[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die himmlischen Geschwister

Wabi oder der weiße Falke war ein berühmter Jäger, der sich seine einsame Hütte tief in einem finsteren Wald aufgeschlagen hatte. Einst kam er auf der Jagd in eine große Prärie, auf der er schön geformte Fußstapfen erblickte, die er, von Neugier getrieben, weiter verfolgte. Sein Weg führte ihn über weiches Gras und reizende Blumen zu einem geheimnisvollen Kreis, der das Ende seiner Reise bildete, da dort die Fußstapfen aufhörten. Er setzte sich ruhig hinter einen dicken Baum und wartete geduldig der Dinge, die da kommen würden.

Bald hörte er eine süße Musik in der Luft, die klang so schön, wie er sie von Medizinmännern nie gehört hatte; dabei schwebte ein großer Körper langsam der Erde zu, und je näher dieser kam, desto lieblicher klang die Musik. Der betreffende Körper war ein geräumiger Korb, in dem zwölf wunderschöne Mädchen saßen, die, sobald sie auf der Erde waren, munter heraushüpften und unter den Klängen eines hell leuchtenden Feuerballs, der wie eine Trommel geschlagen wurde, allerlei lustige Tänze aufführten.

Obwohl sie alle in gleicher himmlischer Schönheit erglänzten, gefiel Wabi die Jüngste doch am besten, weshalb er sich auch gleich wie toll auf sie stürzte, um sie zu erhaschen; aber die lieben Kinder waren viel schneller als er; wie der Blitz saßen sie alle wieder im Korb und segelten eilig dem Himmel zu.

Am nächsten Tag fand sich Wabi abermals in der Nähe des magischen Kreises ein, hatte sich aber, um die holden Mädchen zu täuschen, in ein Opossum verwandelt. Der Korb senkte sich auch wieder herunter, und die netten Geschwister tanzten noch anmutiger als am Tag vorher. Wabi kroch inzwischen langsam heran, aber sobald sie ihn bemerkten, hüpften sie wieder in ihren Korb, und fort ging's, hinauf in die Höhe. Das betrübte Wabi so sehr, dass er in der darauf folgenden Nacht kein Auge zutun konnte.

Als er sich am Morgen darauf wieder in aller Frühe an jenem Ort eingefunden hatte, bemerkte er einen alten halbverfaulten Baumstamm in der Nähe des Kreises liegen, der von einer Menge Mäuse bewohnt war. Er bewunderte die kleinen schnellfüßigen Tierlein und dachte bei sich: Eine solche Gestalt wird nicht so leicht auffallen und von den schönen Mädchen auch nicht weiter beachtet werden. Er schleppte also den Baumstumpf in die Mitte des Kreises und verwandelte sich in ein niedliches Mäuslein. Kurz danach ertönte die Musik, und die himmlischen Geschwister ließen sich wieder hernieder.

»Aber wo kommt denn dieser alte Baumstamm her?« sagte die Jüngste. »Der war doch gestern nicht da.«

Doch die anderen achteten nicht darauf, sondern setzten sich neben ihn und schlugen mit ihren Stöcken darauf, so dass die erschrockenen Mäuse eilig fortliefen. Die Mädchen eilten ihnen nun nach und töteten alle mit Ausnahme Wabis, der sich schnell seine eigentliche Gestalt wiedergab und die jüngste seiner Verfolgerinnen mit beiden Armen festhielt.

Als dies ihre Geschwister sahen, sprangen sie schnell in ihren himmlischen Korb, der sie bald in Sicherheit brachte.

Wabi war nun überglücklich und bot seine ganze Liebenswürdigkeit auf, seiner Frau die himmlische Heimat vergessen zu machen. Er wischte ihr in zärtlichster Weise die Tränen aus den Augen, erzählte ihr die interessantesten Jagdabenteuer, machte ihr aus den feinsten Fellen ein weiches Lager in seinem Wigwam und hatte auch mit der Zeit dafür die beseligende Genugtuung, dass es ihr in seiner Nähe gefiel und sie ihn ebenfalls liebte.

So verstrichen Sommer und Winter schnell, und als der Frühling seine Blumen erspriessen ließ, blühte auch in Wabis Wigwam ein allerliebster Knabe, der Vater wie Mutter gleich viel Freude machte.

Aber am Herzen des Weibes nagte doch sichtlich ein geheimer Kummer; sie war eine Tochter der Sterne, und ihr alter Vater dort oben weinte täglich bittere Tränen zu ihr herunter. Doch sie sagte ihrem armen Mann nichts davon.

Als sich dieser nun einst auf der Jagd befand und sie ihren Vater wieder laut weinen und wehklagen hörte, konnte sie sich der Sehnsucht nicht enthalten, ihn wieder zu sehen. Sie flocht also einen magischen Korb, tat allerlei Kuriositäten der Erde hinein, nahm ihren Sohn an der Hand, ging damit hin in den heiligen Kreis und ließ sich durch ihren wehmütigen Gesang hinauf in den Himmel tragen.

Wabi hörte diesen Gesang, und da er die Stimme sehr wohl kannte, eilte er mit Windesschnelle zurück - aber er kam zu spät; kaum dass er sah, wie sie von den Sterngeistern in Empfang genommen wurde. Einsam und verlassen stand er nun da; niemand hörte seine Klagetöne, und niemand sah seine Tränen, die er ein ganzes Jahr lang weinte. Kein himmlisches Wesen ließ sich mehr in seiner Nähe blicken; der magische Kreis blieb unbesucht, und seine Frau schien ihn unter den Freuden des Himmels auf immer vergessen zu haben.

So war es denn auch. Nur ihr kleiner Sohn erinnerte sie zuweilen an das Leben auf der Erde und äußerte sogar, als er größer und stärker geworden war, einmal den Wunsch, hinab zu gehen und seinen Vater zu besuchen.

Das gefiel seinem Großvater sehr, und er erlaubte auch seiner Tochter, mitzureisen. Darauf setzten sie sich in den magischen Korb und ließen sich gerade vor der Hütte Wabis nieder, der darüber vor Freude ganz außer sich war. Sie erzählten ihm nun von den Schönheiten der Sterne und den oberen Regionen, wo man ihn ebenfalls zu sehen wünsche; doch solle er, wenn er kommen wolle, von jedem Tier und jedem Vogel der Erde irgendein Stück - entweder Fuß, Flügel oder Kralle - mitbringen.

Wabi war's zufrieden, ging Tag und Nacht auf die Jagd und hatte bald die verlangten Gegenstände gesammelt. Ein magischer Korb trug ihn dann ebenfalls in die Höhe, wo er vom Chief der Sterne äußerst freundlich empfangen wurde. Dann wurde ein großes Fest ihm zu Ehren veranstaltet, und der allmächtige Gastgeber befahl allen Eingeladenen, sich ein beliebiges Stück von einem Erdentier auszusuchen, was denn auch geschah.

Darauf gab es denn eine ungeheure Konfusion, denn diejenigen, die sich Flügel genommen hatten, wurden Vögel und flogen fort; diejenigen, die Schwänze oder Klauen erwischt hatten, wurden zu verschiedenen Vierfüßlern, je nach dem Ursprung des betreffenden Stückes, usw.

Wabi nahm die Feder eines weißen Falken, und Frau und Sohn folgten seinem Beispiel. Danach flogen sie herab auf die Erde und wurden die Stammeltern des berühmten Stammes der Wabis oder der Weißen Falken.