[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die Zauberkeule

In einem Tale standen vor langer Zeit zwei Dörfer. Der Fluss trennte sie, so dass jemand, der von einem Dorfe in das andere wollte, jedes Mal übersetzen musste. Doch dies kam sehr selten vor, denn die beiden Dörfer lebten in dauernder Feindschaft miteinander. Nur gelegentlich halfen sie sich gegenseitig. Meist aber bestand zwischen ihnen eine Art von Abneigung, wie sie manchmal zwischen Nachbarn auftritt.

In einem dieser beiden Dörfer lebten vier Brüder, die stets gemeinsam zur Jagd zogen, zum Fischfang gingen und in all ihren Taten unzertrennlich waren. Eines Tages geschah es, dass die vier wiederum auszogen, diesmal, um Biber zu fangen. Bei diesem Vorhaben wurde der älteste Bruder von einem Baumstamm erschlagen, während er dabei war, den Biberdamm einzureißen, um desto leichtere Beute zu machen. Die übrigen Brüder waren sehr betrübt über diesen Verlust und fragten einander, warum ihr Bruder wohl heute solches Unglück haben musste. Denn Unglück auf der Jagd hatte immer einen guten Grund. Das konnte doch nur daher kommen, dass seine Frau ihn während seiner Abwesenheit betrogen hatte. Sie wussten nur zu gut, dass Jagdpech stets durch eheliche Untreue hervorgerufen wird. Daher machten sich die Brüder auf den Weg ins Dorf, um den Übeltäter nach Möglichkeit zu ertappen. Mit Fackeln bewaffnet, versteckten sie sich hinter der Hütte ihres Bruders und warteten ab, was während der Nacht geschehen würde.

Als es im Dorfe still geworden war und selbst die Hunde zu schlafen schienen, sahen die drei Brüder plötzlich eine Gestalt vom Flusse her auf die Hütte zuschleichen. Bevor sie den nächtlichen Besucher erkennen konnten, war dieser in der Hütte verschwunden, und als die Brüder dort eindrangen, sahen sie den Häuptlingssohn vom Nachbardorf neben der Frau ihres Bruders sitzen. Voller Zorn fielen sie über ihn her und schnitten ihm den Kopf ab, den sie als Zeichen ihrer vollzogenen Rache über den Hütteneingang hängten. Am nächsten Morgen wurde im Nachbardorf der Sohn des Häuptlings vermisst, und niemand konnte sich denken, wohin er wohl geraten sein mochte. Der Häuptling sandte alle Krieger an den Fluss und in die Wälder, um nach dem Verlorenen Ausschau zu halten. Aber selbst die erfahrenen Jäger fanden keine Spur und mussten unverrichteterdinge ins Dorf zurückkehren. Darauf schickte der Häuptling ein junges Mädchen, das als Gefangene im Dorfe lebte und daher von allen gemieden wurde, ins Nachbardorf mit dem Auftrage, von dort Feuer zu entleihen. In Wirklichkeit sollte sie auskundschaften, ob der Vermisste vielleicht dort gefangengehalten wurde. Aufgeregt kam das Mädchen nach einer Weile zurück und berichtete voller Schrecken von dem blutigen Haupte, das dort im Dorfe über einem Hütteneingang hing. Den Häuptlingssohn hatte sie bestimmt an seinen Ohrgehängen erkannt! Wütend nach Rache schreiend befahl der Häuptling seinen Kriegern, sich zum Kriegszug gegen das Nachbardorf zu rüsten. Überall herrschte große Geschäftigkeit; Pfeile wurden geordnet und nachgesehen, Bogensehnen geprüft, Lederpanzer hervorgesucht, und der Medizinmann des Dorfes beschwor die Geister, damit sie dem Unternehmen Erfolg bescheren sollten. Dann schlichen die Männer hinunter zum Fluss, um das Nachbardorf zu überfallen. Mittlerweile hatte die Frau des verstorbenen Bruders aus Angst unter ihrer Lagerstatt eine Grube ausgehoben, denn sie wusste wohl, dass der Tod des nächtlichen Besuchers nicht ungerächt bleiben werde. Dort wollte sie sich verstecken, wenn der Feind anrückte. Sobald die ausgestellten Wachen Alarm schlugen, flüchtete sie mit ihrer Tochter in das vorbereitete Versteck, während draußen der Kampf begann. Die erbosten Angreifer überrannten die Verteidiger und machten alles nieder, was sich ihnen entgegenstellte. Dann plünderten sie das Dorf und steckten es schließlich in Brand. Weithin leuchtete der Feuerschein.

Nachdem es ruhig geworden war, krochen die Frau und das Mädchen aus ihrem Versteck hervor und starrten auf die schwelenden Reste. Bald wussten sie, dass außer ihnen niemand die Zerstörung überlebt hatte. Verstört wanderten die beiden zum Dorfe hinaus, setzten sich am Waldrande nieder und überdachten ihr Schicksal. Immer wieder murmelte die Frau vor sich hin: »Wer soll nun meine Tochter heiraten? Wer soll uns fortan ernähren?« Plötzlich stand das Waldhuhn in Gestalt eines jungen Mannes vor ihr und bot sich an, das Mädchen zu heiraten. Die Mutter aber lehnte den Freier ab, und auch dem Eichhörnchen erging es nicht anders. Als der Hase mit dem gleichen Angebot kam, fragte die Frau: »Was kannst du denn gegen unsere Feinde ausrichten?« Und als der Hase darauf keine Antwort wusste, wurde er ebenfalls fortgeschickt. Auch die Eule hatte kein Glück, obgleich sie von sich behauptete, dass ihr Aussehen allein genüge, den Menschen Schrecken einzujagen. Der Schwarzbär gar versuchte ein paar Bäume auszureißen, um seine Stärke zu beweisen, aber auch er wurde als unbrauchbar abgelehnt. Die Mutter suchte nämlich einen Freier, der ihr in ihrer Rache helfen konnte. Der Grizzlybär wäre beinahe angenommen worden, aber im letzten Augenblick kamen der Frau doch wieder Bedenken. Da zuckte mit einem Male ein Blitz ans den Wolken, und der Donner rollte dröhnend durchs Tal; als die Mutter sich von ihrem Schrecken erholt hatte, stand vor ihr ein junger Krieger. Um die Schultern trug er eine weiße Büffelhaut, und in der Hand hielt er eine Kriegskeule aus Walrosszahn. Wieder fragte die Frau: »Sag, was kannst du tun, um mir zu helfen?« Da hob der Mann die Keule, drehte diese in der Hand, und Mutter und Tochter befanden sich mit einem Male unter der Erde, begraben von Sand, Steinen und Lehm! Und gleich darauf waren sie wieder am Waldrande, und vor ihnen stand der junge Krieger, sah beide lächelnd an und sprach: »Ich habe den Untergang des Dorfes gesehen und bin gekommen, deine Tochter zu heiraten.«

Die Mutter willigte ein, und der Krieger nahm beide bei der Hand und sprach: »Haltet eure Augen geschlossen, sonst kann ich euch nicht mitnehmen.« Darauf stieg er mit ihnen zu den Wolken empor.

Unterwegs ertönte gewaltiger Lärm, und die Mutter konnte sich nicht beherrschen, sondern öffnete die Augen, um zu sehen, was dort vorging. Sogleich fielen alle zurück zur Erde und landeten an der gleichen Stelle am Waldrande. Wiederum warnte der Krieger die beiden und versuchte es ein zweites Mal, aber die Frau konnte ihre Augen nicht geschlossen halten. Da nahm der junge Krieger einen Zweig aus einem Baumstamm, steckte die Frau in die so entstandene Öffnung und sprach: »Fortan sollst du in den Bäumen wohnen, und nur wenn der Wind durch die Zweige streicht, darfst du weinen über dein Schicksal.« Dann verschwand er mit seiner Braut in den Wolken.

Lange Zeit lebte das Mädchen dort oben als Frau des Donnerers, der der Herr des Himmels ist. Drei Söhne und zwei Töchter hatte sie, die alle in schönen Häusern wohnten. Bunt und seltsam waren die Zeichen, die die Giebel schmückten, und stolze Totempfähle standen vor den Eingängen. Jeden Tag übten sich die Söhne im Bogenschießen und im Zweikampf, und wenn sie sich gegenseitig verwundeten, so schlossen sich die Wunden, sobald nur der Pfeil herausgezogen. So wuchsen die Söhne zu mächtigen Kriegern heran.

Eines Tages gab ihnen der Donnerer die Zauberkeule und sprach: »Von nun an seid ihr stark genug und braucht niemanden zu fürchten. Daher sollt ihr fortan auf der Erde wohnen.« Im selben Augenblick befanden sich die fünf Geschwister an genau der gleichen Stelle am Fluss, wo einst das Dorf ihrer Mutter gestanden hatte. Auch die schönen Häuser aus Zedernholz mit den bunten Stirnseiten waren auf die Erde versetzt worden. Voller Erstaunen riefen sich die Brüder ihre Beobachtungen zu, sangen und scherzten und zündeten schließlich ein großes Feuer an, um besser sehen zu können.

Am anderen Ufer hatten sich die Leute sehr gewundert, als plötzlich eine Nebelbank über dem Fluss erschien und kurz danach aus der Gegend des ehemaligen Nachbardorfes Singen und Rufen zu hören war. Ein alter Mann, der zufällig am Flussufer war, kam verstört zum Häuptling gelaufen und berichtete, dass am anderen Ufer Leute sein müssten. Man höre von dort Stimmen und könne sogar den Schein eines Feuers sehen. Doch der Häuptling lachte nur und erwiderte: »Was du gesehen hast, sind die Geister der Toten, die dort wohnen. Wir alle wissen, dass dort keine Hütte mehr steht und keine Menschen leben, denn seit Jahren liegt der Ort verlassen.«

Wie erstaunt aber war der Häuptling, als er am nächsten Morgen die großen Häuser der fünf Geschwister sah! Sogleich befahl er einen Angriff, und wieder setzten die Krieger in ihren Kriegskanus über den Fluss. Aber alle Bemühungen waren vergeblich, denn die drei Brüder waren unbesiegbar. Jedes Mal, wenn ein Pfeilschuss einen von ihnen traf, zog der Getroffene den Pfeil aus der Wunde, die sich sogleich wieder schloss. Schließlich rief der älteste Bruder: »Geht zurück in euer Dorf, sonst werden wir euch alle vernichten !« Und zum Zeichen seiner Macht hob er drohend die Zauberkeule. Die Angreifer jedoch wollten den Kampf nicht aufgeben, denn sie sahen nur drei Gegner, die sich zwar verbissen wehrten, aber doch wohl zu besiegen sein mussten. Da drehte der älteste Bruder seine Keule in der Hand, und mit einem Male waren alle Krieger und das Dorf jenseits des Flusses unter der Erde verschwunden. Wieder drehte er die Keule, und sogleich stand alles wieder an seinem alten Platz. Doch auch jetzt wollte der Häuptling nicht aufgeben, und ein zweites Mal verschwand alles unter der Erde, diesmal, um für immer begraben zu bleiben. Heute erinnert auch nicht ein Knochen an die alte Dorfstelle, alles ist in der Erde versunken. Von nun an fühlten sich die Brüder als Herren der Erde. Jeden Tag zogen sie aus, führten Krieg gegen die umliegenden Stämme und vernichteten, was Widerstand leistete, indem sie es unter den Erdboden verschwinden ließen. Viele Dörfer sind damals verschwunden, und niemand kennt ihre Namen. Eines Tages vergaßen die Brüder ihre Zauberkeule, und der Donnerer kam herab, um sich sein Eigentum zurückzuholen, denn er war erzürnt über den Missbrauch seiner Gabe. Seitdem konnten die Brüder keine Nachbarn mehr überfallen, sondern mussten sich mit dem begnügen, was sie selbst erjagen konnten. Die Stelle jedoch, an der sie von ihrem Vater auf die Erde gesetzt wurden, blieb auch weiterhin ihre Heimat, und die Nachkommen der fünf Geschwister leben noch heute dort. Zur Erinnerung an ihre Ahnen bemalen sie noch immer die Wände ihrer Häuser mit jenen bunten Zeichen, die einst mit ihren Vorfahren vom Himmel gekommen waren.