[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die Häuptlingstochter Nsanga-ya-tsuma

Ein Mann mit dem Namen Manyike hatte drei Frauen. Alle Frauen gebaren Kinder: Die erste brachte ein Mädchen zur Welt, die beiden anderen bekamen Ratten statt Kinder. Da sagte Manyike zu seiner ersten Frau: »Auch du sollst mir Kinder gebären, wie man sie gewöhnt ist. Die Kinder, die von den anderen Frauen geboren wurden, sind die richtigen. Geh und wirf dein Kind in den Fluss!« Bald gebar die erste Frau wieder ein Mädchen, doch Manyike befahl: »Das ist kein richtiges Kind, geh und wirf es ins Wasser.« Die Frau tat das, schweren Herzens. Inzwischen fraßen die Rattenkinder alles im Hause auf: Decken und Matten, Kleider und Saat. Als die erste Frau noch einmal ein Mädchen gebar und Manyike es wieder ablehnte, wurde die Frau wütend. Sie fragte ihren Mann: »Glaubst du, diese Ratten sind Kinder? Es sind Tiere, obwohl sie in einem Topf kochen, Gemüse einstampfen, essen und die Suppe trinken.« Dann nahm sie ihr Kind, ging mit ihm zum Fluss und sang: »Krokodil, Krokodil, nimm mir meine Tochter ab, ihr Vater hasst sie, Manyike liebt nur Ratten!« Das Krokodil kam zum Vorschein und fragte: »Was wirst du mir geben, wenn ich sie für dich versorge?« Die Mutter des Kindes antwortete: »Sie wird deine Frau, und du wirst mein Schwiegersohn.« Das Krokodil war einverstanden, es nahm das Kind in Empfang und verschluckte es, so dass es in seinem Bauch geborgen war. Die Mutter lief weinend nach Hause. Manyike wurde darüber böse und sagte: »Du beweinst etwas, das überhaupt kein Kind ist. Siehst du nicht, die wirklichen Kinder bevölkern das ganze Haus.« Die Ratten fraßen inzwischen alles im Hause auf. Nach einiger Zeit ging die Mutter wieder zum Fluss, um ihr Kind zu sehen. Sie sang: »Krokodil, Krokodil,
zeige mir meine Tochter,
die von Manyike gehasst wird,
denn er liebt nur Ratten.
Aber die Ratten lecken sich die Pfoten,
wenn sie die Suppe schlürfen.«
Das Krokodil kam ans Ufer, setzte sich zu ihr und zeigte ihr das Kind, das inzwischen zu einem Mädchen herangewachsen war. Die Mutter freute sich und sagte: »Versorge sie mir gut, lebt wohl, ich gehe!« Dann lief sie weinend nach Hause, und wieder ärgerte sich Manyike darüber. Die Mutter aber war sehr traurig, obwohl sie wusste, dass ihr Kind gut versorgt heranwuchs.

Einige Zeit später bereitete sie ein Essen aus Erdnüssen und Bohnen, füllte es in einen Topf, ging zum Fluss und tat so, als ob sie Wasser schöpfen wolle. Sie wurde jedoch von einem Mann beobachtet. Er sah, wie sie sich ans Ufer setzte und hörte, wie sie ihr Lied sang. Das Krokodil antwortete ihr: »Ja, ich habe dich gehört. Ich kämme ihr noch die Haare Und kleide sie noch. Du sollst deine Tochter sehen.« Zusammen mit dem Mädchen stieg das Krokodil aus dem Wasser, und sie setzten sich in den Sand. Die Frau freute sich, als sie sah, dass ihre Tochter inzwischen erwachsen geworden war. Aber das Krokodil sprach: »Heute ist es mir hier unbehaglich; ich sehe den Schatten eines Menschen am Ufer; ich muss mit meinem Kind fortgehen.« Darauf tauchte es mit dem Mädchen unter Wasser. Die Mutter ging nach Hause. Der Mann, der alles beobachtet hatte, eilte zu Manyike und sagte: »Ich habe eine große Geschichte entdeckt! Die Tochter deiner ersten Frau lebt! Und wie schön sie gewachsen ist! Welcher Häuptling auch kommen wird, sie wird keinen nehmen.« Manyike fragte: »Hast du das alles wirklich genau gesehen?« Und als der Mann es nochmals versicherte, meinte er: »Wenn das so ist, will ich alle Rattenkinder töten. Was für Kinder sind das! Sie fressen alles auf, selbst meine Saat. lass uns gehen, damit du mir alles zeigen kannst. Und fordert das Krokodil eine Zahlung, so werde ich zahlen. um meine Tochter zurückzubekommen.«

Am nächsten Tag folgten Manyike und jener Mann heimlich der Mutter des Mädchens und hörten, wie sie am Fluss ihr Lied sang. Das Krokodil erschien auf der anderen Seite des Flusses und sagte: »Ich habe wieder Schatten von Menschen gesehen.« Dann tauchte es mit dem Mädchen aus dem Wasser auf, und sie setzten sich zu der Mutter. Manyike sah, dass seine Tochter ein großes und schönes Mädchen war. Da freute er sich und sprach zu seinem Begleiter: »lass uns nach Hause gehen.« Dort angekommen, röstete er Kürbiskerne, zerstampfte sie, schüttete das Mehl in eine Schüssel und rief seine Rattenkinder. Als sie den Duft der Kürbiskerne rochen, rannten alle herbei und drängten sich gierig beim Essen. Manyike tötete die Ratten, warf sie in einen Topf und kochte sie. Als die Mütter der Rattenkinder vom Felde zurückgekehrt waren, nahm er den Topf und stellte ihn vor sie hin: »Hier ist Fleisch, esst! Und was dich betrifft«, wandte er sich an seine erste Frau, »du kannst zusehen, wie sie essen.« Die Frauen aßen, fragten aber bald nach ihren Kindern. Manyike antwortete: »Sie haben sich bereits satt gegessen und sind spielen gegangen.« Aber kaum waren die Frauen mit dem Essen fertig, sagte ihnen Manyike die Wahrheit. Da fingen die Frauen an zu weinen. Manyike rief nun seine Verwandten zusammen, erzählte ihnen von seiner Tochter und sagte darin: »lasst uns alle für ein Geschenk sammeln, das wir dem Krokodil überreichen können.« Jeder brachte nun etwas herbei. Zu seiner ersten Frau sprach Manyike: »Du brauchst jetzt nicht mehr zu weinen. Die anderen Frauen haben mich immer so lange gequält, bis ich von dir verlangt hatte, dass du dein Kind in den Fluss wirfst. Komm, lass uns nun zusammen zum Fluss gehen und das Krokodil um unser Kind bitten.«

Am Fluss sang die Frau ihr Lied, und sogleich antwortete das Krokodil: »Ja, ich habe dich gehört. Ich kämme sie noch, ich kleide sie noch. Ich werde dir deine Tochter zeigen.« Dann brachte es das Mädchen aus dem Wasser, setzte sich ans Ufer und sprach: »Wenn ich sie euch geben soll, so müsst ihr zahlen.« Manyike überreichte die Gabe, und das Krokodil war zufrieden. Dann sagte es: »Ich werde euch noch einiges über das Mädchen erzählen, damit ihr wisst, wie ihr sie behandeln müsst. Sie ist nicht gewöhnt, die üblichen Arbeiten wie Stampfen, Kochen und Holzholen zu verrichten. lasst ihr sie arbeiten, wird über euch ein großes Unglück kommen.« Manyike war mit allem einverstanden und brachte seine Tochter nach Hause. Dort erhoben sich große Freude und Jubel, als die anderen das schöne Mädchen sahen. Man gab ihr den Namen Nsanga-ya-tsuma. Sie brauchte weder aufs Feld zu gehen, noch musste sie kochen, sie blieb zu Hause und nähte.

Viele Häuptlinge hörten von der Geschichte Nsanga-ya-tsumas und sagten zueinander: »Der Häuptling, der Manyikes Tochter heiraten darf, wird glücklich sein. Sie ist wunderschön.« Viele kamen, um sie zu freien, aber Manyike verweigerte sie ihnen, weil er sich der Worte des Krokodils erinnerte. Eines Tages kam ein Häuptling, der mit Manyike verwandt war. Er warb um Nsanga-ya-tsuma, und Manyike war schließlich einverstanden. Nachdem der Bräutigam eine große Summe für seine Braut bezahlt hatte, wurde er von Manyike sehr bestimmt darauf hingewiesen, dass seine Tochter keine schwere Arbeit verrichten, sondern nur zu Hause bleiben und Decken nähen dürfe. Nsanga-ya-tsuma zog mit ihrem Mann fort, und sie gelangten schließlich in sein Dorf. Nachdem die Beiden drei Tage zusammen waren, musste sich der Häuptling auf eine Reise begeben. Da begannen seine anderen Frauen Nsanga-ya-tsuma zu schelten: »Sollen wir für dich arbeiten, während du immer nur herumsitzt? Hier ist gegorene Hirse, geh und stampfe die Hirse, dann kannst du deinem Mann Bier bereiten.« Nsanga-ya-tsuma weigerte sich, doch die anderen Frauen drängten umso mehr. Da legte sie ihren Schmuck ab, nahm Stößel und Mörser, goss die Hirse in den Mörser und begann zu stampfen. Während sie arbeitete, sang sie: »Ich hörte von der Mutter, dass ich nicht stampfen darf, aber ich Unglückliche muss es tun.« Da sank der Mörser in dem Wasser, das sich unter ihm gesammelt hatte, langsam weg, auch Nsanga-yatsuma begann zu versinken. Ein kleines Mädchen, das alles beobachtet hatte, lief zu den alten Leuten im Dorf und rief: »Nsanga-ya-tsuma versinkt in der Erde. Der Mörser steht schon halb im Wasser.« Während das kleine Mädchen berichtete, war Nsanga-ya-tsuma schon bis zur Brust im Wasser versunken. Bald war sie völlig verschwunden, nur ab und zu tauchte eine Hand mit dem Stampfer auf, da sie immer weiter arbeitete. Die Leute im Dorf bemerkten nun das Wasser, das immer stärker aus der Erde quoll und bald alle Häuser überschwemmt hatte. Sie liefen zu den höher gelegenen Stellen des Dorfes, kletterten auf die Bäume und fingen an, jene Frauen zu beschimpfen, die Nsanga-ya-tsuma zum Stampfen gedrängt hatten: »Ihr werdet es mit dem Häuptling und mit Manyike zu tun bekommen.«

Als Nsanga-ya-tsumas Mann nach Hause zurückkehrte, fand er sein Haus nicht mehr, überall war Wasser, man konnte nichts mehr erkennen. In seiner Angst lief er zu Manyike und sagte: »Dein Kind ist verloren! Als ich nicht zu Hause war, haben meine Frauen ihr Hirse zum Stampfen gegeben.« Manyike rief seine Brüder, die Mutter Nsanga-ya-tsumas und ihre Verwandten zusammen, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Eine kleine Schwester Nsanga-ya-tsumas, die Ausschlag hatte, folgte ihnen. Man schlug sie und schickte sie zurück. Das Mädchen weinte, ließ sich aber nicht davon abbringen, ihnen zu folgen. Manyike und seine Leute fanden anstelle des Dorfes nur noch einen reißenden Fluss. Nacheinander versuchten alle mit beschwörenden Worten das Wasser zum Stehen zu bringen, doch es war vergebens. Erst nachdem das kleine Mädchen gerufen hatte, verschwand das Wasser, und die Erde fing an zu trocknen. Als der Stößel von Nsanga-ya-tsuma sichtbar wurde, sagte das kleine Mädchen: »Ich werde jetzt aufhören zu rufen, weil ihr mich geschlagen und zurückgeschickt habt.« Da baten alle inständig, sie solle doch fortfahren zu rufen. Da verlangte das Kind, dass man ihren Ausschlag lecke. Man erfüllte ihre Forderung, und bald darauf tauchte Nsanga-ya-tsuma aus dem Wasser auf, erst der Kopf, dann der Körper und die Beine. Alle jubelten und freuten sich sehr. Und das kleine Mädchen wurde mit Geschenken überhäuft, weil es Nsanga-ya-tsuma gerettet hatte.