regiert schon tausend Jahre ihr Khanat, doch keiner hat sie je von Angesicht geschaut. Vergiß Gunsari! Deine Frau soll Chalun sein.« Doch der Sohn des Khans hatte so lange von Gunsari geträumt, dass er an keine andere denken mochte. Schließlich sprach der Wesir des Khan, der sich inzwischen in Chalun verliebt hatte: »Großer Khan! Euer Sohn wird zugrunde gehen vor Sehnsucht nach Gunsari. Lass mich mit ihm ziehen! Ich will ihm helfen, Gunsari zu finden.«

Ob nah oder fern, der Sohn des Khans und sein Wesir ritten durch den Aul Tanussi hoch in den Bergen und durch den Aul Charassi tief im Tal, sie ritten an Bergen vorbei und kamen in den fremden Aul Sai, sie setzten über die Flüsse In und Din, ritten lange durch einen Wald und gelangten an das Ufer eines Sees, der statt mit Wasser mit Milch gefüllt war. »Es kann nicht sein, dass an diesem See keine Wunderdinge geschehen«, meinte der Wesir und schlug vor: »Wir wollen uns hier verstecken.« Der junge Khan und der Wesir verbargen sich hinter einem Strauch und sahen, wie drei Vögel herbei flogen. Sie warfen ihr Gefieder ab, verwandelten sich in liebliche Jungfrauen und badeten im See. Eines der Mädchen blieb am Ufer stehen. »Warum kommst du nicht, Gunsari?« fragten die anderen Mädchen. Gunsari war erzürnt. »Haben wir deshalb die Vogelsprache gegen die Menschensprache getauscht, dass ihr mich beim Namen nennt? In diesem See wird mein Wille nun nicht mehr allmächtig sein.« Sie warf das Vogelgefieder ab, und von ihrer Schönheit erstrahlte rundum alles in so blendendem Licht, als brächen Sonnenstrahlen durch Waldesdickicht. Der Sohn des Khans trat aus seinem Versteck und nahm das Vogelgefieder. Da erschrak Gunsari. »Nun ist mein Wille gebrochen!« Wie inständig sie den jungen Khan auch bat, ihr das Federkleid zurückzugeben, er verweigerte es ihr. »Ich geb's nicht her, bis du mir versprichst, dass du mich heiratest.«

»Gut«, erwiderte Gunsari, »ich verspreche es dir. Lass mich aber bis zum Neumond in mein Khanat. Bis dahin sollen sich meine Untertanen eine andere Gunsari wählen.« Der Sohn des Khans reichte Gunsari ihr Federgewand, und sie flog davon.

Heimgekehrt, erzählte er seinem Vater alles, und als sich der Neumond näherte, ging er wieder auf die Reise. Der Khan gab dem Sohn als Begleiter seinen Wesir mit auf den Weg. Als Chalun erfuhr, wohin sie sich aufmachten, überreichte sie dem Wesir eine Nadel, die die Kraft hatte, einzuschläfern. Der Sohn des Khans und der Wesir ritten durch einen Aul hoch in den Bergen und vorbei an einem Aul tief unten im Tal, und schließlich gelangten sie an den See, der statt mit Wasser mit Milch gefüllt war. Hier steckte der Wesir seinem Begleiter unbemerkt die Nadel ins Gewand, und der junge Khan schlummerte sofort ein. Gunsari flog herbei und bat den Wesir, er möge den jungen Khan wecken. Der Wesir rief seinen Herrn, doch der erwachte nicht. Gunsari badete mit ihren Freundinnen im milchweißen See und ersuchte den Wesir dann erneut, den jungen Khan zu wecken. Der Wesir stieß seinen Herrn an, doch der erwachte nicht. Da wurde Gunsari traurig. »Sage deinem Herrn, er möge Trauerkleider anlegen, denn er wird mich nicht wieder sehen. Wenn er heimkommt zu seinem Vater, möge er mit seinem Schwert die Schnur, dick wie ein Strick, durchtrennen und das Portal spalten.« Damit flog Gunsari davon.

Der Wesir zog die Nadel aus dem Gewand seines Gebieters, und der junge Khan erwachte. »War Gunsari hier?« fragte er. »Ja, aber du warst nicht wach zu bekommen«, erwiderte der Wesir. »Was hat Gunsari gesagt?« wollte der junge Khan wissen. »Sie sagte, du mögest Trauerkleider anlegen, denn du wirst sie nicht wieder sehen.«

»Sonst hat Gunsari nichts gesagt?« bedrängte der junge Khan den Wesir. »Sie sagte, du sollst die Schnur, dick wie ein Strick, in deinem Palast mit dem Schwert durchtrennen und das Portal spalten.« Da zog der junge Khan sein Schwert und rief: »Du bist das Portal meines Palastes!« Und er streckte den Wesir nieder. Daheim sprach er zu Chalun: »Du bist die Schnur, dick wie ein Strick, in meinem Palast!« Und er schlug auch sie mit seinem Schwert nieder. Als der Sohn des Khans seinem Vater erzählte, was sich unterwegs zugetragen hatte, meinte jener: »Es ist dir also nicht beschieden, Gunsari heimzuführen. Vergiß das Mädchen, mein Sohn!« Doch der junge Khan konnte die schöne Gunsari nicht vergessen und machte sich wieder auf den Weg. Diesmal nahm er jedoch keinen Wesir des Vaters mit, sondern seinen besten Freund.

Ob nah oder fern, sie ritten zu zweit, der junge Khan und sein Freund, nur mussten sie diesmal einen viel weiteren Weg zurücklegen als bis zum Fluss In und zum Fluss Din. Den See aber, der statt mit Wasser mit Milch gefüllt war, bekamen sie nicht zu Gesicht. Hinter fernen Bergen stießen sie endlich auf eine Sakija. Dort fanden sie im Gästezimmer Essen und Trinken, und für müde Gäste standen weiche Betten bereit, nur Menschen wohnten hier nicht. Meinte der Sohn des Khan: »Es ist ein Haus wie jedes andere. Also gibt es keine Wunder mehr! Der Hausherr ist fort. Nur seine Achtung gegenüber Gästen hat er zurückgelassen. Wollen wir ihm dafür unseren Dank abstatten.« Der Sohn des Khans und sein Freund nahmen das Nachtmahl zu sich und begaben sich zur Ruhe. Der Freund des jungen Khan aber war ein echter Freund: Er schloss nur die Lider, schlief jedoch nicht ein.

Um Mitternacht hörte er, wie im Nebenzimmer die Fensterläden knarrten und die Tür zur Wand sprach: »Sind wir heute nicht allein, Vater?«

»Nein, wir haben Gäste, mein Kind, es ist der junge Khan mit seinem Freund.«

»Wohin wollen sie?« fragte die Tür. »Sie suchen, was nicht zu erreichen ist, Gunsari, die schon tausend Jahre lebt und nicht alt wird.«

»Gunsari, das ist eine Schale, aus der man trinkt, nicht wahr, Vater?«

»Nein, mein Kind, Gunsari ist eine liebliche Jungfrau.«

»Kann man ihnen nicht helfen, Gunsari zu finden?«

»Man kann es, mein Kind, doch dazu muss man ein Held sein. Man muss den Gipfel unseres Berges, den man hoch zu Ross nicht bezwingen kann, mit dem Pferd erklimmen, und man muss den Abstieg zum Meer, der hoch zu Ross nicht möglich ist, dennoch mit dem Pferd bewältigen. Am Meeresstrand muss man unter einem Felsen eine Peitsche hervorziehen und sich einen Weg durchs Meer bahnen. Nur auf diesem Wege ist Gunsari zu finden.«

»Warum können wir unseren Gästen nichts von diesem Weg sagen, Vater?«

»Wer etwas sagt, mein Kind, der verdorrt wie ein Baum und wird zu Stein wie ein Felsen.« Seufzte die Tür und flüsterte: »So wollen wir denn schweigen, Vater.« Der Freund des jungen Khans lauschte weiter, doch im Vorzimmer blieb alles still.

Morgens fragte er den Sohn des Khan: »Ist heute Nacht keiner hier gewesen? Ist nichts passiert?«

»Nein«, entgegnete der Sohn des Khan. »Ich habe so fest wie du geschlafen. Nichts ist passiert.« Der Sohn des Khans und sein Freund frühstückten und zogen ihres Weges. Als sie den Steilhang erreichten, hielt der junge Khan mutlos sein Ross an, doch der Freund sprach: »Warum sollen wir diesen Berg nicht bezwingen?« Er sprang vom Pferd, packte es beim Schwanz und erklomm so den Berg. Der Sohn des Khans lachte und tat es ihm nach. Vom Bergesgipfel erblickten sie das Meer. Da nahmen die Freunde ihre Pferde am Zügel und ließen sich den Berg hinab gleiten, nicht hoch zu Ross und auch nicht zu Fuß. Unter dem Felsen fand der Freund des jungen Khans die Peitsche und schlug aufs Wasser. Das Meer bildete eine schmale Furt, und die Freunde ritten auf dem Pfad, der zu Gunsari führte. In Gunsaris Reich war alles schwarz und tot, als habe hier ein Feuer gewütet. Doch kaum erblickte der junge Khan Gunsari und schloss das Mädchen in seine Arme, da wurde es rundum hell, und alles - Fluren und Städte - erblühte in paradiesischer Schönheit. Freudig empfing Gunsari ihren Herzallerliebsten, und das Volk freute sich mit ihr.

Der Sohn des Khans nahm Gunsari auf sein Ross und führte sie in sein Khanat. Als sie den Berg hinter sich gelassen hatten, der keinen Aufstieg und keinen Abstieg aufwies, und die Sakija mit den sprechenden Wänden erreichten, erwartete ein frisch gedeckter Tisch mit leckeren Speisen und erfrischenden Getränken die Gäste und frischbezogene Betten die Müden. Um Mitternacht, als der junge Khan und seine Herzallerliebste längst eingeschlafen waren, vernahm der Freund, wie plötzlich die Tür quietschte und eine Unterhaltung mit der Wand begann. »Sind wir heute nicht allein, Vater?«

»Nein, mein Kind, wir haben Gäste, den jungen Khan und Gunsari.«

»Du sagtest doch, Gunsari ist das, was man nicht zu erlangen vermag.«

»Wenn der Khan sie auch gefunden hat, so ist ihm dennoch kein langes Leben beschieden.«

»Wie das, mein Vater?«

»Der junge Khan reitet mit Gunsari zusammen auf einem Ross. Wenn er sich dem Palast nähert, wird ihm der Vater ein zweites Ross zuführen. Das aber bringt dem jungen Khan den Tod.«

»Kann man ihn nicht retten, Vater?«

»Nein, mein Kind. Selbst wenn er gerettet würde, um Mitternacht nach der Hochzeit erscheint der Ashdacha und bringt den jungen Khan und Gunsari um.«

»Warum können wir den Gästen nichts sagen, mein Vater?«

»Wer ihnen etwas sagt, der verdorrt wie ein Baum und wird zu Stein wie ein Felsen.«

Morgens fragte der Freund den jungen Khan: »War keiner bei uns heute Nacht? Ist nichts passiert?«

»Ich bin eingeschlafen mit dem Gedanken an Gunsari«, erwiderte der junge Khan. »Sie ist bei uns, was kann uns Böses geschehen?« Gunsari, der Sohn des Khans und sein treuer Freund machten sich wieder auf den Weg. Ob sie nun weit ritten oder nicht - der Sohn des Khans hätte sein Leben lang mit Gunsari unterwegs sein mögen. Als sie sich endlich dem Palast näherten, freuten sich alle Einwohner, und der alte Khan befahl, das schönste Ross aus dem Stall zu führen, auf dass sein Sohn in allen Ehren heimkehre. Doch als sich der junge Khan in den Sattel schwingen wollte, zog der Freund das Schwert und tötete das Pferd. Das versetzte den alten Khan in höchsten Zorn, er hätte den Freund seines Sohnes auf der Stelle hinrichten lassen, doch der Sohn bat: »Verzeih ihm, Gunsari zuliebe!« Der Khan verzieh zwar dem Freund, doch er verbannte den Begnadigten aus seinem Reich. Der Freund befolgte jedoch nicht das Gebot und versteckte sich im Palast des Khans. Am Hochzeitstag stahl er sich in das Gemach des jungen Paares und verbarg sich hinter dem Bettvorhang. Um Mitternacht, als der junge Khan und Gunsari einschlummerten, erschien der böse Ashdacha. Der Freund des Khans zog sein Schwert und schlug dem Drachen den Kopf ab. Den Leichnam versteckte er hinter dem Bettvorhang und beseitigte die Blutspuren. Nur auf Gunsaris Wange glühte noch ein einzelner Blutstropfen. Der Jüngling wusste nicht, wie er den Fleck unbemerkt beseitigen sollte, und leckte ihn kurz entschlossen mit seiner Zunge ab. In diesem Augenblick erwachte der junge Khan, und da er glaubte, sein Freund küsse Gunsari, zog er das Schwert. Der Jüngling konnte jedoch entfliehen und versteckte sich im Pferdestall.

Morgens kam die Frau des Pferdeknechts zu ihrem Mann, erblickte den Freund des jungen Khans und erschrak. »Fort!« flehte sie. »Du bist beim Khan in Ungnade gefallen, und er wird alle hinrichten, die dich verbergen.«

»Besser als Freund hingerichtet denn als Feigling leben«, meinte der Pferdeknecht. »So mag es geschehen«, willigte sein Weib ein, »doch ich begreife das Unbegreifliche nicht. Dshigit, erzähle, warum hast du das Ross deines Freundes getötet?« Da erzählte der Freund des jungen Khans seine Geschichte und spürte plötzlich, dass sein Körper anfing zu verdorren wie ein Baum und zu versteinern wie ein Felsen. Der Pferdeknecht schrie: »Ruft den Sohn des Khan! Sein Freund hat ihm stets in Treue gedient!« Der Sohn des Khans eilte herbei, mit ihm Gunsari und der alte Khan. Als der junge Khan vernahm, dass ihm der Freund das Leben gerettet hatte, indem er sein Ross erschlug, wurde ihm warm ums Herz. Doch seine Augen konnten nicht vergessen, wie die Lippen des Freundes Gunsaris Wange berührt hatten. Da erzählte der Freund von dem Geheimnis, das aus dem sprechenden Zimmer an sein Ohr gedrungen war, und von dem Ashdacha, den er wegen dieses Geheimnisses erschlagen hatte. Während er die Worte des sprechenden Zimmers preisgab, spürte er, wie er von den Füßen bis zum Gürtel zu Stein wurde, und während er von dem Ashdacha sprach, verwandelte er sich bis unter die Haarwurzeln zu einem Felsen.

Lange trauerten der junge Khan und Gunsari um ihren treuen Freund, doch so groß ihre Trauer auch war, sie vermochten ihn nicht zu erlösen. Die Zeit verging, und Gunsari gebar einen Knaben, den treuen Freund ihres Mannes aber konnte sie nicht vergessen. Eines Tages träumte sie, dass sie, der junge Khan und ihr Sohn am Rande des Khanats in eine Sakija gerieten. Gegen Mitternacht vernahm sie, wie die Fensterläden knarrten und die Tür zur Wand sprach: »Sind wir heute nicht allein, Vater?«

»Nein, mein Kind, wir haben Gäste, den jungen Khan mit seiner Frau und seinem Sohn.«

»Warum begleitet sie nicht der Freund des Khan?«

»Er gab preis, was er bei uns vernommen hat, und verdorrte wie ein Baum und wurde zu Stein wie ein Felsen.«

»Kann man nichts tun, damit er wieder zum Leben erwacht, Vater?«

»Das schon, doch dafür muss die Freundesliebe über die Mutterliebe siegen.«

»Was bedeutet das, Vater?«

»Das bedeutet, dass die Mutter ihren Sohn erstechen und mit seinem Blut den netzen muss, der zu Stein geworden ist.«

»Wenn dem so ist, weiß ich nicht, was stärker ist, Vater, die Freundesliebe oder die Mutterliebe«, seufzte die Tür.

Gunsari erwachte, und obwohl sie sich über alle Maßen fürchtete, hegte sie den heißen Wunsch, ihre Mutterliebe zu opfern. So tat sie alles, wie sie es im Traum vernommen hatte. Kaum hatte sie den Stein mit dem Blut des Sohnes genetzt, begann sich der Felsen zu regen. »Was habe ich nur so lange geschlafen!« sagte er. Der Jubel des jungen Khan und seines Freundes kannte keine Grenzen, doch als der Freund hörte, welch hohen Preis Gunsari gezahlt hatte, ließ ihm der Gedanke an den Knaben keine Ruhe. Der Freund bettete den kleinen Leichnam in eine wertvolle Truhe und bestattete ihn unter einem Felsen am See, der statt mit Wasser mit Milch gefüllt war. Dann zog er in die Welt, um ein Mittel zu finden, wie er den Kummer seines Freundes heilen könne, doch nirgends fand er Rat. Gramgebeugt kehrte er heim, schloss die kleine Truhe in seine Arme, in der Gunsaris Sohn ruhte, und weinte bitterlich. Als die Freundestränen den Körper des Knaben netzten, erwachte das Kind wie aus tiefem Schlaf. Die Freude, die Gunsari und der junge Khan verspürten, lässt sich in keinem Märchen beschreiben, in keinem Lied besingen. Im ganzen Khanat wurde ein großes Fest gefeiert, so herrlich und prachtvoll wie nie zuvor auf Erden. Trommeln wurden gerührt. Freudenfeuer entzündet, und jeder aß und trank, was er wollte.

Auch ich war zu diesem Fest geladen, meine Freunde aber habe ich dabei nicht vergessen. Vom Besten auf der Festtafel habe ich mir die Taschen so voll gestopft, dass sie bis heute zerrissen sind.