[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die Hexe als Stiefmutter

Es lebte einmal ein reicher Khan. Doch er hatte nur einen einzigen Sohn. Als dieser sechzehn Jahre alt wurde, starb seine Mutter. Der Khan beschloss, ein zweites Mal zu heiraten, denn er wollte gern noch mehr Kinder haben. Nur vermochte er keine passende Frau zu finden. Eines Tages, als der Khan auf seinem Balkon saß, betrat ein altes Weib den Hof. Der Khan befahl, ihr ein Almosen zu geben. Doch die Alte blieb weiter auf dem Hof stehen und schaute fortwährend zum Khan hinauf. Da befahl er, die Alte davonzujagen. Sie aber trug den Bediensteten auf, dem Khan zu melden, dass sie eine Wahrsagerin sei und prophezeien könne, wo der Khan eine neue Frau fände. Die Diener übermittelten dem Khan die Worte des alten Weibes, und jener befahl, ihm die Wahrsagerin vorzuführen. Sprach die Alte zum Khan: »Du wirst ein schönes Mädchen heiraten, das im Wald in einer Hütte lebt. Auf der Jagd wirst du dem Mägdlein begegnen.« Die Alte aber war eine böse Hexe, die ihre Tochter mit dem Khan vermählen wollte. Wieder daheim, erzählte die Hexe alles ihrer Tochter und befahl ihr, auf das Erscheinen des Khans zu warten.

Der Khan hatte der Alten Glauben geschenkt und machte sich vier Tage später auf zur Jagd in den Wald, den ihm die Hexe beschrieben haue. Er fand tatsächlich die Hütte und erblickte darin ein wunderschönes Mädchen. Sofort war er in Liebe zu ihr entbrannt. »Wer bist du, schönes Kind, und warum lebst du hier?« fragte der Khan. »Ich bin die Tochter eines Khans. Nach seinem Tode hat mich die Stiefmutter, die mich loswerden wollte, mit einem Diener in den Wald geschickt und ihm befohlen, mich zu töten. Doch der Diener erfüllte den Auftrag nicht. Als er starb, blieb ich allein in der Hütte zurück und lebe seither hier im Wald.« Der Khan sagte der schönen Jungfrau, er wolle sie auf der Stelle freien, wenn sie nur zustimmen würde. Das Mädchen willigte ein, der Khan nahm sie mit sich und vermählte sich mit ihr drei Tage später, nachdem er nach moslemischer Sitte den Kebin mit der schönen Maid abgeschlossen hatte.

Am zweiten Tag nach der Hochzeit verschwand von der Koppel des Khans eine Stute. Als man dies dem Khan meldete, befahl er, den Dieb zu finden. Die Hirten suchten alles ab, doch den Dieb fanden sie nicht. In der Nacht darauf verschwand eine zweite Stute. Nun befahl der Khan seinem Sohn, nachts die Pferde zu bewachen. Der Sohn des Khans nahm ein Gewehr, kletterte auf einen hohen Baum und beobachtete alles rundum. Nicht das geringste Rascheln entging ihm. Um Mitternacht vernahm er einen Laut, und im selben Augenblick flog ein großer Vogel über ihn hinweg. Der Sohn des Khans legte an, schoss, und der Vogel verschwand. In dieser Nacht blieben die Stuten vollzählig.

Morgens erblickte der Sohn des Khans ein paar Blutstropfen auf der Erde. Da wusste er, dass er den Vogel verwundet hatte. Er ging heim und berichtete dem Vater, was geschehen war. Beim Mittagsmahl bemerkte der Jüngling, dass die Stiefmutter bleich war und dass sie einen Finger verbunden hatte. In der nächsten Nacht ging der Sohn des Khans wieder auf die Koppel, um die Pferde zu bewachen. Kaum hatte er sich dem Gestüt genähert, da bemerkte er eine seltsame Gestalt, die sich eilig davonmachte. Der Jüngling stellte ihr nach, vermochte sie jedoch nicht einzuholen. Plötzlich war die Gestalt wie vom Erdboden verschwunden. Gegen Mitternacht vernahm er einen ähnlichen Laut wie in der Nacht zuvor. Mit verhaltenem Atem wartete der Jüngling, was weiter geschehen würde. Plötzlich flog ein großer Vogel herbei und setzte sich auf die Erde. Sofort rückte ein Stein, der in der Nähe lag, beiseite, und der Vogel schlüpfte in eine Höhle. Daraufhin rückte der Stein wieder an seinen alten Platz zurück. Ohne lange zu überlegen, schob der Jüngling den Stein fort und kletterte ebenfalls hinab in die Erde. Zu seiner Verwunderung befand er sich in einer tiefen Schlucht. Dort erblickte er die Stiefmutter und das alte Weib, das seinem Vater gewahrsagt hatte. Als die Stiefmutter den Sohn des Khans bemerkte, verwandelte sie sich in einen Vogel und flog davon. Die Hexe aber stürzte sich auf den Jüngling und versuchte, ihn zu erdrosseln. Der Jüngling stieß ihr seinen Dolch in die Brust, und die Alte fiel tot zu Boden. In der Höhle erblickte der Jüngling viele Knochen von Tieren und Menschen. Hier hatten die Hexe und ihre Tochter also die Opfer verzehrt.

Am nächsten Morgen trat der Jüngling vor seinen Vater, um ihm alles zu erzählen, doch der Khan verbot ihm den Mund und ließ ihn vom Hofe jagen. Denn die Stiefmutter hatte dem Khan schlimme Dinge über den Sohn vorgelogen. Verzweifelt sattelte der Sohn des Khans sein Ross, nahm seine Waffe und ritt ins Ungewisse. Lange war der Jüngling unterwegs. Am zehnten Tag gelangte er in einen Aul und trat ins erstbeste Haus. Dort wohnte eine alte Frau. Freundlich nahm sie den Gast auf, bewirtete ihn mit Chinkaly und sprach folgendermaßen zu ihm: »Unser Khan besitzt eine Tochter von solcher Schönheit, wie man sie kein zweites Mal auf Erden findet. Die Jungfrau hat verkündet, dass sie nur denjenigen ehelichen werde, der dreimal mit seinem Pfeil ins Ziel trifft. Verfehlt der Schütze jedoch ein einziges Mal sein Ziel, so wird er den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Zwanzig junge Männer fanden bereits auf diese Weise den Tod. Nun wagt es keiner mehr, um die schöne Jungfrau zu werben.« Tags darauf verkleidete sich der Jüngling als Bettler und ging auf die Weide unweit des Khan-Palastes. Das Töchterlein des Khans stand auf dem Balkon, neben ihr zwei Löwen, ans Gitter gebunden. Als das schöne Mägdelein des Bettlers ansichtig wurde, befahl sie den Dienern, ihn fortzujagen, doch jener ließ der Tochter des Khans mitteilen, dass er gekommen sei, um mit seinem Pfeil ins Ziel zu treffen. Spöttisch lachte die Schöne. »Fein, meine Löwen sind heute noch hungrig. Ich gestatte dir, dein Glück zu versuchen, wenn du es wünschst.«

Der Jüngling stellte sich an den ihm gewiesenen Platz. In einer Entfernung von tausend Schritt wurden drei Äpfel bereitgelegt, die er mit seinem Pfeil treffen sollte. Mit geübter Hand spannte der Jüngling den Bogen und zog den ersten Pfeil ab, der den Apfel durchbohrte. Alle Anwesenden waren von diesem Schuss beeindruckt. Der Jüngling spannte den Bogen zum zweiten Mal und traf den zweiten Apfel. Auch beim dritten Male blieb ihm das Glück hold. Die schöne Jungfrau stand starr vor Erstaunen. Entsprechend ihrem Gelübde musste sie jetzt die Frau eines Bettlers werden! Kühn betrat der Jüngling den Balkon und bat die holde Jungfrau, sich nicht zu grämen. Dann zog er einen kostbaren Ring von seinem Finger, reichte ihn der Schönen und verschwand in der Menge. Die Jungfrau bemerkte nur seine strahlenden Augen und dachte bei sich, dieser Bettler müsse in Wirklichkeit der heldenhafte Nart aus dem Märchen sein.

Der Sohn des Khans kehrte zu der alten Frau zurück, schlüpfte aus den Lumpen und legte sein reiches Gewand an. Er versprach der alten Frau, in drei Tagen zurückzukehren, und verließ den Aul.

Gegen Abend erblickte er einen uralten Greis, der am Wegesrand saß und bittere Tränen vergoss. »Weshalb weinst du?« fragte mitleidig der Jüngling. »Wie soll ich nicht weinen, wenn morgen der Ashdacha meine einzige Tochter vertilgen will! Alle drei Tage kommt er in unseren Aul und nimmt uns unsere Kinder. Meine Tochter wird sein zwanzigstes Opfer sein.«

»Wir wollen gemeinsam in den Aul gehen«, schlug der Jüngling vor. Doch der Greis schüttelte ablehnend den Kopf. Er war außerstande, die Qualen seiner Tochter mit an zu sehen. Endlich überredete der Jüngling den Alten, und sie gingen gemeinsam in das Haus des Unglücklichen. Den ganzen Abend versuchte der Sohn des Khans, den alten Mann und dessen Frau zu beruhigen, und versicherte ihnen, dass er es dem Ashdacha nicht gestatten werde, ihre Tochter zu entführen. Doch die bedauernswerten Eltern schenkten dem Jüngling keinen Glauben. Morgens bereitete sich der Jüngling auf den Kampf mit dem Drachen vor.

Um die Mittagszeit erschien der schreckliche Ashdacha und begab sich geradewegs zur Sakija des alten Mannes. »He, fort aus meinem Weg!« schrie der Ashdacha. »Solange Leben in mir ist, setzt du keinen Schritt in dieses Haus!« erwiderte der Jüngling. Da stürzte sich der Drache auf den Verwegenen. Eine halbe Stunde währte der Zweikampf. Endlich gelang es dem Jüngling, dem Drachen sein Schwert bis zum Knauf in die Brust zu stoßen. Mit einem schrecklichen Schrei stürzte das Untier tot zu Boden. Voller Aufregung hatten die beiden alten Leute den Zweikampf verfolgt. Als der böse Drache besiegt am Boden lag, liefen sie zu dem Jüngling und umarmten ihren Befreier. Die Kunde von dem Verwegenen ging wie ein Lauffeuer durch die Aule. Von weit und breit strömten die Menschen herbei, um dem Jüngling zu danken. Sie boten ihm reiche Geschenke zum Lohn, doch er schlug alles aus.

Inzwischen verbreitete sich in dem Aul, in welchem der Jüngling seine Braut, die Tochter des Khans, zurückgelassen hatte, das Gerücht, der Bräutigam sei spurlos verschwunden. Sofort erschienen vor der Tochter des Khans drei junge Leute, Söhne angesehener reicher Eltern. Jeder von ihnen behauptete, er habe sich als Bettler verkleidet und die Apfelprobe bestanden. Doch da sie zu verschiedenen Zeiten kamen, wussten die falschen Helden nichts voneinander. Die Braut ließ jeden in eine gesonderte Kammer führen. Am dritten Tag kam der echte Bräutigam in den Aul zurück. Er kehrte in der Sakija der alten Frau ein und begab sich sogleich zu seiner Braut. Die Tochter des Khans erkannte an den strahlenden Augen denjenigen wieder, der ihr den Ring geschenkt hatte. Ihre Freude über die glückliche Rückkehr war so groß, dass sie ihm vor aller Welt um den Hals fiel. Der Sohn des Khans entdeckte sich seiner Braut und erzählte, wie er in diese Gegend verschlagen worden sei. Darauf berichtete ihm die Braut von den drei falschen Freiern, die ihrer Antwort harrten. Sie ließ alle drei rufen. Nun erst sahen sie einander. »Ich habe nur einen Bräutigam, ihr aber seid drei. Wer von euch ist der echte?« fragte die Tochter des Khans und fügte hinzu: »Denjenigen, der lügt, will ich meinen Löwen zum Fraß vorwerfen!« Natürlich konnte keiner der drei beweisen, dass er der Bräutigam war. Deshalb beschloss das Mädchen, sie alle den Löwen vorzuwerfen, doch der Sohn des Khans brachte sie von diesem Vorhaben ab und riet ihr, jedem auf dem Rücken ein Mal einzubrennen: »Dieser Mann ist ein feiger Sklave.« So geschah es.

Dann feierte das junge Paar eine prächtige Hochzeit, und drei Tage danach beschloss der junge Mann, mit seiner Frau nach Hause zurückzukehren. Die Jungvermählten nahmen viel Gold und Gut mit sich. Auch die Löwen nahmen sie mit, denn die junge Frau mochte sich nicht von ihnen trennen. Als der Jüngling im Palast des Vaters anlangte, trat er zu seiner größten Bestürzung keinen der alten Diener mehr an. Endlich gab ihm ein Mann folgenden Bescheid: »Sie sind einer nach dem anderen des Nachts spurlos verschwunden, doch wohin sie gegangen sind und weshalb, das weiß keiner zu sagen.« Und voller Wehmut fügte der Befragte hinzu: »Der Khan trauert so aufrichtig um seinen verschollenen Sohn, dass er seit einer Woche schwerkrank daniederliegt.« Der Jüngling stieg in das obere Stockwerk, um seinen Vater wieder zu sehen. Auf dem Balkon erblickte er die Stiefmutter, die dick und unförmig wie ein Heuschober geworden war. Der Jüngling bat seine Gemahlin, ihre Löwen auf die Stiefmutter zu hetzen. Die wilden Tiere zerrissen das böse Weib im Handumdrehen. Als der Khan seinen Sohn erkannte, freute er sich von ganzem Herzen. Immer wieder Schloss er ihn und die junge Schwiegertochter in seine Arme und erzählte ihnen, wie schrecklich sein Leben gewesen sei, nachdem ihn der Sohn verlassen hatte. Der Jüngling wiederum berichtete dem Vater, wie er die Stiefmutter in Vogelgestalt gesehen und die Wahrsagerin, die alte Hexe, getötet habe. Da endlich merkte der Khan, was es mit seiner zweiten Frau auf sich gehabt hatte und warum in jeder Nacht Tiere und Menschen spurlos verschwunden waren. Endlich sprach der Khan: »Mein lieber Sohn, ich bin alt und will dir mein Khanat vererben!« Der Jüngling ließ ein großes Fest ausrichten und lud viele Gäste zum Schmaus.

Auch ich war geladen und erhielt von der jungen Gebieterin einen goldenen Ring zum Geschenk. Ich nahm ihn für meine Frau mit. Doch unterwegs traf ich die Müllersfrau. Die bat mich so inständig, ihr den Ring zu lassen, dass ich ihr diesen Wunsch nicht abschlagen konnte.