[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die treue Meng-Djiang

Der Chinesenjunge Wang ist von allen Kindern umringt, und Mäxchen Pfiffig hat gerade nach der großen Mauer gefragt, die einstmals um das Chinesenland gebaut war. Davon wollen sie alle auch etwas wissen. »Ich will euch ein Märchen erzählen«, sagte der kleine Wang, »das ist schon fast 1500 Jahre alt und ist heute noch in jedem Dorf bekannt. Ich liebe es sehr. Passt auf:

Der Garten der Familie Meng schloss sich an den der Familie Djiang an, und zwischen beiden Gärten lag eine Mauer. In einem Jahr nun pflanzten die Meng nahe an der Wand einen Kürbis, und die Djiang pflanzten ebenfalls auf der anderen Seite der Wand einen Kürbis. Beide Pflanzen kletterten die Mauer hinauf, wuchsen oben so fest zusammen, dass sie nur noch eine einzige Pflanze bildeten.

Nachdem diese Kürbisstaude wunderschön geblüht hatte, setzte sie eine ganz besonders große Frucht an. Als der Kürbis goldgelb geworden war, wollte die Meng wie die Djiang ihn ernten. Doch wem sollte er gehören? Sie beschlossen sie, ihn zu teilen und schnitten ihn auf. Da lag in ihm ein kleines wunderschönes Mädchen. Beide Familien rissen die Mauer ein, zogen das Kind gemeinsam auf und liebten es sehr. Es erhielt den Namen Meng-Djiang.

Zu dieser Zeit lebte in China der grausame und ungerechte Kaiser Shih-Huang. Dieser fürchtete die Hunnen, die von Norden her in sein Land einfielen, und ließ darum über die ganze Nordgrenze Chinas hin eine Mauer bauen. Doch weil er die Bauleute schlecht entlohnte und behandelte, so dauerte der Bau der Mauer sehr lange, kaum war ein Stück gebaut, so fiel ein anderes wieder ein, und nach langer Zeit war die Mauer immer noch nicht fertig.

Da gab einer der Palastheiligen des Kaisers, der seinen Geiz kannte, ihm einem teuflischen Rat: ›Eine solche Mauer, die sich zehntausend Meilen hinzieht, kann man nur bauen, wenn man jedem Mauerstück von einer Meile Länge einen Menschen einmauert. Dessen Geist hält dann Wache über dieses Mauerstück.‹

Dem Kaiser waren seine Untertanen so gleichgültig wie Gras und Kraut, und so folgte er dem Rate seines Dieners. Das ganze Land aber erzitterte über diesen Frevel. Die Männer flohen vor den Häschern des Kaisers, ballten sich zusammen, verfluchten ihn, wagten aber nichts zu unternehmen.

Nun gab es am Kaiserhof einen klugen Gelehrten, der sagte zu Shih-Huang: ›Diese Art, wie Ihr Menschen zum Mauerbau verwendet lässt das ganze Land erbeben. Es werden Unruhen ausbrechen, ehe noch die Mauer fertig ist. Ich habe von einem Manne Wan mit Namen gehört. Wan heißt »zehntausend«. Ergreift diesen einen, er wird für die Zehntausend-Meilen-Mauer genügen.‹

Der Kaiser befahl, diesen Wan suchen zu lassen. Wan war ein berühmter Seidenweber und wurde seiner wunderbaren Kunst wegen von allen Menschen geliebt. Kaum hörte er von dem grausamen Befehl des Kaisers, so floh er, und viele Menschen halfen und verbargen ihn.

Zu dieser Zeit war das schöne Meng-Djiang schon ein erwachsenes Mädchen. In einer hellen Mondnacht ging sie durch ihren Garten und erblickte den flüchtigen Wan, der sich auf einem Baum versteckt hielt. Als Wan das schöne Mädchen erblickte, fühlte er eine heiße Liebe zu ihr, sprang vom Baum herab und legte ihr eine seidene Schärpe um, auf der waren viele goldene Fische eingewebt.

Meng-Djiang versprach Wan, seine Frau zu werden, und verbarg ihn in ihrem Gartenhaus.

Als sie nach einiger Zeit sorglos beim fröhlichen Hochzeitsmahle saßen, kamen die Soldaten des Kaisers, rissen Wan von der weinenden Braut und schleppten ihn zur Mauer. Dort wurde er lebend in die Mauersteine eingeschlossen.

Meng-Djiang war ihrem Wan in herzlicher Liebe zugetan. Nachdem sie viele Wochen in Tränen und Kummer verbracht hatte, machte sie sich auf den Weg zur großen Mauer und wanderte über Berge und Flüsse. Als sie endlich an die gewaltige Mauer kam, verzweifelte sie. Wie sollte sie die Stelle finden? Weinend lief sie Tage und Nächte die Mauer entlang, und diese hatte mit ihrem Kummer Erbarmen, sie fiel auseinander und gab ihr den toten Geliebten frei.

Als der Kaiser von der Frau hörte, die so ihren Mann gesucht hatte, kam er selbst, sie zu sehen. Und wie er ihre überirdische Schönheit sah, beschloss er, sie zur Kaiserin zu machen. Meng-Djiang konnte sich nicht wehren, stellte aber drei Bedingungen: Sie wollte, dass für ihren Mann eine neunundvierzigtägige Totenfeier abgehalten werde, dass der Kaiser und alle seine Beamten an dem Begräbnis teilnähmen, und dass man für sie, die zukünftige Kaiserin, eine neunundvierzig Klafter hohe Terrasse am Flussufer baue. Dort wolle sie für ihren Mann das Totenopfer vollbringen. Nur unter diesen drei Bedingungen wollte sie den Kaiser heiraten. Und der Kaiser gewährte sie ihr alle. Als alles fertiggestellt war, stieg Meng-Djiang auf die Terrasse und verfluchte den grausamen und ungerechten Kaiser, der nur an sich, nicht aber an sein Volk denke. Der Kaiser wurde bleich vor Zorn, doch ehe er etwas erwidern oder befehlen konnte, warf Meng-Djiang ihre mit goldenen Fischen gewebte seidene Schärpe in den Fluss und sprang ihr nach.

Jetzt befahl der Kaiser, den Fluss zu durchsuchen und sie in lauter kleine Stücke zu zerteilen. Aber so sehr sich die Soldaten mühten, den Befehl auszuführen, es gelang ihnen nicht: Der Leib Meng-Djiangs war nicht mehr zu finden. Sowie sie das Wasser berührt hatte, verwandelte sie sich in lauter kleine Goldfische, in denen die Seele der treuen Meng-Djiang nun für alle Zeiten weiterlebt.«