[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Surnabläser, der Trommler und der Seiltänzer

Ein Surnabläser aus dem Aul Kaj, ein Trommler aus Kumuch und ein Seiltänzer aus Zowkra machten sich eines Tages auf in einen großen Aul im Tal, um Arbeit zu suchen. Unterwegs gerieten sie in Streit. Sprach der Surnabläser: »Ich weiß eigentlich nicht recht, warum ich mit euch ziehe. Was seid ihr schon wert ohne mich? Wenn ich nicht auf meiner Surna blase, kommt sowieso keiner zu euren Vorstellungen.« Diese Worte kränkten den Trommler. »Nein, ich bin es, der die Leute zusammentrommelt. Nicht von ungefähr heißt es: Den Trommelwirbel vernimmt man sogar jenseits der Berge.« Der Seiltänzer aus Zowkra hörte ihnen zu und meinte schließlich: »Wie weit ihr auch immer zu hören sein mögt, aber was seid ihr ohne mich! Die Leute kommen nicht, um euch zu hören, sondern um mich zu sehen.« Gegen Abend erreichten die Freunde den großen Aul. Inzwischen aber hatten sie sich vollends zerstritten. So beschlossen sie, am nächsten Morgen jeder für sich aufzutreten. Der Surnabläser ging in den Aulgarten schlafen, der Trommler auf die Mühle, und der Seiltänzer begab sich in den Aul.

Als sich der Surnabläser sein Lager zwischen den Büschen bereitet hatte, näherte sich auf dem einen Weg ein Jüngling und auf einem anderen ein schönes Mädchen. Sie fielen einander in die Arme und ließen sich unweit des Surnabläsers nieder. Der Surnabläser hob lauschend den Kopf, um zu erfahren, worüber sie sich unterhielten, doch die Verliebten schwiegen vor Glück.

Schließlich sagte der Jüngling: »Liebste Mariam, sag, wann hast du dich eigentlich in mich verliebt?«

»Auf der Hochzeit deines Bruders, lieber Mamed«, gab das Mädchen flüsternd zur Antwort. »Du hast so herrlich getanzt.« Doch der Jüngling widersprach: »Nein, du warst es, die so herrlich tanzte. Weißt du noch, du nahmst den Krug und begannst...« Er sprang auf und begann zu tanzen, um Mariam zu zeigen, wie sie im Tanz dahingeflogen war. Das Mädchen konnte sich nicht beherrschen und begann ebenfalls zu tanzen. Der Surnabläser fand, ein Tanz ohne Musik sei nicht das Richtige, und blies die Surna. Die Verliebten erschraken und flohen.

Im Morgengrauen begab sich der Surnabläser zum Haus des Jünglings und sprach: »Mamed, du schuldest mir noch den Lohn für das gestrige Spiel.«

»Wovon sprichst du?« Der Jüngling war aufrichtig entrüstet. »Für welches Spiel?«

»Für das, ohne welches man nicht tanzen kann. Hast du vergessen, wie du mit deiner Mariam getanzt hast?«

»Ich flehe dich an, bei Allah, sag keinem ein Wort davon!« Mamed war zutiefst beunruhigt. »Hier, nimm dies für dein Spiel.« Der Surnabläser nahm das Geld und ging zum Haus des Mädchens. Umständlich begann er: »Liebe Mariam, die Musikanten lässt man auf der Hochzeit nicht hungern. Erinnerst du dich, ich habe heute Nacht für dich die Surna geblasen.« Das Mädchen erschrak. »Um Allahs willen, schweig! Hier, nimm das für dein Spiel!« Der Surnabläser ging seine Freunde suchen und erzählte zufrieden: »Natürlich, mein Beruf ist der beste! Ich habe die Wette gewonnen. Noch hat der Tag nicht begonnen, da habe ich schon hundert Goldstücke in der Tasche.«

Doch der Trommler hatte seine Zeit auch nicht vertan.

In die Mühle, in der er sich zur Ruhe gelegt haue, verirrte sich nachts ein Bär. Um an das duftende Mehl heranzukommen, öffnete er die Tür. Der Trommler erblickte den Bären, schlüpfte hinter den Mühlstein und rührte vor Angst wie besessen die Trommel. Der Bär erschrak, stürzte in die Mühle, rannte in der Dunkelheit verwirrt hin und her und schlug dabei versehentlich die Tür zu. Der Trommler rührte seine Trommel noch lauter. Dieser Lärm weckte den Müller. Als er die Tür öffnete, rannte der Bär davon. Da fasste der Trommler neuen Mut, kam hinter dem Mühlstein hervor und begann den Müller zu beschimpfen. »Hol dich dieser und jener, verdammter Esel, weißt du, was dir eben für ein Bär entkommen ist? Der ist pures Geld wert. Ich stelle ihm schon ein Jahr nach, um ihn für den Khan zu fangen!«

»Um Allahs willen, bring mich nicht ins Unglück! Hier hast du hundert Goldstücke, verrate mich bloß nicht beim Khan!« Der Müller war ehrlich erschrocken. Der Trommler ging in den Aul und dachte erfreut: Das muss ich rasch meinen Freunden erzählen. Unsere Wette hab ich gewonnen. Mein Beruf ist doch der einträglichste.

Im Aul aber hatte sich in dieser Nacht auch einiges zugetragen. Der Seiltänzer hatte nämlich, um keine Zeit zu verlieren und gleich am frühen Morgen mit der Vorstellung beginnen zu können, noch am Abend von der Moschee zum Haus des Kaufmanns quer über den Platz sein Seil gespannt und sich darauf geschwungen, um zu versuchen, ob es sich gut darauf tanzen lasse. Kaum aber war er aufs Seil geklettert, sah er, wie sich der Mullah aus der Moschee stahl. Neugierig folgte ihm der Akrobat auf seinem Seil. Da trat die Kaufmannsfrau aus ihrem Haus und fiel dem Mullah um den Hals. Der gewitzte Seiltänzer merkte sofort, dass es hier etwas zu verdienen gab. Deshalb flüsterte er über den Köpfen der Verliebten: »Glaubt ihr wirklich, der Kaufmann erfährt nichts von euerm Tun?« Die Kaufmannsfrau erschrak und zog den Mullah auf die gegenüberliegende Seite des Platzes. Doch der Akrobat glitt auf seinem Seil hinterdrein und flüsterte wieder: »Glaubt ihr wirklich, Allah lässt solche Unzucht vor der Moschee zu?« Der Mullah und die Kaufmannsfrau liefen davon, doch der Akrobat holte sie in der Mitte des Platzes ein, wirbelte geschickt auf seinem Seil um die eigene Achse und flüsterte dem Mullah ins Ohr: »Fürchte Allahs Zorn und opfere hier vor seinem Angesicht! Wirf das Geld sofort auf die Erde. Fürchte Allahs Zorn!« Er sprang vom Seil und schlug um die Verliebten Rad. Der Mullah und die Kaufmannsfrau glaubten, den Satan vor sich zu haben, und drehten sich vor Schreck im Kreise. Da sprang der Seiltänzer auf die Füße und streckte ihnen seine Mütze entgegen. »He, Mullah, jetzt ist die Zeit zur Abrechnung gekommen.«

Über den Berggipfeln ging derweilen die Sonne auf, und der Mullah merkte, dass er nicht den Teufel, sondern einen Akrobaten vor sich hatte. Er spuckte vor Ärger, musste aber gute Miene zum bösen Spiel machen. »Da, nimm diese hundert Goldstücke«, sagte er. »Aber zu keiner Menschenseele ein Sterbenswörtchen, bei Allah!« Na, dachte der Seiltänzer, die Wette hab ich gewonnen. Mein Beruf hat doch die größten Vorteile. Da erblickte er den Surnabläser und den Trommler. Die Freunde begannen voreinander zu prahlen und merkten schließlich, dass keiner den anderen übertrumpft haue. So beschlossen sie, wieder zusammen aufzutreten.

Der Surnabläser blies seine Surna, der Trommler gab einen Wirbel zum Besten, die Leute fanden sich auf dem Platz ein, und der Akrobat vollführte seine Kunststücke auf dem Seil und auf der Erde. Die Leute sahen zu und schnalzten vor Begeisterung mit der Zunge. »Großartig der Seiltänzer aus Zowkra!« staunten die Greise. »Der Surnabläser müsste auf unserer Hochzeit aufspielen«, flüsterten die Mädchen einander zu. »Einen solchen Trommler müssten wir bei uns haben«, fanden die jungen Burschen.

Die Kaufmannsfrau aber flüsterte denen zu, die um sie herumstanden, der Seiltänzer sei ein Gauner. Also warfen die Reichen ihnen keine einzige Kupfermünze hin. Mamed und Mariam, die an ihr unnütz verschwendetes Geld dachten, erzählten ihren Freunden, die Leute aus dem fremden Aul seien gekommen, um den jungen Männern die Bräute fortzunehmen, und also gaben die Jungen den Artisten ebenfalls kein einziges Silberstück. Der Mullah, dem es bekanntlich um jeden Pfennig leid tut und der für hundert Silberstücke bereit ist, Allah persönlich zu betrügen, verbreitete das Gerücht, der Seiltänzer und seine Freunde seien Gottlose. Da gaben ihnen auch die Greise keinen Pfennig und machten sich fort vor der Sünde. Der Müller, der mittlerweile erraten hatte, dass er für den Bären zuviel gezahlt hatte, erzählte denen, die in seiner Nähe standen, die drei seien Diener des Khan. Da wandten sich alle von ihnen ab und gingen ihrer Wege. Der Surnabläser, der Trommler und der Seiltänzer mussten sich betrübt die leeren Mützen auf den Kopf stülpen und verließen den Aul, ohne Ruhm oder Geld erworben zu haben. Jeder Beruf ist nämlich rühmenswert, wenn man sein Geld mit Arbeit, nicht aber durch List und Betrug verdient.