[swahili, "Geschichte, Legende"]

Des Henkers Wunschmärchen

Es gab Tage, an denen war der alte Henker des Kalifen unglücklich. Unglücklich, weil er sehr alt war, unglücklich, weil er von Beruf Henker war, unglücklich aber vor allem, weil er seit einer halben Ewigkeit zur Untätigkeit verdammt war. Und das war das Schlimmste. Denn wenn es auch keine besonders ehrbare und angesehene Arbeit war, die er zu verrichten gehabt hatte, so war es doch ein Broterwerb von einer gewissen Redlichkeit gewesen. Nun aber wurde ihm zwar vom Kalifen in seiner grenzenlosen Güte und Großmut stets pünktlich das Gehalt eines Kopfabschlägers ausbezahlt, allein - er hatte schon seit fast drei Jahren keinen Kopf mehr abgeschlagen. Und das war doch nicht richtig so!

Im ersten Jahr hatte der alte Henker sich noch nicht allzu viele Gedanken über die tollen Launen des Kalifen gemacht. Jeden Morgen hatte er pünktlich vor dem Palast gestanden, sein scharfes Beil in der Hand, das Gesicht verhüllt, jeden Morgen war er wieder weggeschickt und für den folgenden Tag bestellt worden. Und er war kopfschüttelnd weggegangen ob der unergründlichen Ratschlüsse seines hohen Herrn.

Im zweiten Jahr dann war sein Gerechtigkeitsgefühl erwacht. Erst leise, dann immer lauter sagte es zu ihm: Das ist doch nicht in Ordnung so. Ein Kopfabschläger muss doch Köpfe abschlagen. Er wurde schließlich ordnungsgemäß dafür bezahlt, dass er enthauptete. Nicht, dass ihm das Henken irgendwie Vergnügen bereitet hätte, oh nein. Es war kein schöner Beruf, und er hatte viel zuviel Mitleid mit den Verurteilten. Aber es musste doch alles seine Richtigkeit haben!

Im dritten Jahr war es ihm nun zur Gewissheit geworden, dass da etwas nicht stimmte. Dazu kam noch dieses bohrende Gefühl seiner eigenen Wertlosigkeit. Denn welchen Wert hatte schon ein Henker, der nicht henkte? Wenn in seiner Stammkneipe jemand einen Beamtenwitz erzählte, dann wurde der alte Henker ganz klein und versuchte, sich in einem dunklen Winkel zu verstecken. Seine Familie zählte ihn schon lange zum alten Eisen, und auch er selbst kam sich mit jedem Tage älter und nutzloser vor. Die meiste Zeit verbrachte er zu Hause, wo er sich mit seinem alten, schartigen Richtbeil unterhielt und von der Zeit träumte, da die Welt noch in Ordnung war und er jeden Morgen eine neue wunderschöne junge Frau enthauptet hatte.

Eines Tages nun hielt es der alte Henker nicht mehr aus. Er schleifte sein schweres, rostiges Richtbeil mühevoll hinter sich her zum Garten des Kalifen, in dem, wie er wusste, des Nachmittags die schöne Frau des Kalifen lustzuwandeln pflegte. Hinter einem Busch ging er in Deckung und wartete, und als sie den Weg entlang kam, sprang er hervor.

Er warf sich vor ihr zu Boden. »Herrin,« rief er aus, »vergebt, dass ich in Euren Garten eindrang. Aber ich verlange eine Entscheidung.«

Und er schilderte ihr, was er während der letzten drei Jahre hatte durchmachen müssen.

»Es ist mir gleich, ob ich Euch nun enthaupten soll oder nicht,« schloss er endlich. »Aber diese Ungewissheit halte ich nicht länger aus. Sprecht mit dem Kalifen, ich bitte Euch, beendet diesen Zustand.«

Des Kalifen schöne Frau schloss ihre klugen Augen und dachte nach. Nach einer Weile sprach sie leise, wie zu sich selbst: »Dieser Zustand der Ungewissheit war fast drei Jahre lang die Garantie meines Lebens. Aber vielleicht ist die Zeit nun wirklich reif für eine Entscheidung.« Sie öffnete die Augen und blickte ihren Henker freundlich an.

»Sei heute Abend im Palast. Du wirst deine Entscheidung bekommen. So oder so.«

Sie schaute dem alten Henker nach, der sein Beil hinter sich herschleppend über die frischgeharkten Kieswege zum Gartentor davon schlurfte.

»So oder so,« murmelte sie noch einmal. Dann setzte sie ihren Weg durch den Garten fort.

Des Kalifen Frau hatte an diesem Abend in ihr Gemach geladen: 1. den Kalifen, 2. den Wesir, ihren Vater, 3. den Bruder des Kalifen, 4. ihre jüngere Schwester und 5. den Henker des Kalifen. Ferner waren noch drei sehr kleine Kinder anwesend.

Für Erfrischungen war reichlich gesorgt, und in guter Laune sah die versammelte Gesellschaft den Ereignissen, die da kommen sollten, entgegen. Hatte ihnen die Gastgeberin doch für heute Abend eine besonders spannende Erzählung versprochen. Und nur der Henker wartete auf alles andere als auf eine Geschichte.

»Gestattet zunächst, dass ich ein Märchen beende, das ich gestern nacht begonnen habe,« erhob die Frau des Kalifen ihre Stimme. »Denn es muss doch alles seine Ordnung haben, nicht wahr?«

Den letzten Satz hatte sie nur für den Henker gesprochen, und der nickte heimlich, woraufhin sie anfing, das Ende einer farbenprächtigen Räuberpistole zum Besten zu geben, in der es von Flaschengeistern und fliegenden Teppichen nur so wimmelte. Nur der Kalif und ihre Schwester kannten den Anfang der Geschichte, doch wurde sie in so mitreißendem Tone vorgetragen, dass auch die anderen Gäste, als die Erzählerin geendet hatte, begeistert in die Hände klatschten.

Dann tat eine Pause ein, und des Kalifen Frau trank langsam und mit geschlossenen Augen eine Limonade, die vielleicht ihre letzte sein würde. Trotz des Getränks war ihre Stimme etwas rau, als sie sagte: »Das folgende Märchen erzähle ich auf besonderen Wunsch unseres Freundes dort mit dem Beil. Es ist eine wahre Geschichte, und ich werde sie genau so zu Gehör bringen, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat. Nur das Ende habe ich erfunden, und vielleicht könnt ihr alle es gutheißen.« Sie tat einen tiefen Atemzug. Dann begann sie: »Es war einmal...«