[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die Tochter von Padischah Sultan

In alten Zeiten lebte im Land Scham ein Padischah mit Namen Sultan. Unzählbar waren seine Schätze. Der Padischah besaß drei Töchter, nur keinen Sohn. Als der Padischah alt wurde, grämte er sich, weil er keinen Erben hatte, dem er seine Macht und seinen Reichtum hinterlassen konnte. Wovon mag unser Märchen handeln? Von den drei Töchtern des Padischahs natürlich. Eines Tages, als die drei Töchter daheim saßen, meinte die älteste: »Unser Vater ist so traurig. Lasst uns etwas tun, womit wir sein Herz erfreuen. Wir besitzen keinen Bruder, also wollen wir dem Vater die Söhne ersetzen.« Die Schwestern waren sich einig. Am nächsten Tag ging die älteste Tochter des Padischahs zum Vater und erzählte ihm von dem Gespräch mit den Schwestern. »Nur zu, versucht es«, sagte der Padischah. Die älteste Tochter sprach: »Lieber Vater, morgen reite ich aus und will mir all deine Reichtümer anschauen. Mögen mich zwölf Nuker in voller Kriegsrüstung zu Pferde begleiten.« Anderentags verließ die älteste Tochter des Padischahs in Begleitung von vierzig berittenen Nukern den Palast. Gegen Abend kehrte sie zurück. »Liebe Tochter, was hast du auf meinen Feldern gesehen? Was kannst du mir Neues berichten?« fragte der Padischah. Die Tochter entgegnete: »Nichts Besonderes. Auf deinen Feldern ist alles ruhig.« Der Padischah war mit dieser Antwort unzufrieden und sagte: »Nein, du kannst mir den Sohn nicht ersetzen!«

So machte sich die zweite Tochter auf. Als sie zurückkehrte, fragte der Padischah: »Liebe Tochter, hat sich irgend etwas zugetragen, oder bist auch du umsonst ausgeritten?« Die mittlere Tochter wusste nicht einmal, was sie antworten sollte.

Am dritten Tag trat die jüngste Tochter vor den Padischah und sprach: »Lieber Vater! Meine Schwestern vermochten nicht, dir den Sohn zu ersetzen. So will nun ich dein Sohn werden. Noch heute reite ich auf die Felder.« Das war die letzte Hoffnung des Padischahs, und er willigte ein. Kerogly gleich, ritt die jüngste Tochter an der Spitze einer Abteilung von vierzig gut bewaffneten Nukern aus. Den ganzen Tag ritt sie durch die Besitztümer des Padischahs, besichtigte alles, erlegte fünf kleine Antilopen und kehrte nach Hause zurück. »Liebe Tochter! Wie ist es um meine Besitzungen bestellt? Sind all meine Reichtümer unangetastet?« fragte der Padischah. Die Tochter entgegnete: »Lieber Vater, es droht keine Gefahr, alles ist in Ordnung, und ich bin bereit, jeden Auftrag auszuführen, den du mir gibst.«

Dem Padischah gefiel die Verwegenheit seiner jüngsten Tochter, und sein Herz erfüllte sich mit Liebe zu ihr. Von diesem Tage an legte die jüngste Tochter des Padischahs die Männerkleidung nicht mehr ab. Alle, die sie sahen, hielten sie für einen Jüngling. So ersetzte sie dem Padischah den Sohn.

Monate vergingen, und Jahre zogen ins Land. Die Wesire und die Nasire, die die Wahrheit nicht kannten, begannen darüber zu reden, dass es an der Zeit sei, den Sohn des Padischahs zu vermählen. Der Padischah musste, ob er wollte oder nicht, seinen Höflingen zustimmen. An einem Freitag begab sich Padischah Sultan zu Gast zu seinem Kunak, dem Padischah des Nachbarlandes. Jener empfing ihn zuvorkommend und nahm ihn gastfreundlich auf. Man einigte sich, die Tochter dieses Padischahs mit Sultans Sohn zu vermählen. Der Padischah, der Vater des Mädchens, sprach zu Sultan: »Wir sind einverstanden, mag dein Sohn uns besuchen. Wenn er und meine Tochter aneinander Gefallen finden, so wollen wir zur Hochzeit rüsten.« Padischah Sultan kehrte heim, rief seine jüngste Tochter zu sich und erzählte ihr alles. Die Tochter des Padischahs kleidete sich an, wie es sich für einen Dshigiten geziemt, und machte sich auf den Weg. Der Brautvater empfing den Gast freundlich, gab ihm zu essen, zu trinken und ließ ihm ein Ruhelager bereiten.

Morgens bat der Jüngling darum, das Mädchen zu sehen. Die verkleidete Tochter des Padischahs begab sich also in das oberste Zimmer des sechsstöckigen Schlosses, in dem das Mädchen wohnte. Lange betrachteten die beiden einander. Das Mädchen wies dem Bräutigam einen Platz am Tisch und begann verschämt und verschmitzt zugleich die Unterhaltung. Ihre Worte waren süß wie Honig. Sie selbst war so schön wie der vierzehntägige Neumond, und ihre Rede konnte es an Weisheit mit der von ehrwürdigen Greisen aufnehmen. Die verkleidete Tochter des Padischahs führte mit ihrer zukünftigen Braut ein zärtliches, verliebtes Gespräch.

Das Mädchen sprach: »Wenn du mich liebst, will auch ich dich lieben. Doch ich stelle dir eine Aufgabe, die du lösen musst. In den Bergen des östlichen Wilajat gab es einst eine schöne Stadt. Vor vielen Tausenden von Jahren wurden die Menschen und alle Lebewesen darin in Marmorstatuen verwandelt. Wenn du den Grund dafür herausfindest, will ich mich gern mit dir vermählen.« Ohne Zögern versprach Sultans Tochter, den Auftrag der lieblichen Jungfrau auszuführen, und ritt heim. Zu Hause erzählte sie alles dem Vater, doch der hatte nie von jener Marmorstadt gehört. Am nächsten Tag machte sich also die jüngste Tochter auf den Weg gen Osten. Lange musste sie reiten, bis sie an einen Scheideweg gelangte. Aufmerksam las sie die Inschrift am Wegweiser: »Wer diesen Weg wählt, kehrt lange nicht heim.« Die Inschrift auf der Tafel, die in die andere Richtung wies, lautete: »Wer diesen Weg wählt, kehrt niemals zurück.« Traurig dachte das Mädchen: Lieber sterben als heiraten, mein Geheimnis verraten und dem Vater Schande bereiten! Deshalb lenkte die Tochter des Padischahs ihr Pferd in die zweite Richtung.

Sie musste lange reiten, bis sie endlich eine hohe Festung erblickte. Das Mädchen ritt um sie herum, konnte jedoch kein Eingangstor finden. Da gab sie dem Pferd die Sporen, und es setzte über die Mauer. Als die Tochter des Padischahs auf dem Festungshof stand, sah sie auf einem Balkon eine wunderschöne Frau, die sie anrief: »Liebster Bruder, woher kommst du? Diese Festung hier ist das Nest des Ashdacha. Er wird dich wie ein Hirsekorn verschlingen.«

»Nichts dergleichen wird er tun«, erwiderte die unerschrockene Tochter des Padischah. »Sage mir nur, wo ich mein Pferd abstellen kann.«

Nach einer Weile erschien der Ashdacha. Er flog daher in feurigem Rauch und spie glühende Flammen. Der Drache spürte den Menschengeruch und schrie zornig: »Wer ist hier?« Die Dienerin erwiderte: »Mein leiblicher Bruder. Er ist zu Gast zu uns gekommen.« Der Ashdacha beruhigte sich und begrüßte den Ankömmling. Das verkleidete Mädchen erzählte ihm alles und fragte nach der versteinerten Stadt. Der Ashdacha entgegnete: »Ich habe nie etwas davon gehört. Reite weiter. Am Fuße jenes südlichen Berges dort steht die Festung der Mutter aller Ashdachen. Ich gebe dir einen Brief an sie mit.« Der Ashdacha schrieb eine Botschaft und wies der Tochter des Padischahs den Weg.

Tags darauf erreichte sie die Festung, in der die Mutter der Ashdachen lebte. Von geheimer Angst erfüllt, näherte sich das Mädchen der Alten und überbrachte ihr die Botschaft des Sohnes. Die alte Ashdacha nahm den Brief, las ihn und sprach: »Man sagt, die Stadt liege hinter den Bergen. Ich bin neuntausend Jahre alt, war jedoch nie dort. Ich habe nur gehört, dass schon mehrere tausend Jahre vergangen sein sollen, seit die Stadt versteinerte. Es heißt auch, dass sie morgens, wenn die Sonnenstrahlen aufs Stadttor fallen, für einen Augenblick zum Leben erwache, um dann sofort wieder zu Stein zu werden. Den Grund dafür kenne ich nicht.« Das Mädchen ließ sich das Gesagte gründlich durch den Kopf gehen und beschloss sodann, ihr Versprechen zu erfüllen.

Kühn lenkte sie ihr Pferd in die Berge, fort von der Stadt. Sie war die ganze Nacht unterwegs und erreichte im Morgengrauen die Mauern einer Stadt. Die Tochter des Padischahs gewahrte ein riesiges Stadttor und wartete voller Erregung auf den Sonnenaufgang. Da fielen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne auf die Stadtmauern und aufs Tor. Ein Dröhnen brach los, als berste die Erde, und Donner grollte, als beginne der Himmel zu sprechen. Die ganze Stadt erzitterte, und das Zugtor hob sich. Das Mädchen lenkte sein Ross durchs Tor, doch kaum hatte sie es passiert, senkte es sich wieder. Das Mädchen wurde auf den Stadtplatz geschleudert, das Pferd aber in zwei Teile geschlagen. Lange lag das Mädchen bewusstlos auf der Erde, erhob sich schließlich mühevoll und ging durch die Straßen der toten Stadt. Ihr gefielen die schönen Bauwerke, doch die Stadt gemahnte an einen altertümlichen Friedhof. Kein Laut war weit und breit zu vernehmen. Menschen und Tiere regten sich nicht: Sie waren versteinert. Die Verkäufer in den Läden verharnen noch immer in der Haltung, die sie eingenommen hatten, als der Zauberbann sie traf.

Als das Mädchen an den leblosen Steinen vorüberging und daran zu zweifeln begann, ob sie jemals hinter das Geheimnis dieser Stadt käme, vernahm sie plötzlich eine dumpfe Stimme. Sie erklang aus dem Oberstock eines großen Geschäftshauses. Die Tochter des Padischahs ging die Stiegen hinauf und erblickte einen Mann, der an einem Tisch saß. Nur seine untere Körperhälfte war versteinert. »Sprich, was ist dir geschehen!« forderte das Mädchen verwundert. Der Mann erwiderte: »Mach mich nicht noch trauriger. Was hat es für einen Sinn, dir von meinen Leiden zu berichten? Hunderttausende von Jahren habe ich kein Vogelgezwitscher mehr vernommen, geschweige eine menschliche Stimme.« Das Mädchen entgegnete: »Von deinem Leid sprich später! Jetzt erzähle mir nur, warum diese Stadt zu Stein wurde.«

Die Gestalt, halb Mensch, halb Stein, bat: »Lieber Sohn, gib mir zuerst etwas zu essen. Seit über hunderttausend Jahren habe ich kein Essen mehr gerochen!« Das Mädchen brachte ein Stück des getöteten Pferdes, zerhackte es und schob dem Mann einen Bissen nach dem anderen in den Mund. Nachdem er seinen größten Hunger gestillt hatte, hob er zu erzählen an: »Mein Sohn, ich will dir das Geheimnis anvertrauen, weshalb die Stadt zu Stein wurde. Die Häuser und die Geschäfte, die du hier siehst, gehörten einst mir. Tagsüber trieb ich Handel, doch wenn ich abends nach Hause kam, so war mein Weib fort. Oft fragte ich sie, wo sie gewesen sei, doch sie verweigerte mir jede Antwort. Eines Tages beobachtete ich, wie sie in den Keller des Nachbarhauses hinab stieg. Unbemerkt folgte ich ihr, versteckte mich hinter der Tür und blickte durch einen Spalt. Im Keller saßen vierzig Räuber. Mein Weib hielt mit ihnen ein ausschweifendes Gelage. Ungesehen, wie ich gekommen war, schlich ich wieder fort. Abends stieg ich noch einmal in den Keller und sah die vierzig Räuber, wie sie sich betrunken auf dem Boden wälzten. Da schlich ich mich leise in den Raum, schnitt den vierzig Wegelagerern die Köpfe ab, schleppte sie nach Hause und stapelte sie in der Zimmerecke. Als der Morgen anbrach und mein Weib von dem Vorgefallenen erfuhr, schnaubte sie vor Wut und erhob ein Geschrei. ›Ich habe den Räubern die Köpfe abgeschlagen, weil du schlecht gehandelt hast‹, sagte ich zu ihr. Da stieß meine Frau einen furchtbaren Fluch aus und verwandelte alle Menschen in der Stadt in Steine. Mich aber verfluchte sie dazu, bis ans Ende der Welt halb Mensch, halb Stein zu bleiben. Nachdem sie so viel Leid über uns gebracht hatte, fuhr sie unter die Erde, wo sie sich bis zum heutigen Tage aufhält.«

Als die Tochter von Padischah Sultan dies vernommen hatte, begab sie sich zu dem unterirdischen Gewölbe. Stöhnen drang an ihr Ohr. Unter Aufbietung aller Kräfte wälzte das Mädchen einen Stein vom Eingang und rief hinab. Da begann das Weib im unterirdischen Gewölbe unflätig zu fluchen. Die Tochter des Padischahs rief ein zweites Mal. Das Weib wurde noch wütender und verfluchte das Mädchen. »Wenn du ein Mann bist, so sollst du zum Weibe werden! Bist du aber ein Weib, so werde zum Mann!« Tatsächlich verwandelte sich die Tochter des Padischahs in einen Jüngling, worüber sie sich von Herzen freute. Doch als sie das Weib zum dritten Mal anrief, kreischte es, außer sich vor Wut: »Fort mit dir, oder ich verwandle dich in einen Stein!« Der Jüngling entgegnete: »Komm zuerst ans Tageslicht, dann magst du mich in einen Stein verwandeln.« Das Weib trat zum Ausgang und fragte: »Wer bist du? Was willst du hier?«

»Erwecke die Stadt zum Leben...«, begann der Jüngling, doch das Weib kreischte erneut: »Hinfort mit dir, oder ich verwandle auch dich in einen Stein!« Aber der tapfere Jüngling ließ sich nicht entmutigen. »Zuerst erwecke die Stadt zum Leben, dann magst du mich in einen Stein verwandeln.« Darauf nahm das Weib seinen Zauberbann von der Stadt. Ein Donner grollte, als würden aus allen Böllern Schüsse abgegeben. Blitze zuckten am nachtschwarzen Himmel. Regen floss in Strömen, und riesige Hagelkörner schlugen auf die ausgedörrte Erde. Kaum aber waren zwei Minuten vergangen, da grünte und blühte alles in der Stadt wie in uralten Zeiten.

Unverzüglich riss der Jüngling seine Pistole aus dem Gürtel und feuerte mehrere Schüsse auf das bösartige Weib ab, das, von den Kugeln tödlich getroffen, auf der Stelle hinstürzte. Im selben Augenblick trat der Mann aus dem Haus, umarmte den Jüngling und küsste ihn voller Dankbarkeit. Dann berichtete er den Menschen, dass dieser Jüngling ihre Stadt errettet habe. Die Einwohner baten den Verwegenen, ihr Padischah zu werden und über sie zu herrschen. Doch der Jüngling dankte bescheiden für die erwiesene Ehre und machte sich auf den Rückweg. Zuerst besuchte er die Mutter der Ashdachen, dann die Festung des ersten Ashdachen und erzählte allen von der Stadt, die zu neuem Leben auferstanden war. Danach kehrte der Jüngling wohlbehalten in seine Heimat zurück. Ein paar Tage später machte er sich auf, um seiner Geliebten das Geheimnis der steinernen Stadt anzuvertrauen.

Nun feierte der Jüngling sein Hochzeitsfest. Sieben Tage und sieben Nächte wurden die Trommeln gerührt zu seinen Ehren. Auch die beiden anderen Töchter des Padischahs vermählten sich, und Padischah Sultan regierte sein Reich noch lange in Glück und Frieden.