[swahili, "Geschichte, Legende"]

Eisenflanke und seine Schwester

Vor langer Zeit ging eine Frau auf ihr Feld arbeiten und nahm ihre kleine Tochter mit. Ehe sie zu hacken anfing, legte sie das Kind in den Schatten eines Baumes. Gegen Mittag kamen zwei Vögel und flogen mit dem Kind davon. Sie trugen es über einen großen Fluss und legten es auf einer Ebene sanft in ein Kürbisfeld.

Die Kleine hatte nach ihrer Mutter gerufen, als die Vögel sie fort trugen, aber die hatte auf ihre Schreie nicht geachtet, weil sie sich nicht vorzustellen vermochte, dass man ihr Kind wegtragen könnte. Am Nachmittag bemerkte sie, dass das Kind nicht da war, und suchte überall. Sie erkundigte sich bei den Nachbarn, und einige erzählten ihr, dass sie das Kind hätten schreien hören: »Ich gehe mit den Vögeln.«

Die Ebene, auf der das kleine Mädchen abgelegt worden war, befand sich in der Nähe eines Ortes, in dem Menschen lebten, deren eines Bein länger als das andere war. Dort, auf der Ebene, blieb das Mädchen bis zum nächsten Tag allein. In der Nacht sah der Häuptling jenes fremden Volkes im Traum das wunderschöne Mädchen. Am Morgen schickte er eine Gruppe Männer aus, die nach ihr suchen sollten. Als das Mädchen die Männer sah, bekam es Angst und versteckte sich unter den Kürbissen. Aber die Männer hatten schon bemerkt, wo sie war, so dass sie die Kleine leicht fanden und mit nach Hause nahmen.

Der Häuptling fand das Mädchen sehr schön. Er trug seiner Mutter auf, sich um das Mädchen zu kümmern, und als es erwachsen war, nahm er sie zur Frau.

Später hatte die junge Frau zwei Kinder, ein sehr hübsches, mit Beinen wie sie selbst, und ein hässliches, das wie sein Vater ein längeres Bein hatte. Die Menschenfresser erkannten den Vorteil von zwei gleich langen Beinen und wurden neidisch auf die Frau und ihr Kind. Dem Häuptling flüsterten sie ein, dass es gefährlich wäre, das Kind aufwachsen zu lassen, weil dann ein Volk entstehen könnte, das stärker sei als sie. Sie überredeten ihn zu erlauben, das Mädchen zu töten und freuten sich schon gewaltig, denn das Mädchen war schön rundlich, und sie wollten sie aufessen. Einer von ihnen aber, der ein wenig Mitleid hatte, erzählte der Frau, was beabsichtigt war.

Nachdem das kleine Mädchen von den Vögeln geraubt worden war, hatte ihre Mutter einen Sohn geboren, dessen eine Flanke aus Fleisch und Blut war, wie die anderer Menschen, dessen andere Flanke aber aus Eisen bestand. Seine Mutter erzählte ihm von der verloren gegangenen Schwester, und als der Junge zu einem Mann herangewachsen war, beschloss er, sie zu suchen.

Auf seiner Wanderung gelangte er an einen großen Fluss, der viel Wasser führte. Er hatte einen Eisenstab in der Hand, damit schlug er auf das Wasser und rief gleichzeitig laut aus: »Fluss, ich habe keine Schwester. Werde leer!« Da trocknete der Fluss aus, und der junge Mann ging sicher hindurch.

Danach erreichte er den Strom, von dem die Fremden ihr Wasser holten, und verbarg sich am Ufer im Schilf. Seine Schwester kam Wasser holen, und mit einem Mal wusste er, wer das war. Sie kannte ihn natürlich nicht, aber er erzählte ihr, dass er ihr Bruder sei. Da meinte sie, dass ihn die Fremden verspeisen würden, wenn er ohne Empfehlung in ihr Dorf ginge. So vereinbarten sie, dass er sich mit Schlamm einreiben und auf einen hohen Berg steigen sollte; wenn er herunterkäme, würde sie ankündigen, wer er sei. Eisenflanke stieg auf den Berg, und sobald er vom Dorf aus gesehen werden konnte, rief seine Schwester: »Das ist der Diener von der Frau des Menschenfresserhäuptlings!« Diese Worte wiederholte sie zweimal.

Als Eisenflanke das Dorf erreichte, wurde ihm eine Matte gebracht, die man vor dem Haus seiner Schwester ausbreitete. Aber nach einiger Zeit wurde ihm gestattet hineinzugehen - er war noch immer mit Schlamm bedeckt.

Am nächsten Tag gingen alle auf die Jagd. Eisenflanke erlegte mehr Wild als die anderen, die deshalb neidisch wurden. Das alles geschah, kurz bevor die Fremden beschlossen, die Tochter ihres Häuptlings zu töten und aufzuessen. Als der, der Mitleid hatte, erzählte, was man beabsichtigte, war Eisenflanke anwesend und hörte es. Er sagte seiner Schwester, dass sie sich ihr Haar ausreißen und es in verschiedene Richtungen verstreuen sollte. Sie tat das, und danach verließen Eisenflanke, seine Schwester und ihr Kind eilig den Ort.

Die Menschenfresser kamen, und als sie das Mädchen nicht finden konnten, riefen sie laut seinen Namen. Alle Haarbüschel antworteten da mit ihrer Stimme, und die Suchenden waren ganz verwirrt.

Eisenflanke, seine Schwester und ihr Kind, die jeder ja zwei gleichlange Beine hatten, konnten viel schneller laufen als die Menschenfresser, und so waren sie bald auf der anderen Seite des Flusses. Das Kind zitterte und hatte große Angst, aber Eisenflanke beruhigte es. Nachdem sie den Ruß durchquert hatten, schlug Eisenflanke den Fluss mit seinem eisernen Stab und sprach: »Fluss, ich habe meine Schwester gefunden. Werde voll!« Da stieg das Wasser bis an den Rand.

Als der Fluss randvoll war, langte eine Gruppe von Menschenfressern am Ufer an. Eisenflanke drehte ein langes Seil und warf ein Ende zu ihnen hinüber. Sie fassten es, weil sie glaubten, dass er sie hinüberziehen würde. Aber als die Menschenfresser in der Mitte des Flusses waren, ließ Eisenflanke das Seil los, und alle ertranken. Da kam eine andere Gruppe und fragte nach ihren Kameraden. Eisenflanke rief ihnen zu, dass sie zu einer Furt weiter flußab gegangen wären, aber weil sie wussten, dass das nicht stimmte, kehrten sie nach Hause zurück. Später fanden sie heraus, wer ihre Absichten verraten hatte, und sie töteten ihn und aßen ihn auf.

Eisenflanke brachte seine Schwester heim zur Mutter. Während all der Jahre hatte die Mutter ihre Tochter niemals vergessen, und sie empfing ihre Kinder nun mit großer Freude.