[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Wolf als Bürgermeister

Es war Winter. Die Erde hatte sich mit Schnee bedeckt. Man sagte, der Schnee liege »vier herrschaftliche Handflächen« hoch. Es war einer der schwersten Winter. Der Wolf brach hungrig aus dem Wald und eilte über die Felder. Wie er so den Feldsteig entlang ging, traf er einen Esel. Der Anblick dieser Jagdbeute reizte seinen Hunger so, dass ihm das Wasser im Munde zusammenlief, zumal er seit drei Tagen nichts gegessen hatte. »Bleib stehen, damit ich dich fresse, Elender, denn ich gehe vor Hunger fast zugrunde.«

»Was soll das heißen? Etwas Besseres hast du wohl nicht zu tun«, antwortete der Esel. »dass du mich fressen kannst, weiß ich. Du bist ja auch dazu imstande. Aber was hast du schon an mir, an einem so armen, elenden Vieh, das von Krankheit und Überarbeitung erschöpft ist. Kaum hast du mich herunter geschlungen, so wird der Hunger wiederkommen. Und was machst du dann morgen?«

»Gott ist gut. Wenn ich morgen kein Wild finde, werde ich übermorgen etwas finden. Vor Hunger lässt er mich nicht sterben.«

»Sicherlich. Wäre es aber nicht besser, man hätte an allen Tagen etwas, womit man sich den Bauch füllen könnte, ohne zu arbeiten?«

»O ja«, beeilte sich der Wolf zu antworten. »Ich verstehe aber kein anderes Gewerbe als die Jagd, die ich erlernt habe.«

»Ich kenne ein anderes. Und wenn du die Güte haben willst, mich einen Augenblick anzuhören, will ich dir anvertrauen, wie du für immer dem Hunger und der Not entgehen kannst. Ich hätte die günstige Gelegenheit, die ich dir verraten will, für mich selbst ausgenützt; aber ich weiß nicht, weshalb, alle Dummköpfe lachen über mich. Wenn auch meine Ohren lang sind, andere Tiere haben ja lange Schwänze und Hörner oder breite Mäuler. Trotzdem scheinen sie alle nicht so lächerlich zu sein wie ich.«

»Lass das und rede rasch, denn ich habe keine Zeit zu verlieren.«

»Hör mich an. Der Bürgermeister unseres Dorfes ist gestorben. Alle Bauern wollen nun Bürgermeister werden, und aus diesem Grunde ist das ganze Dorf in Aufruhr. Jetzt wollen sie sogar lieber einen Fremden wählen, als einen aus ihrer Mitte. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, haben sie mich ausgeschickt, damit ich ihnen zu diesem Zweck irgendwen, dem ich gerade begegnen würde, bringe. Gott hat dich mir in den Weg geschickt, und ich rate dir, nicht länger zu säumen und mit mir zu kommen.«

»Und was kann mir das Gutes bringen?« fragte der Wolf. »Du hast mir gesagt, dass ich mich für immer von diesem elenden Hunger befreien könnte.«

»Gerade das ist es. Der Bürgermeister ist ja, wie man weiß, das Haupt des Dorfes. Schafe, Lämmer, Gänse und Ferkel stehen alle unter seinem Befehl. An jedem Tage kannst du dir eines dieser Tiere zur Mahlzeit wählen, da ja der Bürgermeister nicht umsonst Bürgermeister ist.«

»Wenn dem so ist, will ich auf dich hören. Komm, gehen wir!«

Und sie brachen beide zum Dorfe auf: der Esel voran und der Wolf hinter ihm her. Der Esel blickte sich immer wieder nach dem Wolf um und beschleunigte seine Schritte. Der Wolf aber folgte ihm voll Freude auf den Fersen, mit knurrendem Magen und erhobenen Hauptes, da er einen so glücklichen Zufall nicht aus den Klauen lassen wollte.

Kaum waren sie am Anfang des Dorfes angekommen, da wurde der Esel flüchtig. Der Wolf aber lief hinter ihm her. Als die Bauern sahen, dass der Wolf in das Dorf eingebrochen war, sprangen sie alle, groß und klein, aus den Häusern. Mit Knütteln, mit Äxten, mit Erdschollen schlugen sie unter Geschrei auf ihn ein. Auch die Hunde nahmen die Verfolgung des Wolfes auf. Genug, er musste sein Fell dort lassen. Unter Schmerzen und Quälen rettete er sich vor dem Tode, aber verhöhnt, zerschlagen und lahm. Er hatte das alles noch gar nicht erfasst, als er über Schneemassen und Eisbäche erschöpft in den Wald gelangte. Aber er glaubte, toll werden zu müssen. Hier wollte er nun ein wenig ausruhen.

Gerade in diesem Augenblick ging ein Mönch, der in das Kloster dem er angehörte, zurückkehrte, durch den Wald. Als er dem hungrigen Wolf, der mit ellenweit heraushängender Zunge angelaufen kam, sah, warf er aus Furcht die Kutte über seinen Kopf. Dann legte er sich, zu einem Knäuel geballt, in den Schnee.

Der Wolf glaubte, einen geeigneten Platz zur Rast gefunden zu haben. So legte er sich auf den Mönch, den er im Dunkeln für einen alten Baumstumpf hielt. Dann begann er mit sieh selbst zu sprechen: »Meine Vorfahren waren keine Bürgermeister, mein Vater war ebenfalls kein Bürgermeister. Wie konnte ich mich dazu überreden lassen zu glauben, dass ich zu diesem Dienste tauge? Jetzt bin ich hungrig geblieben! Ich platze vor Hunger und Wut. Jetzt müsste nur noch einer kommen, der mich am Schwanz erwischt und so lange in der Luft herum schwingt, bis mir der Schwanz abreißt. Davon allein bin ich noch verschont.«

Der Mönch ließ das den Wolf, der glaubte, nur mit sich geredet zu haben, nicht zweimal sagen. Er tat daher gerade das, wovor sich der Wolf fürchtete und wovon er geglaubt hatte, dass ihm niemand auch noch das antun könne.