[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der weise Shirensche und die Schöne Karaschasch

Es war einmal, lange ist es her, ein weiser Mann namens Shirensche-Scheschen. Sein Geist war tief und unendlich wie das Meer, die Worte flossen wie Nachtigallengesang aus seinem Mund. Dennoch war Shirensche arm wie kein anderer in der Steppe; seine Hütte war so klein, dass seine Beine herausragten, wenn er sich hinlegte, bei Unwetter drangen Wind und Regen durch die vielen Ritzen hinein.

Einmal ritt Shirensche mit seinen Gefährten durch die Steppe. Es ging schon auf den Abend zu, und die Reiter gaben ihren Pferden die Sporen, um noch bei Tageslicht eine Behausung zu erreichen. Plötzlich schnitt ihnen ein breiter Steppenfluß den Weg ab. Am anderen Ufer lag ein Aul, an diesem sammelten einige Frauen getrockneten Mist in Säcke. Die Reiter ritten näher, begrüßten sie freundlich und fragten, wie sie über den Fluss setzen könnten. Da trat ein junges Mädchen hervor, von ihren Freundinnen die Schöne Karaschasch genannt. Sie trug ein schäbiges, geflicktes Kleid, strahlte jedoch über und über von unsagbarer Schönheit: Ihre Augen funkelten wie Sterne, ihr Mund war wie der Mond, ihre Gestalt schlank und geschmeidig wie eine Gerte. »Es gibt zwei Furten«, sagte das Mädchen. »Die, linkerhand, ist nahe, aber fern; jene, rechterhand, ist fern, aber nahe.« Und sie zeigte zwei Pfade, die zu den Furten führten. Nur Shirensche verstand die Worte des Mädchens und lenkte sein Pferd nach rechts. Nach einer Weile erspähte er die Furt. Der Boden war sandig, das Wasser seicht. Ohne Mühe setzte er über den Fluss und war bald zum Aul geritten. Seine Gefährten wählten die nahe Furt und bereuten es sehr schnell. Sie hatten die Mitte des Flusses noch nicht erreicht, da versackten ihre Pferde tief im Schlamm, sie mussten an der tiefsten Stelle absitzen und mit dem Zügel in der Hand zu Fuß zum Ufer waten. Es dämmerte schon, als sie durchnässt und frierend im Aul anlangten.

Shirensche lenkte sein Pferd zur letzten Jurte, der ärmlichsten im Aul. Er erriet, dass sie den Eltern jenes Mädchens gehörte, das ihnen den Weg gewiesen hatte. Shirensche wartete auf die Gefährten, und die Reiter waren gerade von ihren Pferden gestiegen, da kam ihnen die Mutter des Mädchens entgegen und bat sie, ihr Gast zu sein. Sie dankten der guten Frau und gingen hinein. Innen war die Jurte ebenso armselig wie außen. Anstelle der Teppiche breitete die Frau vor den Gästen Felle aus. Bald darauf betrat Karaschasch mit einem vollen Sack getrockneten Mist auf den Schultern die Jurte. Es war Frühling, und vor Sonnenuntergang hatte es stark geregnet. Alle Frauen kehrten mit nassem Mist aus der Steppe zurück, und ihre Familien mussten sich in dieser Nacht ohne Abendessen schlafen legen. Nur Karaschasch brachte gedörrten Mist. Sie machte Feuer, die Gäste konnten sich wärmen und trocknen. »Wie kommt es, dass dein Mist trocken ist?« fragten die Reiter.

Das Mädchen erzählte, sie hätte sich auf den Sack gelegt und diesen mit ihrem Körper zugedeckt, als der Regen begann. Ihr Kleid wurde nass, aber das trocknete am Feuer schnell. Das musste sie tun, denn ihr Vater, ein Hirte, kam nachts hungrig und durchnässt heim und brauchte Feuer. Die anderen Frauen versteckten sich unter den Säcken, aber so wurden ihre Sachen und auch der Mist nass. Die Gäste hörten die Antwort des Mädchens und staunten über ihren Verstand. Nun waren sie neugierig, was man ihnen zum Abendbrot vorsetzen würde.

Karaschasch sagte: »Mein Vater ist ein armer, aber gastfreundlicher Mann. Er hütet die Herde des reichen Beis und schlachtet, wenn es ihm glückt, für euch einen Hammel, wenn es ihm nicht glückt, sogar zwei.« Niemand außer Shirensche verstand die Worte des Mädchens, alle glaubten, sie scherze. Ihr Vater kam. Als er in seiner Jurte Fremde sah, lief er zum Bei und bat um einen Hammel für die unverhofften Gäste. Der Bei jagte ihn davon. Nun schlachtete der Hirte sein einziges Schaf, das bald ein Lämmchen bringen sollte, und bereitete aus dem Fleisch ein schmackhaftes Essen für die fremden Dshigiten. Erst jetzt erfassten die Gäste den Sinn der Worte, die Karaschasch gesprochen hatte.

Beim Abendessen saß Shirensche Karaschasch gegenüber. Von ihrer Schönheit und Klugheit betört, legte er zum Zeichen seiner Liebe unauffällig die Hand ans Herz. Karaschasch, die kein Auge von ihm ließ, bemerkte diese Bewegung und berührte mit den Händen ihre Augen. Damit wollte sie sagen, dass ihr seine Gefühle nicht verborgen blieben. Dann strich sich Shirensche mit den Händen über den Kopf und wollte damit fragen, ob der Vater nicht so viel Vieh als Brautgeld von ihm verlange, wie er Haare auf dem Kopf habe. Karaschasch fuhr mit der Hand über das Fell, das unter ihr lag, und deutete damit an, dass der Vater sie nicht für so viel Vieh hergibt, wie das Schaffell Wollhärchen hat.

Der bettelarme Shirensche ließ traurig den Kopf hängen. Das Mädchen bekam Mitleid mit ihm. Sie drehte ein Stück Fell um und berührte mit den Fingern die glatte Seite. Sie gab Shirensche zu verstehen, dass der Vater sie auch umsonst gibt, wenn sich ein achtbarer Bräutigam findet. Der Hirte beobachtete das wortlose Zwiegespräch der jungen Leute. Er sah, dass sie Liebe zueinander gefasst hatten und Shirensche ebenso klug war wie seine Tochter. Deshalb willigte er, als Shirensche bei ihm um die Hand seiner Tochter anhielt, freudig ein. Drei Tage später brachte Shirensche seine junge Frau in seinen Aul.

Die Kunde von der schönen und klugen Karaschasch verbreitete sich rasch in der weiten Steppe und kam schließlich dem Khan zu Ohren. Der Khan, der von seinen Wesiren erfuhr, dass es keine schönere und klügere Frau unter der Sonne gebe als Karaschasch, brannte vor Neid auf den armen Teufel Shirensche und sann darauf, ihm die Frau zu rauben. Eines Tages hielt ein Bote des Khans vor der armseligen Hütte Shirensches und befahl ihm im Namen des Khans, mit seiner Frau unverzüglich im Palast zu erscheinen. Da war guter Rat teuer. Sie machten sich auf den Weg. Als der Khan Karaschasch erblickte, verliebte er sich in sie und wollte sie zur Frau, koste es, was es wolle. Deshalb nahm er Shirensche in Dienst. Tagsüber diente Shirensche in dem prunkvollen Palast des Khans, abends kehrte er müde in seine ärmliche Hütte zu Karaschasch zurück. Dann legte er, seine Freiheit genießend, der geliebten Frau den Kopf auf den Schoß und sprach: »Welch ein Glück, in der eigenen Hütte zu sitzen! Sie ist größer als alle Khangemächer.« Seine Beine aber ragten über die Schwelle.

Die Zeit verging, der Khan jedoch sann unentwegt darüber nach, wie er sich Shirensche entledigen und Karaschasch besitzen könne. Er gab ihm gefährliche und knifflige Aufträge, die Shirensche aber immer schnell und genau ausführte und sich nichts zuschulden kommen ließ. Nun begab es sich, dass der Khan mit seinem Gefolge durch die Steppe ritt. Es war ein stürmischer Tag. In großen Knäueln rollte die Pflanze Männertreu durch die Steppe. Der Khan sprach zu Shirensche: »Jage dem Männertreu nach und frage, wohin und woher es rollt. Wehe dir, wenn du keine Antwort erhältst, dann ist dein Kopf ab.« Shirensche eilte dem Männertreu nach, holte es ein, stach mit der Lanze hinein, blieb so ein Weilchen stehen und kehrte zurück. Der Khan fragte: »Nun, was hat das Männertreu gesagt?« Shirensche antwortete: »O großer Khan, das Männertreu sendet dir einen Gruß und gab mir folgendes zur Antwort: Wohin und woher ich rolle, weiß allein der Wind, wo ich liegen bleibe, weiß allein die Schlucht. Das versteht sich von selbst. Entweder bist du ein Dummkopf, dass du mir solche Fragen stellst, oder der Khan ist ein Dummkopf, dass er dich schickt, mich danach zu fragen.« Der Khan verstand die Andeutung, erwiderte Shirensche jedoch nichts darauf, wurde nur noch erbitterter gegen diesen.

Ein anderes Mal befahl der Khan dem Burschen unter Todesdrohung, er solle weder tags noch nachts, weder zu Fuß noch zu Pferde bei ihm erscheinen, er dürfe weder auf der Straße bleiben noch in den Palast treten. Nun ließ Shirensche den Mut sinken, fragte Karaschasch um Rat, und sie sannen darüber nach, wie sie aus der Bedrängnis herauskommen könnten. Shirensche ritt im Morgengrauen auf einer Ziege zum Palast und blieb unter dem Querpfosten des Tores stehen.

Wieder hatte der Khan mit seiner Tücke nichts ausgerichtet. Er ersann eine neue. Als es Herbst wurde, ließ er Shirensche kommen, gab hm vierzig Hammel mit den Worten: »Diese Hammel hast du den Winter über zu hüten. Aber wisse: Wenn sie im Frühjahr keine Lämmer bringen wie Schafe, lasse ich dir den Kopf abschlagen.« Tief betrübt trat Shirensche den Heimweg an und trieb die Hammelherde vor sich her. »Was hast du, lieber Mann?« fragte ihn Karaschasch. »Warum bist du so traurig?« Shirensche erzählte ihr von dem törichten Geheiß des Khans. »Mein Liebster«, rief Karaschasch, »gräme dich nicht wegen solcher Nichtigkeiten! Schlachte im Spätherbst alle Hammel, und im Frühling wird sich alles zum Besten wenden.« Shirensche tat, wie Karaschasch ihm geraten.

Der Frühling kam. Eines Tages klopfte der Bote des Khans an Shirensches Tür und erklärte, ihm reite der Khan nach, er wolle erfahren, ob die Hammel Junge geworfen haben. Shirensche ließ den Kopf hängen, denn er glaubte, nun sei ihm der Tod Gewiss. Karaschasch aber sprach: »Gräme dich nicht, mein Kluger. Verstecke dich in der Steppe und lass dich bis zum Abend nicht blicken. Ich selbst will den Khan empfangen. Alles wird gut. Nun aber eile!«

Shirensche gehorchte seiner Frau und versteckte sich in der Steppe, Karaschasch blieb in der Hütte. Bald darauf hörte sie Pferdegetrappel und die drohende Stimme: »He, wer da! Gebt Antwort!« An der Stimme erkannte Karaschasch den Khan. Sie trat hinaus und verneigte sich tief. »Wo ist dein Mann? Warum begrüßt er mich nicht?« fragte der Khan böse. Karaschasch antwortete ihm ehrfurchtsvoll: »Oh, allmächtiger Khan, lasse Gnade über meinem unglückseligen Gatten walten. Er verließ das Haus, um es dir recht zu machen. Als er hörte, dass du auf dem Weg zu uns bist, übermannte ihn Trauer, weil wir arm sind und keinen Vorrat für die Bewirtung hoher Gäste besitzen. Er eilte in die Steppe, um sein zahmes Wachtelweibchen zu melken und aus ihrer Milch Kumys anzusetzen. Trete ein in unsere Hütte, großer Khan, mein Mann kommt bald zurück und bewirtet dich aufs Beste.«

Der Khan wurde rasend. »Du machst dich lustig über mich, freches Weib!« schrie er. »Wo hat man je gesehen, dass ein Wachtelweib gemolken wird!«

»Weshalb wunderst du dich, klaräugiger Khan?« sagte Karaschasch, als wäre nichts geschehen. »Weißt du denn nicht, dass in einem Land, in dem ein Weiser regiert, noch ganz andere Wunder geschehen? Sind es nicht deine vierzig Hammel, die, wenn nicht heute, dann Gewiss morgen lammen?« Nun begriff der Khan, dass man ihn überlistet hatte. Er wusste nicht aus noch ein vor Scham, wendete jäh sein Pferd, trieb es aus Leibeskräften an und entschwand ihrem Blick. Fortan ließ er Shirensche und Karaschasch in Ruhe, und sie lebten zusammen bis ins hohe Alter.

Shirensche war auf der Jagd, als Karaschasch starb. Nach dem damaligen Brauch ritten seine Gefährten ihm entgegen. um ihm die traurige Kunde zu bringen. Shirensche zeigte sich in der Ferne. Er ritt im Schritt und sang ein fröhliches Lied. An seinem Sattel hingen drei erlegte Schwäne. Die Gefährten hießen Shirensche neben sich setzen und, da sie zögerten, ihm die schmerzliche Nachricht zu überbringen, fingen sie die Unterhaltung weit ausholend an. »Du bist allerorts für deine Klugheit bekannt, Shirensche«, sagten sie. »Antworte uns also: Was verliert der Mensch, wenn der Vater stirbt?« Shirensche schwieg eine Weile und antwortete dann: »Wenn der Vater stirbt, stürzen die Mauern der Festung ein, die Not und Kummer vom Menschen fernhielten.«

»Und was verliert der Mensch, wenn seine Mutter stirbt?« Shirensche antwortete: »Wenn die Mutter stirbt, versiegt der Brunnen der Liebe, der den Menschen tränkte.«

»Und womit vergleichst du den Tod des Bruders?« fragten die Gefährten. Shirensche gab zur Antwort: »Wenn der Bruder stirbt, fällt die Stütze ein, die den Menschen hielt«

»Sage nun zu guter Letzt, weiser Shirensche: Was verliert der Mensch mit dem Tod seiner geliebten Frau?«

»Meine Karaschasch ist tot!« rief Shirensche, der alles ahnte. Er wollte zur Leiche seiner Liebsten eilen und sich, tränenüberströmt, auf den Peitschenstock gestützt, erheben. Aber der Stock zerbrach unter ihm, und Shirensche stürzte tot nieder.