[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Sohn des Wesirs

Ein reicher Wesir hatte einen Sohn, einen Jüngling von bescheidenem, wohlanständigem Betragen. Eines Tages erkrankte der Wesir, und als er merkte, dass er sterben würde, rief er sein Weib zu sich. »Ich spüre, dass ich nur noch wenige Stunden zu leben habe«, sprach er. »Gottlob ist unser Sohn wohlgeraten. Aber wer weiß, was noch aus ihm wird, ist doch der Mensch ein ungelöstes Rätsel, zumal ein heißblütiger Jüngling. Vielleicht verfällt er eines Tages auf den Gedanken, sein väterliches Erbe zu verschleudern, so dass du auf deine alten Tage betteln gehen musst. Deshalb wünsche ich, dass du die Schlüssel zu meinen drei Geheimkammern an dich nimmst, sie sorgfältig verwahrst und sie keinem aushändigst. Dann wirst du niemals Not leiden.« Die Frau des Wesirs nahm die Schlüssel an sich, und kurz darauf war der Wesir tot. Der Sohn richtete ihm ein reiches Begräbnis aus, wie es die Sitte verlangte, und ging täglich an seines Vaters Grab, um dort zu beten.

Der Wesir hatte drei Diener in seinem Hause, die samt und sonders einen hohen Lohn bekamen, aber auf seinem Sterbelager hatte er sie vergessen und in seinem Testament nicht über sie verfügt. Deshalb fragten sie sich nun besorgt, ob der junge Herr ihnen wohl den hohen Lohn weiterzahlen würde, und zerbrachen sich den Kopf, wie sie es anstellen könnten, ihm eine große Summe abzulisten und sich dann mit heiler Haut davonzumachen. »Seid ohne Sorge!« sagte endlich der jüngste Diener. »Ich will den Wesirssohn betrunken machen und ihm danach mindestens die Hälfte seines Reichtums abnehmen!«

Als sich der Wesirssohn am folgenden Tage wieder zu seines Vaters Grab begab, um zu beten, schlich ihm der Diener heimlich nach, einen Schnapskrug unter dem Gewand verborgen, und setzte sich, während der Jüngling sein Gebet sprach, auf einen in der Nähe befindlichen Grabstein. Dort zog er den Krug hervor, führte ihn mit feierlicher Gebärde zum Munde und trank. Das beobachtete der Wesirssohn, ohne sein Gebet zu unterbrechen. »Was machst du hier?« fragte er, nachdem er fertig war. »In diesem Grabe liegt mein Vater«, gab der Diener zur Antwort. »Und nun sitze ich hier und schaue zu, wie wohl es ihm im Paradies ergeht.«

»Wie gelingt es dir denn, deinen Vater zu sehen, obgleich er tot ist? Ich komme täglich auf den Friedhof und bete, aber mein Vater ist mir noch nie erschienen.«

»Teurer junger Herr! Würdest du von diesem Wunderwasser trinken, dann könntest du deinen lieben Vater ebenfalls erblicken.«

»Was ist das für ein Wunderwasser?« fragte der Wesirssohn. »Lass mich einmal kosten.«

»Oh nein!« wehrte der Diener ab. »Das geht leider nicht. Es ist zu teuer.«

»Nun, glücklicherweise hat mir mein Vater Geld und Gut in Hülle und Fülle hinterlassen, so dass ich nicht damit zu geizen brauche. Gib mir von dem Wasser, ich will's dir bezahlen.«

»Dann bin ich einverstanden. Gib mir zehn Dukaten und leere den Krug in einem Zuge, so wirst du deinen Vater sehen.«

»Hier ist das Geld!« rief der Wesirssohn, zählte dem Diener zehn Dukaten ab, setzte den Krug an die Lippen und leerte ihn bis zur Neige. Augenblicks ward er berauscht, vergaß seinen Vater sowie Anstand und Sitte, trank weiter, bis die Sonne unterging, fing am nächsten Morgen wieder an und verwandelte sich schon nach kurzer Zeit in einen ausgepichten Trunkenbold. Hatte er ein Stück Land verkauft, so ging er mit dem Erlös in die nächste Kneipe und kam erst wieder zum Vorschein, nachdem er alles durch die Gurgel gejagt hatte.

Er verschleuderte in wenigen Jahren sein ganzes Erbe und geriet in bittere Not. Und als er nicht mehr aus noch ein wusste, verdingte er sich bei einem Bäcker als Brotverkäufer. Im Laufe der Zeit verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, dass die Witwe des Wesirs Schlüssel zu drei Geheimkammern besäße. Davon erfuhr schließlich auch der Wesirssohn, eilte zu seiner Mutter und flehte sie an, ihm doch wenigstens einen Schlüssel zu überlassen. Nun, man weiß ja, wie Mütter sind, sie können keiner Bitte ihrer Kinder widerstehen, auch die Wesirswitwe war nicht anders, und so händigte sie ihm einen Schlüssel ein. Aber was sah der Jüngling, als er die Türe auf schloß? In der Kammer befand sich nichts als eine elende Truhe, für die kein Zigeuner auch nur einen Heller geben würde, und darin lag ein Beutel. Schade! dachte der Wesirssohn enttäuscht. Demnach war mein Vater seinerzeit ebenso arm, wie ich es jetzt bin. Nun, den Beutel kann ich wenigstens zur Aufbewahrung des Geldes benutzen, das ich für den Bäckermeister einnehme. Er kehrte in den Laden zurück und arbeitete weiter. Aber wie groß war seine Verwunderung, als er merkte, dass die Kupferstücke, die er in den Beutel steckte, sich in Golddukaten verwandelten. »Allah sei gelobt!« rief er frohlockend. »Der selige Vater hat mir einen unerschöpflichen Reichtum hinterlassen!«

Am folgenden Tage Verkündeten die Ausrufer allem Volke, dass der Sultan seine Tochter verheiraten wolle. Jedermann dürfe sich bei ihr einstellen, und wer sie zum Lachen bringe, der solle sie haben. Aber für das Recht, die Schwelle ihrer Stube zu überschreiten, müsse er zehn Beutel Geld bezahlen.

Der Wesirssohn rannte schnurstracks zum schloss, zählte zehn Beutel Geld ab und trat vor die Sultanstochter hin. Doch sie verzog bei den lustigen Geschichten, die er ihr erzählte, keine Miene, ja, sie sah ihn überhaupt nicht an, und er zog unverrichteter Dinge ab. Aber auf der Schwelle machte er sofort kehrt, zählte noch einmal zehn Beutel Geld ab und trat wieder vor sie hin. Auch diesmal hatte er keinen Erfolg. Als er jedoch zum dritten Mal vor ihr erschien, blickte sie ihn an. »Ach, Jüngling, Jüngling!« sprach sie, »reut dich nicht das Geld, das du aus dem Fenster wirfst?«

»Nicht die Spur!« antwortete er. »Mein verstorbener Vater hat mir einen Wunderbeutel hinterlassen, in dem das Geld niemals ausgeht.«

»Kann ich den Beutel einmal sehen?«

»Freilich!« Der Wesirssohn zog ihn aus der Tasche und zeigte ihn ihr. Da riss sie ihm den Beutel weg und jagte ihn hinaus.

So blieb dem Unglücklichen nichts anderes übrig, als zu seinem Bäckermeister zurückzukehren. Doch am folgenden Tage ging er wieder zu seiner Mutter und bat sie flehentlich, ihm doch den Schlüssel zur zweiten Kammer zu geben, und auch diesmal ließ sie sich von seinen Bitten rühren. Er schloss die Türe auf und erblickte wieder eine Truhe, in der aber eine Pluderhose lag, so zerrissen, dass kein Zigeuner auch nur einen roten Heller dafür geben würde. Mein Gott, wie schade! dachte der Wesirssohn enttäuscht, zog die Pluderhose an und ging zur Bäckerei zurück. »Nun, Meister, was soll ich jetzt machen?« fragte er, als er dort angelangt war. Der Bäckermeister sah sich nach allen Seiten um, denn er hörte seine Stimme wohl, vermochte ihn aber nicht zu erblicken. »Wo bist du denn?« rief er. »Ich sehe dich nicht!« Da merkte der Wesirssohn, dass die Pluderhose Zauberkraft besaß und unsichtbar machte.

Er ging hinters Haus, zog sie aus, kehrte dann zu seinem Herrn zurück, und dieser befahl ihm, wieder Brot zu verkaufen. Bei Anbruch der Nacht zog der Wesirssohn die zauberkräftige Pluderhose an und begab sich schnurstracks zum Sultanspalast. Und da er unsichtbar war, kam er ungeschoren an der grimmigen Palastwache vorüber und gelangte in die Stube der Sultanstochter. Er schloss sie in die Arme, herzte und küsste sie. Die Sultanstochter wusste nicht, wie ihr geschah, denn sie sah niemanden. »Ich beschwöre dich, unsichtbarer Geist, nenne mir deinen Namen!« rief sie. »Wer bist du?«

»Ich bin der Mann, dem du den Zauberbeutel weggenommen hast!« antwortete der Wesirssohn. »Und ich werde dich nicht eher freilassen, bis du ihn mir zurückgibst und mir versprichst, mich zu heiraten.« »Hast du denn nicht meinen Brief erhalten?« rief die Sultanstochter geistesgegenwärtig. »Ich schrieb dir doch nach deinem Weggang, dass du zurückkommen und dich mit mir vermählen möchtest. Ich wollte dich ja nur auf die Probe stellen! Und jetzt sage mir, weshalb meine Augen dich nicht sehen können!«

»Ach, Geliebte, ich trage eine Pluderhose, die mich unsichtbar macht.«

»Zieh sie doch aus, damit ich dein liebes Gesicht sehe und nach Herzenslust mit dir plaudern kann!« schmeichele die Sultanstochter. »Ich habe mich auf den ersten Blick in dich verliebt und will nur dich zum Mann!« Wiederum fiel der Wesirssohn auf ihre List herein und streifte die Zauberhose ab. Die Sultanstochter riss sie ihm aus der Hand und schlug Lärm, so dass die Diener in die Stube stürzten und der Wesirssohn kaum mit heiler Haut davonkam.

Am nächsten Tage ging er zu seiner Mutter und bat sie flehentlich, ihm doch den Schlüssel zur letzten Kammer zu geben. Wenn die ersten beiden Kammern nichts Nützliches enthalten haben, wird auch in der dritten nichts zu finden sein! dachte die Mutter und tat ihm den Willen. Er schloss die Türe auf, und siehe, wieder stand in der Kammer eine Truhe, aber diesmal lag eine Flöte darin. Als er hinein blies, um zu sehen, was wohl daraus würde, standen plötzlich zwei Mohren vor ihm. »Was befiehlst du, Herr?« riefen sie. Der Wesirssohn hatte sich schon an die vielen Wunder gewöhnt und verlor deshalb nicht die Fassung. »Stellt ein Heer auf, größer als alle Heere des Sultans, und lasst es morgen früh auf den Hügeln von Istanbul aufmarschieren!« befahl er. »Dein Wille geschehe!« erwiderten die Mohren mit tiefer Verneigung und verschwanden. Bei Tagesanbruch wurde dem Sultan gemeldet, dass ein mächtiger Schah mit einem gewaltigen Heer vor Istanbul aufmarschiert wäre und gedroht hätte, die Stadt zu vernichten. Der Sultan erschrak zu Tode und rief seine Räte zu sich, um mit ihnen nach einem Ausweg zu sinnen.

Die Tochter des Sultans hingegen ahnte sogleich, wer dahinter steckte, schlich sich, als Mann verkleidet, aus dem Palast, schwang sich auf einen arabischen Renner und jagte spornstreichs zum feindlichen Lager. Dort wurde sie von der Wache angehalten und zum Wesirssohn gebracht. Sie entdeckte sich ihm und überschüttete ihn mit Vorwürfen, weil er in jener Nacht so eilig geflohen wäre. »Ich habe doch nur gescherzt!« beteuerte sie. »Hinterher suchte ich dich überall, aber du warst nirgendwo zu finden.« Auch diesmal ließ sich der Wesirssohn von ihr übertölpeln und schloss sie glückselig in die Arme. Als sie nun merkte, dass sein Zorn verraucht war, fragte sie ihn, durch welch neues Zaubermittel er soviel Macht gewonnen hätte. Da zog er die Flöte hervor, weigerte sich aber, sie ihr in die Hand zu geben. Aber ehe er es sich versah, riss sie ihm die Flöte weg und schlug ihn damit aufs Haupt, dass er ohnmächtig zu Boden fiel. Dann blies sie in die Flöte, und als die Mohren erschienen und sie nach ihren Befehlen fragten, sagte sie: »Löst das Heer sofort wieder auf, denn ich brauche es nicht mehr.« Im selben Augenblick war das Heer verschwunden. Da schwang sie sich auf ihr Pferd und jagte nach Istanbul zurück. Als der Wesirssohn wieder zur Besinnung kam, sah er, dass er mutterseelenallein auf einem kahlen Hügel lag. Nun war er wieder bettelarm, und ihm blieb nichts anderes übrig, als zum Bäckermeister zurückzukehren und Brot zu verkaufen.

Monate vergingen, es wurde Winter. Eines Morgens wollte der Wesirssohn seiner alten Mutter einen Besuch abstatten, traf sie jedoch nicht daheim an und schlenderte durch den Garten. Da sah er zu seiner größten Überraschung in einem entlegenen Winkel einen Kirschbaum stehen, von einem Rebstock umrankt, und beide brachen schier von Früchten. »Allah sei gepriesen!« rief der Wesirssohn. »Reich ist die Hinterlassenschaft meines Vaters. Es müssen Wunderbäume sein, die mitten im Winter Früchte tragen!« Dann pflückte er zwei Kirschen ab und steckte sie in den Mund. Doch kaum hatte er sie heruntergeschluckt, da wuchsen ihm zwei Hörner aus dem Kopf, und ehe er bis zehn zählen konnte, waren sie je einen Meter lang geworden. »Die haben mir gerade noch gefehlt!« seufzte der Wesirssohn und verfluchte den Kirschbaum in allen Tonarten. Dann aber dachte er: Ich bin sowieso verloren, da macht es auch nichts mehr aus, wenn ich obendrein zwei Weinbeeren esse. Und siehe da! Als er die Weinbeeren hinunterschluckte, da verschwanden die Hörner spurlos. »Allah sei gepriesen!« rief der Wesirssohn. »Wenn du mir beistehst, Allmächtiger, wird es mir gelingen, Beutel, Pluderhose und Flöte zurück zu gewinnen!« Er pflückte einen Korb voll Kirschen, brachte sie zum Sultanspalast und trug einem Laufjungen auf, den Korb zum Sultan zu tragen, ihn aber nur diesem und keinem anderen zu übergeben.

Staunend betrachtete der Sultan die herrlichen Früchte, belohnte den Knaben reichlich, ohne ihn zu fragen, woher er die Kirschen hätte, und entließ ihn. Um seine Familie zu überraschen, schloss der Sultan die Kirschen ein und stellte sie erst nach dem Abendessen auf den Tisch. Freudig begannen alle zu schmausen. Aber ihre Freude wandelte sich in Entsetzen, als sie sahen, dass einem jeden so viele Hörner wuchsen, wie er Kirschen gegessen hatte. Am schlimmsten verunstaltet war die Sultanstochter, die für ihr Leben gern Kirschen aß und sich eine ganze Handvoll in den Mund gestopft hatte. Aber auch der Mufti, dem der Sultan ein paar Kirschen gesandt hatte, war plötzlich gehörnt. Verzweifelt zerbrach sich der Sultan den Kopf, wie er sich und seine Familie von den Hörnern befreien könnte, ohne dass jemand davon erfuhr.

Inzwischen verkleidete sich der Wesirssohn als Scheich, ging zum Palast und forderte die Wachen auf, ihn vor den Sultan zu führen. Doch das lehnten sie rundweg ab, denn es war ihnen selbst streng verboten, die Schwelle zum Gemach des Sultans zu überschreiten. Nur ein alter Kammerdiener hatte dort Zutritt; aber auch er erklärte, dass der Sultan niemand empfinge. »Geh zu deinem Herrn und melde ihm, dass mir im Traum ein Bote Allahs erschien und mir auftrug, unseren Gebieter von seiner Krankheit zu heilen!« sagte der vermeintliche Scheich unbeirrt. Da ging der Kammerdiener bereitwillig zum Sultan, und dieser ließ den Scheich auf dem schnellsten Wege zu sich führen. Der Scheich befahl ihm, die Augen zu schließen und steckte ihm dann zwei Weinbeeren in den Mund. Im selben Augenblick waren die Hörner spurlos verschwunden.

Auf die gleiche Art heilte der Scheich auch die übrigen Familienmitglieder des Sultans, bis nur noch die Tochter übrig war. »Diese Jungfrau kann ich nicht heilen«, sagte er dann, »sie ist eine allzu große Sünderin.« Der Sultan bekam einen gewaltigen Schrecken. Verzweifelt beschwor er den vermeintlichen Scheich, doch wenigstens einen Versuch zu machen, und schließlich ließ sich dieser erweichen. »Gut«, sprach er, »ich will sie von ihren Hörnern befreien, aber sie muss mir zuvor alle Gegenstände übergeben, die sie sich unrechtmäßig angeeignet hat.« Die Sultanstochter leugnete zwar, sich jemals unrechtmäßig etwas angeeignet zu haben, doch als der Scheich den Geldbeutel, die Pluderhose und die Flöte erwähnte, wurde sie kleinlaut und holte die drei Wunderdinge herbei. Der Scheich nahm sie an sich, gab sich als Wesirssohn zu erkennen und erzählte dem Sultan, was seine Tochter ihm angetan hatte. »Dennoch liebe ich sie«, fuhr er fort, »und werde sie erst von den Hörnern erlösen, wenn du mich mit ihr vermählst.« Gebe ich sie dem Wesirssohn nicht, so wird sie ihre Hörner nie wieder los, sagte sich der Sultan. »Einen besseren Schwiegersohn kann ich mir nicht wünschen!« rief er. »Werdet glücklich, meine Kinder!« Da gab der Wesirssohn der Sultanstochter so viele Weinbeeren zu essen, wie sie Hörner auf dem Kopf hatte. Noch am selben Tage wurden sie vermählt, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch in Eintracht und Frieden!