[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die Legende von Adak

Schrecklich war der Khan Ablai, schrecklich, grausam und unbarmherzig. Nicht von ungefähr wurde er im Volk auch »Panischer«, Blutsauger, genannt. Sein Leib war immer voll, aber seine Augen waren immer hungrig, nie beugte eine Last seinen Rücken, aber er hatte ein Gemüt, schwerer als ein Felsen, sein Körper kannte von Geburt an keine Kälte, sein Herz aber blieb bis zum Tode wie Eis. Der Mutter entriss er das Kind, der Braut den Bräutigam, dem Reiter das Pferd, dem Wanderer den Wanderstab, sogar die zerschlissene Fellmütze konnte er einem vom Kopf reißen, den Barhäuptigen riss er den Kopf ab. Von Lebenden und Toten, von allen, fern und nah, forderte er übermäßig hohe Abgaben, ließ sich das Futter auf den Weiden, das vertrocknete Gras, schönes Wetter und Unwetter, die Spur eines Kamels und den Rauch eines Herdes bezahlen. Das Volk sprach gramvoll: »Im Land der Gerechtigkeit geht der Frühling nie zu Ende, im Land der Willkür bricht nie der Frühling an.« Oft überfiel Ablai mit seinen vielzähligen Heeren benachbarte Lande, und nach seinen blutigen Raubzügen wuchs lange Zeit kein Gras in der Steppe. Wieder einmal siegreich zurückgekehrt, verbrachte der Khan bis zum nächsten Feldzug die Zeit mit Festgelagen und anderen Belustigungen, veranstaltete Pferderennen, Tierfang, Wettspiele und kannte bei seinen Vergnügungen ebenso wenig Maß wie bei dem grausamen Blutgericht über seine Gefangenen und Untertanen.

Als er einmal mit reicher Beute aus der kalmückischen Steppe heimkehrte, schlug der Khan seine Jurte in dem Waldstück Koktschetau, am Fuße von Felsen, an dem klaren See Borabai auf und feierte mit seinen Kriegern lärmend den Sieg über die feindliche Sippe. Tausend fette Stuten und Dutzende tausende Hammel wurden für den Festschmaus geschlachtet, der Kumys floss und schäumte wie ein Gebirgsfluss. Den Akynen, die Lieder dichteten und sangen, schwollen von den Schmeicheleien die Zungen an, die Sänger wurden von den Lobesliedern heiser, vierzigmal wechselten die Musikanten die Saiten auf den Dombras und Kobysen, Ablai aber forderte immer neuen Zeitvertreib, seine Ausgelassenheit war nicht zu stillen. Als der Trubel so recht im Gange war, stand der Khan von seinem prächtigen bunten Teppich auf, ging in die Jurte, in die er niemandem Einlass gewährte, und führte eine gefangene junge Kalmückin, herrlich wie ein Sonnentag, an der Hand heraus.

Als die Krieger die junge Schöne sahen, ging ein Begeisterungsschrei durch ihre Reihen, und sie vermochten die Augen nicht von ihr zu lassen. Der Khan sagte laut: »Wer will dieses Mädchen zur Frau, sprecht!« Die Menge geriet in Bewegung, tausende Hände streckten sich dem Khan entgegen, das Stimmengewirr hallte weit und breit, es klang, als brüllte eine Herde toll gewordener Kamele. »Ich! Ich! Khan, gib mir die Kalmückin!« schrieen die Krieger, einer lauter als der andere. Nur ein Dshigit im einfachen Gewand, mit klarem Blick und schönem Gesicht stand schweigend abseits und schaute traurig auf das Mädchen. Es war der jüngste Krieger, Adak, der Sohn des Hirten.

Der Khan hob die Hand, sofort trat Schweigen ein. »Zu viele Bräutigame für eine Braut!« sprach er lachend und drehte sich zu der Gefangenen um: »Wähle dir selbst einen Gatten, und wir feiern sogleich eure Hochzeit.« Das Mädchen war bleich und traurig, aber es antwortete dem Khan bestimmt und ohne Umschweife: »Tachsyr, mein Gebieter, ich möchte den zum Gatten, der alle anderen an Tapferkeit und Klugheit übertrifft.«

»Wie aber können wir den herausfinden?«

»Khan, lasse auf dem Bergesgipfel, der am höchsten über dem See aufragt, an einem dünnen Stock eine weiße Fahne aufpflanzen. Wer die Fahne beim ersten Mal mit dem Pfeil trifft, ist der Kühnste. Sodann erzähle ich ein Märchen, und wer sein Rätsel errät, ist der Klügste.«

»Es soll sein«, sagte der Khan.

In unvorstellbarer Höhe flatterte die weiße Fahne, wie Wolken stiegen die gefiederten Pfeile in die Höhe, gingen wie Regen auf die Felsen nieder; nicht ein Pfeil erreichte das Ziel. Der Khan war wutentbrannt. Er zog die Kalmückin an den Zöpfen, warf sie vor sich hin und hob die Hand über ihr: »Sklavin, du willst mich überlisten und meine Krieger der Schande preisgeben! Deine Aufgabe ist unerfüllbar. Kein Recke der Welt vermag seinen Pfeil in solche Höhe zu schießen.« Im selben Augenblick war am Himmel ein Klageschrei zu vernehmen. Alle hoben die Köpfe. Eine Wildente flatterte erschrocken über den Berg, ihr jagte ein blutrünstiger Berkut, ein Steppenadler, nach und hatte sie fast schon erreicht. Auf einmal schwirrte ein Pfeil über der Menge, schlug die weiße Fahne im Flug herunter und drang dem Berkut in den Hals. Der Raubvogel rollte blutend den Berghang hinunter in den See, die Ente entschwand unverletzt im Himmelsblau. »Wer hat geschossen?« fragte der verwunderte Khan. Keine Antwort. »Wer hat geschossen?« wiederholte er. Nun riefen die Krieger wie aus einem Munde: »Adak!«

»Trete vor mich hin, Adak, ich will dich sehen, Batyr«, sagte der Khan.

Als der Dshigit vor ihn trat, umarmte er ihn mit den Worten: »Lob sei dir für den Schuss, Adak. Bis zum heutigen Tag wusste ich nicht, dass du mein tapferster Krieger bist. Nimm die Sklavin. Sie ist dein!«

»Der Wettstreit ist noch nicht zu Ende, Tachsyr!« sagte Adak. »Das schöne Mädchen hält noch ein Märchen bereit.« Der Khan warf einen Blick auf die Kalmückin, sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen der Kränkung ab, erhob sich und begann: »Ein böser Geier zerstörte das Nest einer Taube und wollte ihre Kücken zerfleischen. Die Taube flog mit Wehgeschrei über die Steppe und begegnete einem Falken. Als der von ihrem Unglück erfuhr, stürzte er sich auf den Geier und zerschmetterte ihm den Kopf. ›Wie können wir dir danken, unser Retter?‹ fragte die Taube. Und der Falke sprach: ›Wenn die Flügel deiner Tochter stark geworden sind, soll sie zu mir kommen, damit ich mir zum Mittag ein Stück Fleisch aus ihrer Brust reißen kann.‹

Viele Tage vergingen. Der Falke hatte den Vorfall längst vergessen, die alte Taube dachte ständig daran und siechte hin, wenn sie sah, wie ihre Tochter heranwuchs. Die Tochter blühte mit jeder Stunde auf, wurde das schönste Mädchen unter den Vögeln. Ein kühner Geierfalke liebte sie, und sie liebte ihn. ›Werde für immer mein!‹ flehte der Falke. Und die junge Taube antwortete: ›Zuerst muss ich meine Pflicht vor dem Falken erfüllen.‹ Und sie erzählte dem Liebsten von ihrer Rettung. ›Begib dich auf den Weg‹, sagte der Geierfalke schluchzend. ›Ein Versprechen steht höher als das Glück. Ich kann dich nicht halten.‹ Tränenüberströmt nahmen Braut und Bräutigam Abschied, die Taube flog über die Steppe und suchte den Falken.

Unterwegs fiel sie ein Habicht an. Er wollte sie zerpicken, doch als er ihre Geschichte vernahm, erweichte ihr Edelmut und ihre Tapferkeit sein Herz, und er ließ sie fliegen. Dann fielen drei Uhus über sie her. Aber auch jene verschonten die Taube, als sie von ihrer Furchtlosigkeit und davon erfuhren, dass der Habicht ihr nichts angetan hatte. In einem fernen Aul fand die Taube endlich den Falken. ›Wer bist du?‹ fragte der Falke die Schöne. Sie erinnerte ihn an seine Forderung. Der Falke aber sagte: ›Nie habe ich einen Vogel gesehen, der schöner wäre und ein reineres Herz hätte als du. Ich scherzte, als ich mir von deiner Mutter dieses Versprechen geben ließ. Ich habe dich als Junges nicht gerettet, um deine Jugend zu schänden. Fliege in Frieden heim zu deinem Bräutigam.‹

Außer sich vor Freude eilte die Taube zurück, zu ihrem geliebten Geierfalken, aber kurz vor ihrem Nest packte sie ein unbarmherziger Berkut und trug sie in ein fremdes Land, ohne auf ihr Flehen und Stöhnen zu achten. Und niemand weiß, was in den grausamen Krallen mit dem armen Vogel geschah.« Es herrschte tiefes Schweigen. Kein Kettenhemd klirrte, keine Welle plätscherte im See, das Steppengras raunte nicht, solange das Mädchen seine Geschichte erzählte und der Khan gedankenverloren dasaß. »Unterhaltsam, dein Märchen«, brachte der Khan endlich hervor. »Kannst du seinen Sinn erraten, Adak?«

»Sehr wohl«, antwortete der Dshigit. »Großmächtiger Khan, verspreche mir vor allen Kriegern, dass du die Gefangene für meine Worte nicht strafst und dich weder an ihr noch an mir dafür rächst.«

»Ich verspreche es!« sagte der Khan, vor Neugier brennend. »Sprich!«

Adak hob an: »Kein Märchen habt ihr gehört, sondern eine traurige wahre Geschichte: Das schöne Mädchen hat von sich selbst erzählt. Als es klein war, plünderte ein Steppenräuber seine Jurte, doch ein großherziger Recke rettete das Mädchen und tötete den Räuber. Im Spaß äußerte der Recke den Wunsch, das Mädchen solle, wenn es volljährig wird, seine Frau werden. Die Zeit verstrich. Das Mädchen wuchs heran und wurde so schön, wie ihr sie jetzt vor euch seht. Sie fasste Liebe zu einem achtbaren Dshigiten. Doch als dieser um ihre Hand anhielt, gestand sie ihm alles, und der Dshigit, der auf sein eigenes Glück verzichtete, sagte: Wortbruch sei für einen ehrlichen Menschen schlimmer als der Tod.

Schwer war der Weg des Mädchens zu dem Recken. Einmal fiel ein Fremdling über sie her, doch ihre ungewöhnliche Geschichte flößte ihm Achtung vor ihr ein, und er rührte sie nicht an. Dann fiel sie in der öden Steppe drei Dieben in die Hände. Von ihrem Mut ergriffen, ließen sie sie frei mit den Worten: ›Sind wir denn schlimmer als wilde Tiere, dass wir uns an einem furchtlosen Mädchen vergreifen, das sogar ein Fremdling verschont hat!‹

Nach langen Irrungen fand die Schöne endlich das Lager des Recken. Was dieser edelmütige Mann ihr bei der Begegnung sagte, wisst ihr aus dem Märchen. Als nun das Mädchen hoffnungsvoll und freudig zu ihrem Bräutigam zurückkehrte, wurdest du, Khan, in der kalmückischen Steppe auf sie aufmerksam, packtest sie wie der gnadenlose Berkut und brachtest sie als Sklavin in ein fremdes Land. Wer weiß, welches Schicksal der Unglücklichen in deinen Händen harrt.«

»Spricht Adak die Wahrheit?« fragte der Khan das Mädchen. »Adak spricht die Wahrheit«, antwortete die Kalmückin. Der Khan wurde böse, unterdrückte aber seinen Zorn und Ärger und sprach: »Was sollen wir lange um das Schicksal der Gefangenen feilschen, wenn es schon entschieden ist. Adak, du hast den Wettstreit gewonnen. Ich gebe sie dir, soll sie deine Frau werden.«

Die Krieger wandten sich neidvoll zu Adak um, und auch die Kalmückin betrachtete ihn aufmerksam, als erwarte sie etwas. Der junge Recke lächelte und sprach: »Khan, bis zum heutigen Tag wusstest du nichts von meiner Kühnheit und ahntest nicht, dass im Kopf des ärmsten deiner Krieger Verstand steckt, mein Herz kennst du aber noch immer nicht. Wie kann ich nehmen, was nicht mir gehört! Bin ich etwa ehrloser als die nichtswürdigen Diebe, die Schutzlose plünderten, doch die junge Braut verschonten. Da du mir aber die Sklavin schenkst, steht mir das Recht zu, über ihr Schicksal zu walten. Schönes Mädchen, besteige mein Pferd und reite zu deinem Liebsten, möge das Glück dir auf deinem Weg und in deinem weiteren Leben hold sein!«

Die Krieger erstarrten bei diesen Worten. Auch der Khan Ablai verstummte. Das Mädchen aber verneigte sich vor Adak und sprach bewegt: »Dank dir, Adak, dem besten aller Menschen, für deine Barmherzigkeit! Ich gestehe, wenn du mich zur Frau genommen hättest, hätte ich mich in den See Borabai gestürzt und auf seinem Grund Erlösung gefunden. Aber du hast mir das Leben und die Freude wiedergeschenkt. Sei mein erwählter Bruder, sei mein Wegbegleiter und Ehrengast auf meiner Hochzeit.« Die Krieger umarmten Adak, begeistert von seiner Großmut, und sie flehten den Khan an, den Gefährten für das Hochzeitsfest freizulassen. Adak und die schöne Kalmückin sprangen auf die Tulpar-Pferde, zogen die Zügel straff und stoben wie der Wind durch die Steppe.