[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der verkaufte Knabe

In einem nahen Aul in einem fernen Khanat lebte einst ein armer Mann mit seinem Sohn. Sie hatten keinerlei Vorräte in ihrer Sakija, und Vater und Sohn litten so argen Hunger, dass der Mann nicht einmal die Kraft hatte, über sein Elend zu seufzen. Eines Tages fragte der Sohn: »Vater, warum willst du mich nicht verkaufen?« Die Frage verblüffte den Vater. »Wer sollte dich schon nehmen? Du bist noch klein und kannst nichts.«

»Man wird mich kaufen. Ich kenne mich immerhin ganz gut in drei Dingen aus: in Pferden, in Steinen und in den Menschen.« Der Vater lachte den Sohn aus, doch der setzte ihm so lange zu, bis der Mann schließlich einwilligte. Vater und Sohn machten sich auf in die Stadt. In den Straßen ging es laut und lebhaft zu, am turbulentesten aber war das Treiben auf einem Platz, auf dem mit Menschen gehandelt wurde. Der Vater setzte den Knaben vor sich in den Sand und wartete geduldig auf einen Käufer. Doch die Menschen würdigten den kleinen Jungen nicht einmal eines Blickes. Erst gegen Abend trat ein vornehmer Khan zu ihnen und fragte: »Wozu hast du das Kind auf den Basar gebracht? Es kann doch keinerlei Arbeit verrichten.«

»Dafür kennt es sich in drei Dingen aus«, erwiderte der Vater, »in Pferden, in Steinen und in den Menschen.« Lachend fragte der Khan: »Und was kosten diese drei Kenntnisse des Knaben?«

»Urteile selbst!« entgegnete der Arme bescheiden. Der Khan gab dem Vater eine Goldmünze und nahm den Knaben mit sich. Im Hause des Khans musste der Knabe die schwersten Arbeiten verrichten, und das Essen, das man ihm gab, war so schlecht, dass ihn nicht einmal ein Hund darum beneidet hätte. Macht nichts, dachte der Knabe bei sich, dafür verhungert mein Vater jetzt nicht. Der Khan hatte unterdessen den Knaben völlig vergessen.

Eines Tages aber, als großer Basar gehalten wurde und es dem Khan einfiel, ein neues Pferd zu kaufen, erinnerte er sich an die Gabe des Knaben. Sie gingen auf den Basar, doch an allen Pferden, die dem Khan gefielen, fand der Knabe etwas auszusetzen. Endlich blieben sie vor einem Hengst stehen, dem alle nur höchstes Lob zollten. Der Khan sagte zu dem Knaben: »An diesem Hengst dürftest du wahrlich nichts auszusetzen haben.« Der Knabe betrachtete den Hengst von allen Seiten und sagte: »Wirklich, ein guter Hengst, doch einmal wird er dir den Tod bringen.« Der Khan lachte. »Ich will nicht tausend Jahre leben. Wenn mir der Tod durch ein Pferd beschieden ist, kann das auch in einem fremden Pferdestall geschehen.« Er kaufte den Hengst und, zufrieden darüber, dass der Knabe um seinen Tod fürchtete, befahl er daheim, ihm besseres Essen zu geben. Der Knabe dachte: Jetzt geht es nicht nur meinem Vater, sondern auch mir besser. Eines Tages ließ die Tochter des Khans, als sie ihren Ring vom Finger streifte, das Kleinod fallen. Dabei zersprang ein kostbarer Edelstein. Das Mädchen wollte in die Stadt, um ein neues Juwel zu kaufen, da erinnerte sich der Khan, dass der Knabe etwas von Steinen verstand, und befahl ihm, die Tochter zu begleiten. Sie gingen durch alle Läden der Stadt, sahen sich viele Edelsteine an, doch an jedem fand der Knabe irgendeinen Fehler. Endlich entschied sich die Tochter des Khans für einen wunderschönen Rubin. Der Knabe sagte: »Zweifellos ist es ein wunderschöner Stein, doch in ihm sitzt ein Wurm. Wenn du den Edelstein kaufst, wird er dir den Tod bringen.« Zornig rief der Juwelier: »Wie kann in einem Edelstein ein Wurm sitzen?« Da zerschlug der Knabe den Stein, und wirklich saß ein Wurm darin.

Nach Hause zurückgekehrt, erzählte die Tochter des Khans ihrem Vater von dem seltsamen Stein, und der Khan befahl, den Knaben noch besser zu halten. Dachte der Knabe: Jetzt wird es nicht nur mir besser gehen, sondern auch den anderen Bediensteten des Khan, denn ich kann mit ihnen mein Essen teilen. Fortan redeten alle so viel über den Verstand und das gute Herz des Knaben, dass sich der Khan eines Tages wiederum seiner erinnerte. Er sprach zu ihm: »Dein Vater sagte damals, dass du dich nicht nur in Pferden und Steinen, sondern auch in den Menschen auskennst. Sage mir also, was bin ich für ein Mensch?« Der Knabe wollte anfänglich nicht antworten, doch der Khan drang so lange in ihn, bis der Knabe schließlich zögernd sagte: »Du bist vielleicht kein schlechter Mensch, Khan, aber du stammst von Sklaven ab.« Wütend schrie der erboste Khan: »Du trägst nur noch deinen Kopf auf den Schultern, weil du meiner Tochter das Leben gerettet hast! Doch wenn sich deine Worte als Lüge erweisen, lasse ich dich trotzdem hinrichten!« Und er befahl, den Knaben in den Kerker zu werfen.

Die Worte des Kindes ließen dem Khan aber keine Ruhe. Er ging zu seiner Mutter und begann sie nach seinen Ahnen auszufragen. Die alte Gebieterin erschrak. »Du bist Khan! Wer aber kann Khan werden, außer Menschen, die edler Abstammung sind!« Der Khan spürte, dass ihm seine Mutter etwas verschwieg, und zog sein Schwert. »Wenn ich nicht die Wahrheit erfahre, bringe ich mich um. Ich habe erfahren, dass ich nicht der Sohn meines Vaters bin.« Da erschrak die Mutter noch mehr und sprach: »Das ist die Wahrheit, mein Sohn. Dein Vater war Khan, aber wir blieben kinderlos, und ich gewann einen Sklaven lieb. Allah sei gedankt, er war ein sehr ehrenweiter Mensch.«

Nachdem sich der Khan überzeugt hatte, dass der Knabe die Wahrheit gesprochen hatte, befahl er, ihn aus dem Kerker zu befreien. Er rief den Knaben zu sich, schenkte ihm reiche Kleider und machte ihn zu seinem Wesir. Die Jahre gingen dahin. Der Tochter des Khans gefiel der Sohn des armen Mannes, und so beschloss der Khan, ihnen die Hochzeit zu richten. Auf der Hochzeitsfeier wollte der Khan prahlen und beweisen, was es früher für kühne Dshigiten gab. Er schwang sich auf das Ross, das er einst auf dem Basar gekauft hatte, und gab ihm die Sporen. Am Tor stolperte der Hengst, der Khan stürzte vom Pferd und war auf der Stelle tot. So erwies sich, dass der Sohn des Armen tatsächlich von allen drei Dingen etwas verstand. Der Knabe, der für eine Goldmünze verkauft worden war, wurde Khan. Das aber hatte er sich nicht träumen lassen, denn alles Wissen des Menschen ist machtlos, wenn es um sein eigenes Schicksal geht.