[swahili, "Geschichte, Legende"]

Gelernt ist gelernt

Vor langer Zeit lebte einmal ein alter Mann, der dreihundert Goldstücke besaß. Eines Tages rief er seinen Sohn zu sich, ließ ihn sich niedersetzen und sagte: »Alidshan, du bist nun schon groß, und ich werde alt. Ich möchte dich lehren, ein Handelsmann zu werden, solange ich noch lebe. Morgen wirst du mit Kaufleuten und ihrer Karawane davonziehen. Hier hast du hundert Goldstücke. Wenn du dann in einer fremden Stadt bist, gib das Geld nicht leichtsinnig aus, sondern erwirb dafür Waren!« Mit diesen Ermahnungen schickte der Alte seinen Sohn auf die Reise. Sein Sohn, ein hübscher, kluger Junge, war eben erst achtzehn Jahre alt geworden. Den Handel mochte er nicht leiden, er wünschte sich vielmehr sehnlichst, ein Handwerk zu erlernen, um von seiner Hände Arbeit zu leben. Mit seinem alten Vater zu streiten, wagte Alidshan jedoch nicht. Darum nahm er das Geld und trat zusammen mit den Kaufleuten die Reise an. Nach mehreren Tagen erreichte die Karawane eine große Stadt und kehrte in einer Karawanserei ein.

In dieser Stadt gab es einen prächtigen Garten. Am Abend desselben Tages ging Alidshan dorthin, um sich ein wenig zu zerstreuen. Dort brannten Tausende Lichtlein, und es war taghell. Inmitten der Bäume ragten hinter einem Gitter auf einer Marmorfläche Säulen empor, welche die Decke eines mit bunten Farben bemalten luftigen Gebäudes trugen. Auf dem teppichbedeckten Boden standen niedrige Tische aus Gold und Silber, Perlmutt und Rubin und auf ihnen Figürchen aus Edelsteinen. Mehr als hundert gleich gekleidete junge Männer saßen paarweise an den Tischen und bewegten die Figürchen. Vor Staunen starr, blieb Alidshan an dem Gitter stehen. Er konnte den Blick von diesem unbekannten Schauspiel nicht losreißen. So stand er länger als eine Stunde.

Endlich trat ein Diener des Gartens an ihn heran und fragte: »Warum stehen Sie hier? Worüber wundem Sie sich?« Alidshan erkundigte sich mit Herzklopfen: »Was sind das für Leute, und was tun sie?«

»Alle diese jungen Männer erlernen hier schon seit einem Monat das Schachspiel«, antwortete der Diener. »Und wie könnte ich in diese Schule aufgenommen werden?«

»Es kostet hundert Goldstücke.« Alidshan gab seine hundert Goldstücke her und begann das Schachspiel zu erlernen. Recht bald beherrschte er es so gut, dass er sogar seine Lehrer besiegte. Nach einem Jahr war die Lehre zu Ende, und die jungen Männer führen in ihre Heimatorte. Alidshan aber war bedrückt. »Wohin soll ich ohne Geld?« überlegte er. Sein Lehrer bekam Mitleid mit ihm, schenkte ihm ein Goldstück und schickte ihn mit einer vorüber ziehenden Karawane heim. Mit leeren Händen kehrte Alidshan zu seinem betrübten Vater zurück.

Ein Jahr verging. Wieder rief der Alte seinen Sohn zu sich. Nach langen Ermahnungen händigte er ihm abermals hundert Goldstücke aus und sandte ihn mit einer Karawane auf die Reise. Sie gelangten in dieselbe große Stadt. »Na, jetzt werde ich mein Geld nicht mehr unnütz ausgeben!« entschied Alidshan. Am Abend unternahm er einen Spaziergang. Er kam zu dem Garten und vernahm dort eine wunderbare Musik. An der Stelle, wo er das Schachspiel erlernt hatte, saßen junge Männer, die auf verschiedenen Musikinstrumenten spielen lernten. Im Nu hatte Alidshan alle Ermahnungen seines Vaters vergessen, entnahm seinem Beutel die hundert Goldstücke, gab sie dem Lehrer und begann zu lernen. Bald konnte er so gut spielen, dass er seinen Lehrer bei weitem übertraf.

Nach einem Jahr war die Lehre zu Ende. Alidshan war bestürzt. »Wie soll ich nun meinem Vater unter die Augen treten?« dachte er mit Bitternis. Sein Lehrer hatte Mitleid, schenkte ihm zwei Goldstücke und schickte ihn nach Hause. Alidshan kehrte zu seinem Vater zurück. Obgleich sich der Alte über die Heimkehr seines Sohnes freute, schalt er ihn noch mehr aus als das erste Mal.

Die Zeit verstrich, nach einem Jahr gab der Alte seinem Sohn die letzten hundert Goldstücke und sagte: »Wenn du dieses Geld nicht hüten wirst, bleiben wir ohne ein Stück Brot und ohne ein Dach über dem Kopf.« Er ließ den Sohn schwören, das Geld nur für den Erwerb von Waren auszugeben. Abermals kam Alidshan in dieselbe große Stadt. Zuerst ging er ins Bad, um sich den Reisestaub abzuwaschen. Auf dem Rückweg gelangte er zu dem wohlbekannten Garten und dachte: »Ich will doch nur für eine Minute hineinsehen!« Kaum hatte er das gedacht, wusste er selbst nicht mehr, wie er in den Garten hineingekommen war. Da sah er auf der marmornen Erhöhung Jünglinge sitzen und Worte schreiben, die ihnen ein Lehrer diktierte. Vor Begeisterung war Alidshan wie versteinert. Lange stand er so da, bis er schließlich entschied: »Das Schachspiel habe ich erlernt und auch das Musizieren. Aber schreiben kann ich nicht; und wenn ich ein Bettler werde, lesen und schreiben will ich lernen!« Er gab der Schule die hundert Goldstücke und begann lesen und schreiben zu lernen. Genau wie früher lernte er am besten von allen und hatte bald ausgelernt. Wiederum besaß er kein Geld, um in seine Vaterstadt zurückzukehren. Der Lehrer schenkte ihm drei Goldstücke und schickte ihn auf die Reise.

Dieses Mal entschloss sich Alidshan, nicht zu seinem Vater zurückzukehren. Er verdingte sich als Diener bei einem Kaufmann, der sich auf den Weg in eine ferne Stadt begab. Seine Waren waren bereits auf die Kamele geladen worden. Noch vor Sonnenaufgang setzte sich die Karawane in Bewegung. Tag und Nacht zogen sie dahin, ohne auf Wasser zu stoßen. Endlich erreichten sie einen Brunnen, dessen Wasser sich in großer Tiefe befand. Der Kaufmann befahl seinem neuen Diener, in den Brunnen hinab zu steigen. Alidshan gelangte wohlbehalten bis an das Wasser und füllte den Schlauch. Plötzlich entdeckte er an der Brunnenwand eine kleine Tür. »Was könnte das wohl sein?« überlegte er und öffnete sie. Hinter der Tür befand sich ein großer heller Raum, in dem auf einem Teppich ein Zauberer mit traurig gesenktem Haupte saß. In den Händen hielt er eine Geige. Alidshan war von beherzter Natur. Er legte den Wasserschlauch an der Tür nieder, trat leise auf den Alten zu, nahm die Geige und begann zu spielen. Als der Zauberer die lieblichen Klänge der zarten Saiten hörte, schlug er die Augen auf und seufzte erleichtert. Er sah sich nach allen Seiten um, stand auf, näherte sich Alidshan und fuhr ihm liebevoll über den Kopf. »Wie bist du hierher geraten, o Mensch?« fragte er. Alidshan erzählte ihm seine ganze Geschichte. Dann erinnerte er sich der Karawane und wollte eilig davongehen. »Was wünschst du dir am meisten von allem auf Erden? Ich werde alles für dich tun!« sagte der Zauberer. Alidshan blickte ihn erstaunt an. »Mein einziger Sohn ist gestorben«, erzählte der Zauberer. »Schon fünf Tage, seitdem er nicht mehr auf der Welt ist. Ich bin allein geblieben, und mir war so weh ums Herz, dass ich selbst zum Sterben bereit war. Um mich ein wenig abzulenken, nahm ich die Geige zur Hand, konnte aber nicht spielen. Wärest du ein paar Stunden später gekommen, hättest du mich nicht mehr lebend angetroffen. Durch dein liebliches Spiel hast du mich vor dem Tode gerettet. Willst du, dass ich dir alle meine Schätze gebe?«

»Helft mir aus dem Brunnen herauszukommen!« antwortete Alidshan, »weiter brauche ich nichts.« Und er spielte nochmals auf der Geige. Da gab ihm der Zauberer ein Beutelchen mit Gold und sagte: »Mach deine Augen zu!« Alidshan gehorchte.

Als er die Augen aufschlug, stand er oben, auf der festen Erde neben dem Brunnen. Ringsum war niemand zu sehen, denn die Karawane war weiter gezogen. Alidshan folgte den Trittspuren der Kamele und holte die Karawane ein. Alle wunderten sich sehr und wollten wissen, wie er aus dem Brunnen herausgekommen sei. Er erzählte alles, was mit ihm geschehen war, und zeigte ihnen das Beutelchen des Zauberers mit dem Gold. Als die Karawane Rast machte, holte der Kaufmann ein Blatt Papier hervor, schrieb einen Brief und versiegelte ihn. Er reichte Alidshan den Brief und sagte: »Ich habe eine schöne Tochter, die gebe ich dir zur Frau. Reite voraus und Lass in meinem Hause alles für die Hochzeit vorbereiten. Pass aber auf, dass du das Geld nicht verlierst! In drei Tagen werde auch ich zu Hause sein.« Dann gab er Alidshan einen guten Zelter und erklärte ihm, welchen Weg er zu nehmen habe.

Lange ritt Alidshan dahin, dann machte er Rast und überlegte: »Hundert Goldstücke habe ich hergegeben, um lesen und schreiben zu lernen. Ich will noch einmal sehen, was da geschrieben steht!« Er öffnete den Brief, begann ihn zu lesen und erschrak. Der Kaufmann hatte seiner Frau nämlich geschrieben: »Meine teure Gemahlin! Ich schicke dir Gold, das sich in den Händen dieses Dieners befindet. Ich habe ihn übertölpelt und versprochen, dass ich ihm meine Tochter zur Frau gebe. Befiehl, dass man ihm sofort den Kopf abschlägt! In allen Ehren! Dein Mann.« Alidshan nahm Feder und Papier zur Hand und schrieb: »Meine teure Gattin! Nimm diesen lieben Gast in allen Ehren und mit voller Hochachtung auf und gib ihm unsere Tochter zur Frau! Richte die Hochzeit aus, ohne auf meine Ankunft zu warten!« Alidshan versiegelte den Brief und setzte seinen Ritt fort. Er kam in die Stadt, fand das Haus des Kaufmanns und überbrachte seiner Frau den Brief. Sie las ihn und nahm den Gast in großen Ehren auf. Am nächsten Tage wurde Alidshans Hochzeit mit der Kaufmannstochter gefeiert. Zwei Tage lang schmausten und zechten alle. Am dritten Tage bestieg Alidshan den Zelter und wies die Diener an: »Ich verreise, um einige Geschäfte abzuschließen. Des Nachts öffnet niemandem das Tor! Sollte jemand über die Mauer klettern, dann packt und verprügelt ihn! So hat es euer Brotherr befohlen.« In der Nacht kam der Kaufmann mit der Karawane heim und begann an das Tor zu klopfen. Zwei Stunden lang klopfte er, aber niemand tat ihm auf. Da stieg er über die Mauer in den Hof. Dort fielen die Diener über ihn her und prügelten ihn halbtot.

Lange lag der Kaufmann ohnmächtig da, schließlich kam er zu sich und schleppte sich mit Mühe in sein Zimmer. Er begrüßte seine Frau und fragte: »Sage mir, was hast du getan, als der Mann mit meinem Brief kam?«

»Ich habe Euren Befehl erfüllt«, antwortete sie. »Und wo sind die Goldstücke?« Die Augen des Kaufmanns funkelten vor Habgier. »Was für Goldstücke?« staunte seine Frau. »Ich habe dir doch geschrieben, du sollst den Überbringer des Briefes töten lassen und die Goldstücke verstecken!«

»Seid Dir bei Sinnen? Wie kann ich meinen Schwiegersohn töten lassen?«

»Was für einen Schwiegersohn?«

»Den Mann meiner Tochter.«

»Wann hast du sie denn verheiratet?«

»Schon vor zwei Tagen.« Da schlug sich der Kaufmann an die Stirn und begann Frau und Diener auszuschelten. »Und wo ist er selbst?« erkundigte er sich nach seinem Schwiegersohn. »Am Morgen ist er fort geritten und hat befohlen, in der Nacht niemandem das Tor zu öffnen. Wenn jemand über die Mauer stiege, dann sollten wir ihn packen und verprügeln«, erklärten ihm die Diener. Da begriff der Kaufmann, dass er nicht umsonst bestraft worden war, und entschloss sich, mit seinem Schwiegersohn Frieden zu schließen.

Soweit der Kaufmann und seine Frau. Nun wollen wir sehen, wie es Alidshan erging. Lange ritt er auf seinem Zelter dahin, bis er endlich in eine große Stadt kam, in der gerade Markttag war. Auf dem Platz stand ein Ausrufer und verkündete: »Sagt nicht, ihr hättet es nicht gehört! Wer gut Schach spielen kann, der soll in den Palast zu unserem Schah kommen! Wer ihn dreimal hintereinander besiegt, dem tritt der Schah seinen Thron ab, wer aber dreimal verliert, den lässt er hinrichten!« Alidshan begab sich zum Schah und erklärte, er wolle mit ihm Schach spielen. Sie setzten sich an den Spieltisch. Einmal verlor Alidshan, zweimal gewann er. Sie spielten weiter. Zweimal gewann der Schah, einmal verlor er. Sie begannen ein neues Spiel. Alidshan gewann dreimal hintereinander. Da war nichts zu machen. Der Schah musste seinen Thron abtreten. Er erhob sich, verbeugte sich vor dem Jüngling und sagte: »Jetzt bist du Schah, besteige den Thron!«

»Es ist nicht mein Wunsch, Schah zu werden. Ich will in meine Stadt zurückkehren, um die Menschen Lesen und Schreiben und Musizieren zu lehren.« Danach begab sich Alidshan zu seiner Frau. Anschließend reiste er zusammen mit ihr in seine Heimatstadt zu seinem Vater. Nachdem er seinem Vater alles, war geschehen war, erzählt hatte, sagte der Alte froh und zufrieden: »Du bist wirklich klug. Wie viele Künste du gelernt hast, so viele Male bist du dem Tode entronnen!«

»Gelernt ist gelernt!« antwortete der Sohn.