[swahili, "Geschichte, Legende"]

Drei Freunde

Ob wahr oder nicht - man sägt, ein Zicklein, ein Lämmchen und ein Kälbchen hielten einmal große Freundschaft. Eines Tages erspähte das Zicklein einen fernen Berg und sprach: »Brüder, wer von uns hat je gesehen, wie die Sonne am Abend hinter den Bergen untergeht?«

»Ich habe es nie gesehen«, sagte das Lämmchen. »Ich habe es auch nie gesehen«, sagte das Kälbchen. »lasst uns zu dritt nachsehen, wo sich die Sonne in der Nacht versteckt«, setzte das Zicklein fort. Und am gleichen Tag stahlen sich die Freunde heimlich aus der Herde. Sie gingen lange, der Berg rückte näher und näher. Die Freunde freuten sich. Plötzlich sahen sie einen Wassergraben vor sich. Wie durch ihn hindurch kommen? Das Zicklein sprach: »Ganz leicht, wir springen herüber!«

»Ich fürchte mich«, sagte das Lämmchen. »Ich fürchte mich auch«, sagte das Kälbchen. »Ach, ihr Feiglinge«, lachte das Zicklein. »Ich fürchte nichts.« Es nahm Anlauf und war mit einem Satz am anderen Ufer. Da sprang auch das Lämmchen hinterher - mit einem leichten Satz, nur die Hinterbeine machte es sich ein bisschen nass. Das Kälbchen tapste auf der Stelle - was sollte es tun? -, auch es musste springen. Es setzte zum Sprung an und - plumps! - landete es im Wasser. Fast wäre es ertrunken. Die Freunde zogen es an den Ohren heraus.

Das Zicklein sprach: »Wir haben dir das Leben gerettet, Kälbchen. Das musst du uns lohnen. Trage uns auf deinem Rücken zum Berg.« Da setzten sich die Wildfänge auf den Rücken des Kälbchens und lachten sich eins. Nach einer Weile begann das Kälbchen kläglich zu muhen: »Ihr seid schwer. Ich bin doch kein Kamel. Ich bringe euch bis zum Stein, der dort vorn blinkt, dann steigt ihr ab.« Am Stein angelangt, sahen sie, dass da kein Stein, sondern ein Reisesack auf der Erde lag. Der war prall gefüllt. Anscheinend hatte ein Liederjan seine Last verloren. Sie banden den Sack auf und fanden vier Tierfelle darin. Eins vom Schneeleoparden, eins vom Bären, eins vom Wolf und eins vom Fuchs. »Ein guter Fund, der kann uns von Nutzen sein«, sagte das Zicklein.

So wanderten sie mit dem Sack weiter. Der Berg war schon nahe. Am Berg stand eine weiße Jurte. Aus ihr drangen Lärm, Lieder und Dombraklang. Die Wanderer blieben stehen, schauten sich um und - komme, was wolle! - öffneten die Tür. In der Jurte ging es hoch her. Ein bunter Schneeleopard trank Kumys, ein dicker Bär lutschte Halwa, ein grauer Wolf verschlang Baursaki, der Rotfuchs spielte die Dombra und sang dazu: Meine Dombra, klinge, schalle!
Heute sind wir Freunde alle.
Morgen keins dem andern traut -
jeder rette seine Haut!
Die drei Freunde gingen in die Jurte und blieben an der Schwelle schreckensstarr stehen. Sie waren dem Unglück in die Arme gelaufen. Als die Tiere die unverhofften Gäste sahen, blitzten ihre Augen auf: So eine feine leckere Vorspeise! Der Fuchs zwinkerte der Raubtierbande listig zu, leckte sich die Schnauze und begann mit honigsüßer Stimme: »Tretet doch ein, liebe Gäste. Allah selbst schickt euch zu unserem Festschmaus. Setzt euch näher ans Feuer, liebe Kinder. Wir wollen euch gut bewirten. Vielleicht spielt ihr uns ein Lied auf der Dombra? Amüsiert uns mit eurem Gesang?« Das Lämmchen schlug die Augen nieder und schwieg. Das Kälbchen wich zurück und schwieg ebenfalls.

Das Zicklein dagegen schüttelte sein krauses Fell und sprach: »Fuchs, gib mir die Dombra! Ich sing' und spiel' euch eins.« Und es griff in die Saiten: Meine Dombra, klinge, schalle!
Zittern solln die Feinde alle!
Bunter Irbis, dicker Bär,
hört, euch fürchten wir nicht sehr!
Auch der Wolf macht uns nicht bange,
auch der Fuchs macht uns nicht bange.
Wenn wir drei sie überfallen,
so zerreißen wir sie alle!
Die Raubtiere horchten: Was für ein dreistes Lied! »Wer seid ihr?« knurrte der Schneeleopard. »Steppenjäger«, antwortete das Zicklein. »Und wohin des Weges?« brüllte der Bär. »Bringen Ware auf den Basar.«

»Was für Ware?« presste der Wolf durch die Zähne. »Tierfelle.«

»Woher habt ihr die?« kläffte der Fuchs. »Haben wir euren Brüdern abgezogen«, gab das Zicklein zur Antwort und holte alle vier Felle aus dem Sack. Da erzitterten die grimmigen Räuber vor Schreck, dann jaulten sie jeder auf seine Weise und schlugen sich, so schnell sie konnten, in die Flucht.

Die drei Freunde richteten sich nun in der fremden Jurte häuslich ein. Nach dem langen Weg aßen sie die köstlichen Speisen, die die Raubtiere stehen gelassen hatten, ruhten sich aus und überlegten, was weiter zu tun sei. Das Zicklein sprach: »Wie gut, dass wir unsere Feinde so erschrocken haben. Doch wie, wenn sie sich besinnen und zurückkehren. Dann sind wir verloren. Laufen wir lieber rasch nach Hause. In unserer Herde kann uns kein Raubtier gefährlich werden. Die Hirten wachen darüber, dass uns niemand etwas zu Leide tut.«

»Du sprichst die lautere Wahrheit, Brüderchen«, sagte das Lämmchen. »Richtig, was du sagst«, sprach das Kälbchen.

Und im nächsten Augenblick waren die drei schon weit von der weißen Jurte und noch weiter von dem Berg. Allen voran lief das Zicklein, gefolgt von dem Lämmchen und dem Kälbchen. Am Abend waren sie zu Hause angelangt. Die Hirten waren so froh darüber, dass sie sie nicht einmal schalten. Wie schön, dass alles gut ausging. Nur eines ist nicht gut: Die drei Freunde erfuhren nicht, wo sich die Sonne in der Nacht versteckt.