[swahili, "Geschichte, Legende"]

Die drei Schwestern

In einem fernen Land lebten einst drei Schwestern. Sie stritten sich von früh bis spät, wer von ihnen wohl die Schönste wäre, und da sie sich nicht einigen konnten, beschlossen sie, die Sonne um Rat zu fragen. »Sonne, Sonne!« riefen sie. »Wer ist die Schönste von uns dreien?«

»Die jüngste, liebe Töchter!« erwiderte die Sonne. Diese Entscheidung verdross die älteren Schwestern, sie fragten zum zweiten und. auch zum dritten Male, aber immer gab die Sonne die gleiche Antwort. Da spieen die älteren Schwestern Gift und Galle und vereinbarten heimlich, die Jüngste umzubringen. Sie sagten ihr, dass sie die Absicht hätten, eine Gedenkfeier für die verstorbene Mutter auszurichten, kochten eine Kutja - eine Gedächtnisspeise - aus Reis, Honig und Rosinen, buken Fladen, verschnürten die Speisen in Bündel und machten sich auf den Weg, um nach alter Sitte ihren Verwandten und Bekannten die Kutja zubringen, auf dass ein jeder, der von ihr kostete, der Verstorbenen mit einem guten Wort gedachte und für ihre Seele betete.

Als sie in einen Wald kamen, lenkten die beiden älteren Schwestern ihre Schritte so, dass sie scheinbar zufällig mitten ins tiefste Dickicht gerieten. »Ach, Schwesterchen, wir haben ja die Gedächtniskerzen daheim vergessen!« sagten sie dann. »Nun müssen wir umkehren und sie holen. Bleib du einstweilen mit den Bündeln hier, wir sind bald wieder zurück.« Die Jüngste gehorchte und wartete geduldig. Der Tag verging, es dämmerte, aber von ihren Schwestern war noch immer nichts zu sehen. Die heimtückischen Mädchen wussten nämlich, dass wilde Tiere nachts den Wald durchstreiften, und rechneten darauf, dass sie die Jüngste zerfleischen würden.

Als es schon fast Nacht geworden war, sah die jüngste Schwester ein weißes Lamm durch den Wald springen. Sie lockte es mit der Kutja zu sich, damit es ihr die Einsamkeit ein wenig vertriebe. Das Lamm sättigte sich und wollte weiterlaufen. Da sagte sie sich: So ich hier bleibe, gerate ich in Gefahr, von wilden Tieren zerfleischt zu werden. Lieber will ich hinter dem Lamm hergehen, vielleicht führt es mich zu einer menschlichen Behausung. Sie stand auf, folgte dem Lamm, und siehe, es lief schnurstracks auf ein Haus zu. In diesem Hause wohnten neun Brüder, die aber nicht daheim waren, als die jüngste Schwester an ihre Tür klopfte. Sie trat ein, hielt Umschau und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, herrschte doch überall eine gräuliche Unordnung. Flugs nahm sie Besen und Scheuertuch, fegte und putzte das Haus von oben bis unten blitzblank, kochte das Abendessen und versteckte sich dann in einem heimlichen Winkel.

Als die neun Brüder heimkamen, staunten sie gar sehr, dass ihr Haus blitzsauber war und das Essen fertig auf dem Tisch stand. »Wer in unserem Hause weilt, der zeige sich!« riefen sie. Aber das Mädchen zeigte sich nicht, blieb im Verborgenen. »Derjenige, der unser Haus putzte und uns das Essen kochte, wird sich womöglich auch heute wieder einstellen, liebe Brüder!« sagte der Älteste am nächsten Morgen. »Darum will ich hier bleiben und Wache halten, ihr aber geht getrost zur Arbeit.« Den ganzen Tag über hielt er Wache, doch gegen Abend ward er müde, und ihm fielen die Augen zu. Darauf hatte das Mädchen nur gewaltet. Leise wie ein Mäuslein verließ es sein Versteck, putzte und scheuerte, kochte und briet, und hernach verbarg es sich wieder. Als der älteste Bruder aus dem Schlafe fuhr, sah er, dass alle Arbeit im Haus getan war. Was soll ich meinen Brüdern sagen? dachte er. Ich hab verschlafen, so eine Schande!

Am folgenden Tage blieb der zweite Bruder im Hause zurück. Aber auch er brachte es nicht fertig, die ganze Zeit über die Augen offen zu halten. Dem dritten und vierten, dem fünften und sechsten, dem siebenten und achten erging es ebenso, keiner vermochte das Geheimnis zu enträtseln.

Schließlich kam der neunte, der jüngste Bruder an die Reihe. Wie das wohl zugeht, dass meine älteren Brüder zwar Wache hielten, aber niemand fingen? überlegte er. Das müsste mir besser gelingen! Er wartete und wartete, doch keiner kam. Da legte er sich auf die Ofenbank, tat etliche tiefe Schnarcher, als schliefe er felsenfest, und horchte gespannt. In der Annahme, er wäre wirklich eingeschlafen, verließ die Jungfrau ihr Versteck und machte sich eifrig ans Reinemachen und Kochen. Da sprang er auf, lief zu ihr hin und nahm sie bei der Hand. »Du bist so gut zu uns!« rief er. »Du sollst unsere Schwester sein!« Auch die übrigen Brüder freuten sich ihrer, als sie am Abend heimkehrten, und nahmen sie in ihre Mitte auf. Von diesem Tage an lebte sie als ihre jüngste Schwester bei ihnen, und bald hatten alle Brüder sie herzlich lieb gewonnen. Sie überschütteten sie mit Geschenken, und damit sie sich tagsüber, wenn sie allein war, nicht langweilte, brachten sie ihr zwei Tauben, mit denen sie spielen konnte.

Über kurz oder lang erfuhren die älteren Schwestern, dass die Jüngste noch am Leben war und nun als Hausfrau einem stattlichen Hauswesen vorstand. Das erregte ihren Neid, und sie beschlossen erneut, sie umzubringen. Zu diesem Behufe buken sie einen Brotlaib, getränkt mit Gift, und sandten ihn durch ein altes Weib, das mit ihnen im Bunde war, zu ihrer Schwester hin. Die Jungfrau nahm das Geschenk freudig in Empfang. Als sie aber ein Stückchen von dem Brot abbrach und ein paar Krumen zu Boden fielen, pickten ihre Tauben sie auf, verdrehten die Augen und waren tot. Da merkte die Jungfrau, dass das Brot vergiftet war, aß nichts davon und blieb auf diese Weise am Leben. Als die neun Brüder am Abend heimkehrten, erzählte sie ihnen, was sie erlebt hatte. »So jene Alte wiederkommt, lass sie nicht ein, hörst du?« antworteten die Brüder. »Halte die Tür verschlossen, hüte dich vor dem Unglück. Vergiß nicht, dass du die einzige Schwester bist, die wir haben!« Als die heimtückischen Schwestern erfuhren, dass ihr Plan fehlgeschlagen war, wuchs ihr Zorn. Unter verschiedenen Vorwänden schickten sie die Alte zur Jüngsten, aber diese war durch Schaden klug geworden und ließ niemand ein. Da schäumten die bösen Schwestern vor Wut und riefen die Alte wiederum zu sich. »Bring ihr ein mit Gift bestrichenes Ringlein!« befahlen sie. »Was soll das für einen Sinn haben?« fragte die Alte. »Sie öffnet mir ja doch nicht die Tür!«

»Das ist auch nicht erforderlich. Klopfe ans Fenster und sage ihr, dass wir Schwestern unter der Trennung leiden und sie bitten, zur Erinnerung wenigstens das Ringlein anzunehmen. Und wenn sie dann den Ringfinger ausstreckt, hältst du ihn fest, schneidest ihn ab und bestreust die Wunde mit Gift; Dadurch wird sie verrecken!« Das böse alte Weib tat alles, was ihm geheißen.

Und als die neun Brüder abends nach Hause kamen, sahen sie ihre Schwester tot am Boden liegen. Da weinten die Brüder bitterlich. Sie verhängten ihr Haus mit schwarzen Schleiern, kleideten ihre Schwester in ein Brautgewand und beschlossen in ihrem untröstlichen Schmerz: Nein, wir wollen sie nicht in die Erde eingraben! Wir bauen ihr einen gläsernen Sarg und stellen ihn auf die hohe Eiche, die leise am Fluss rauscht. In ihren Zweigen soll unsere Schwester schlafen, von ihrer gläsernen Wiege gewiegt!

Wenig später geschah es nun, dass der König an jenem Ort jagte. Als nun die Königsdiener die Pferde an den Fluss zur Tränke führten, scheuten die Pferde erschreckt zurück. »Wovor scheuen die Pferde?« fragte der König. »Ich will hingehen und den Grund herausfinden«, erwiderte der Königssohn. Er trat herzu, musterte die Eiche und sah, dass in ihren Zweigen ein gläserner Sarg stand, der in den Strahlen der Morgensonne funkelte. Stracks befahl er den Dienern, ihn herunterzuholen, und schrie vor Entzücken auf, als er die wunderschöne Jungfrau zu Gesicht bekam. Und weil er sich nicht mehr von ihr trennen wollte, ließ er den Sarg ins schloss bringen und in einem geheimen Gemach aufstellen, so dass er täglich zu der Toten hingehen und ihre Schönheit bewundern konnte.

Eines Tages musste er eine längere Reise antreten. Vorher begab er sich zu seiner Mutter und bat sie, keine Menschenseele in das geheime Gemach zu lassen und auch selbst nicht hinzugehen. Die Mutter versprach es ihm. Da sie aber eine Frau war, plagte sie die Neugier zu erfahren, was ihr Sohn in jenem Gemach verborgen hielt. Sie schloss die Tür auf, trat ein und betrachtete staunend die wundersame Schönheit der Jungfrau. Vor Mitleid ergriffen, tauchte sie ein Mulltüchlein in Wein und deckte es der Toten über das Gesicht.

Da erwachte die Jungfrau wieder zum Leben. Die Königin freute sich unbeschreiblich. Sie kleidete die Jungfrau in ein königliches Gewand und führte sie in ihre Stube. Als nun der Königssohn heimkehrte, eilte er sogleich in das geheime Gemach. Aber, oh Schreck, der Sarg war leer! »Wer hat es gewagt, mein Verbot zu missachten?« schrie er; außer sich vor Zorn. »Wer war hier? Wer stahl die tote Jungfrau?«

»Ich«, antwortete seine Mutter lachend. Dann berichtete sie ihm, was sich zugetragen, und führte ihn in ihre Stube, wo die Jungfrau seiner harrte. Und schon am nächsten Tage machten sie fröhlich miteinander Hochzeit. So kam es, dass die jüngste der drei Schwestern Königin über jenes ferne Land wurde.