[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Hirtensohn

In fernen Zeiten lebte ein Hirte auf dieser Welt. Viele Jahre lang hütete er die Schafe des Beis, das Geld aber, das er für seine Mühen erhielt, sparte er, denn er wollte sich eine Frau kaufen. Als die Summe schließlich ausreichte, heiratete er und wurde ein guter Ehemann. Nach einem Jahr schenkte ihm sein Weib einen Sohn. Der Knabe wuchs heran und bereitete den Eltern viel Freude. Doch als er vier Jahre alt war, brach großes Unglück über die Kibitka des Hirten herein. Zuerst starb der Hirt, und bald folgte ihm sein Weib. Entfernte Verwandte des Vaters nahmen den armen Waisenknaben zu sich. Sie waren nicht reich und zudem geizig. Der Knabe litt große Not. Die Verwandten erinnerten sich seiner erst, wenn er fast verhungert war. Dann gaben sie ihm ein Stück vertrockneten Fladen und fanden, dass selbst dies noch zu viel für ihn sei. Wenn der Knabe so ein Stück Fladen bekam, ging er zum Fluss, warf es ins Wasser und wartete, bis es feucht und deshalb ein wenig weicher wurde. Dann schnippte er kleine Häppchen davon ab und stillte seinen Hunger. Sorgfältig suchte er keine einzige Krume zu verlieren, doch immer wieder fiel ihm ein Krümel aus der Hand ins Wasser, wo es also gleich ein kleines Fischlein auffing. Viele Jahre gingen ins Land. Der Knabe wuchs heran, und das Fischlein ebenfalls. Er wurde zu einem kräftigen, stattlichen Jüngling, und der Fisch zu einem großen Wels. Sie waren gute Freunde. Sobald der Knabe zum Fluss kam, zeigte sich der Wels. Er plätscherte dann stets am Ufer im Wasser.

Eines Tages ging der Hirtensohn zum Jahrmarkt. Da hörte er, wie ein reicher Mann, der sich durch die Menge drängte, rief: »Jeder, der will, kann sich bei mir verdingen. Vierzig Tage will ich ihn verpflegen, einen Tag zwinge ich ihn, sich zu mühen.« Der Hirtensohn dachte bei sich: Ich könnte doch eigentlich in seine Dienste treten. Er ging zu dem Bei und sagte laut: »Nehmen Sie mich.« Der Bei musterte den Burschen von allen Seiten, und da er ihm gefiel, nahm er ihn zu sich in Dienst. Vierzig Tage lang setzte er dem Hirtensohn wie versprochen die besten Speisen vor, am einundvierzigsten aber hieß er ihn den fettesten Ochsen mit dem Lasso fangen. Er selbst setzte sich auf das Leittier, fünf Kamele folgten ihm, und der Knecht musste mit dem Ochsen den kleinen Zug beschließen.

Ob die Karawane lange Zeit unterwegs war oder kurze Zeit, wir wissen es nicht. Endlich hielt sie unweit des Berges Kelesaw zu kurzer Rast. »Mein Sohn«, sagte der Bei, »nun töte den Ochsen und zieh ihm die Haut in einem Stück ab.« Der Hirtensohn tat, wie der Herr ihn geheißen. »Jetzt krieche in die Haut und schau nach, ob du sie nicht irgendwo aus Versehen eingeschnitten hast«, befahl der Bei. Der Hirte kroch in die Haut, da knüpfte der Bei sie rasch mit dem Strickende zu, an dem der Hirte den Ochsen geführt hatte. Dann trieb er die Kamele zum Kelesaw-Berg und blieb abwartend stehen. Raubvögel stürzten sich auf den Ochsenkadaver, und bald waren nur die Knochen übrig geblieben. Dann packten sie die Ochsenhaut mit dem eingebündelten Hirtensohn, trugen die Bürde auf den Gipfel des Kelesaw und huben an, sie in Stücke zu reißen. Kaum hatte sich in der Haut ein ausreichend großes Loch gebildet, da vertrieb der Hirtensohn die Vögel mit lauten Schreien und kroch ans Tageslicht. Als er sich umschaute, merkte er, dass er sich auf dem Gipfel eines hohen Berges befand. Zu einer Seite breitete sich endlose Steppe aus, zur anderen strömte ein ungebärdiger Fluss dahin. Von den hohen Steilwänden führte kein Pfad ins Tal hinab.

Als sich der Hirtensohn aufmerksam umsah, erblickte er die Karawane mit sechs Kamelen und an ihrer Spitze seinen Brotherrn. »He, Vater«, rief der Hirtensohn. »Was hast du mir angetan? Was habe ich für eine Schuld auf mich geladen? Wie soll ich von hier auf die Erde zurück?«

»Vertrödle keine Zeit«, tönte es von unten zurück, »wirf die Steine hinab, die dir zu Füßen liegen, ich aber will die Kamele beladen. Sobald die Ballen prall gefüllt sind, will ich dir sagen, wo du absteigen kannst.« Ohne seine Kräfte zu schonen, schleuderte der Hirtensohn Stein um Stein, Felsbrocken um Felsbrocken in die Tiefe. Sie aber waren aus purem Gold und Silber. Der Bei belud indes seine Kamele. Als die Ballen prall gefüllt waren, stieg der Bei auf das vorderste Kamel, und die Karawane begab sich auf den Rückweg. »He-he, Bei-aga!« rief der Hirtensohn. »Du hattest versprochen, mir den Abstieg zu zeigen, nun aber reitest du von dannen!«

»Was siehst du dort außer Steinen?« vernahm er als Antwort. »Knochen!«

»Das sind die Knochen solcher Menschen, wie du es bist. Wer auf diesen Berg gerät, kehrt nimmermehr zurück. Lebwohl!« Und die Karawane entfernte sich.

Der Hirtensohn blickte dem hartherzigen Mann nach und überlegte, wie er sich aus seiner misslichen Lage befreien könnte. Immer wieder hielt er nach allen Seiten Ausschau, doch es wollte ihm kein erlösender Gedanke kommen. Verzweifelt dachte er: Lieber sollen die Fische mich fressen, als dass ich mich von den Raubvögeln in Stücke reißen lasse. Mit diesen Gedanken stürzte er sich in den Fluss... Im Fallen erblickte er plötzlich den Wels. Kaum hatte der Hirtensohn das Wasser berührt, da fand er sich am Ufer wieder. Voller Dankbarkeit sprang er auf die Füße, denn er hoffte, seinen Retter zu erblicken, und wollte ihm danken, doch der war bereits verschwunden.

Über kurz oder lang kehrte der Hirtensohn heim. Eines Tages hörte er, dass abermals Jahrmarkt sein sollte. Wenn ich dort hingehe, überlegte er, finde ich vielleicht eine Arbeit. Er zog los. Plötzlich sah er, wie der Bei, den er schon kannte, auf dem Basar umherscharwenzelte und lauthals verkündete: »Jeder, der will, kann sich bei mir verdingen. Vierzig Tage lang will ich ihn verpflegen, einen Tag zwinge ich ihn, sich zu mühen!« Der Hirtensohn dachte insgeheim: Wahrscheinlich erkennt er mich nicht wieder. Will versuchen, noch einmal in seine Dienste zu treten. In der Tat vermutete der Bei in dem gut gewachsenen Jüngling nicht seinen ehemaligen Knecht und nahm ihn mit sich.

Vierzig Tage vergingen, am einundvierzigsten rüstete der Bei aber eine Karawane und führte sie zum Kelesaw-Berg. Als der Hirtensohn den Ochsen getötet und ihm die Haut abgezogen hatte, gebot der Bei ihm abermals, in die Ochsenhaut zu kriechen, um zu sehen, ob sie unversehrt und nicht etwa an einer Stelle eingeschnitten sei. Sagte der Knecht: »Ach, Bei-aga, ich weiß nicht, wie ich in diese Haut kriechen soll. Zeigt es mir!« So sehr der Bei ihn auch zu zwingen suchte, der Knecht beharrte auf seiner Bitte: »Zeigt es mir!...« Der Bei wurde wütend. »So musst du hineinkriechen, du dummer Kerl!« schrie er und kroch in die Ochsenhaut. Kaum war der Kopf des Beis in der Haut verschwunden, da schüttelte der Hirtensohn den ledernen Sack und knüpfte ihn fest mit dem Strick zu, an dem er den Ochsen geführt hatte. Soviel der Bei auch bitten und drohen mochte, der Hirtensohn tat, als höre er ihn nicht. Er nahm das Kamel beim Zaum, schritt der Karawane voran, rührte sie zur Seite und wartete ab, was weiter geschehen würde.

Ebenso wie beim letzten Mal flogen die Raubvögel herbei und vertilgten im Handumdrehen den Ochsenkadaver. Dann packten sie die zugeknöpfte Haut, in der der Bei steckte, trugen sie auf den Gipfel des Kelesaw-Berges und begannen das Bündel in Stücke zu reißen. Kaum hatte sich ein ausreichend großes Loch gebildet, da kroch der Bei aus der Ochsenhaut. Als er sich umschaute, erblickte er eine Vielzahl von Knochen. Sie gehörten den Menschen, die er in den Tod getrieben hatte. Da dachte er bei sich: Jetzt scheint sich das Sprichwort zu erfüllen: Wer ein Feuer entzündet, verbrennt selbst darin, wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Laut rief er dem Hirtensohn zu: »He, mein Sohn, was hast du mir angetan! Was habe ich für eine Schuld auf mich geladen. Wie soll ich von hier auf die Erde zurück?«

»Bei-aga, vertrödle keine Zeit«, tönte es von unten zurück, »wirf die Steine hinab, die dir zu Füßen liegen, ich aber will die Kamele beladen. Sobald die Ballen prall gefüllt sind, will ich dir sagen, wo du absteigen kannst. Letztes Mal hast du mich dort hinauf geschickt, und wie du siehst, bin ich heil und unversehrt zurückgekehrt.«

Der Bei erkannte seinen ehemaligen Knecht, und in seiner Seele glomm ein Funken Hoffnung auf. Drum begann er, ohne zu zaudern, die wertvollen Steine hinab zu werfen. Als die Kamele beladen waren, schwang sich der Hirtensohn auf den Rücken des Leittiers, und die Karawane setzte sich in Bewegung. »He, mein Sohn, du hattest versprochen, mir den Abstieg zu weisen, nun aber ziehst du von dannen«, schrie der Bei flehentlich. »Ach ja, das habe ich ganz vergessen«, gab der Hirtensohn zurück. »Aber umsonst kann ich das nicht machen.«

»Ich bin bereit, dir zu zahlen, was immer du forderst«, erwiderte der Bei also gleich. »Rette mir nur mein Leben.«

»Gib es mir schriftlich, dass du mir all deinen Reichtum vermachst.« Der Bei verfasste das geforderte Schriftstück, setzte sein Siegel darunter, das er niemals von sich gab, und warf es hinab. Der Hirtensohn sah sich genau an, ob alles auch so geschrieben stand, wie die Vorschrift es verlangt, steckte es in den Gürtel und sagte: »Und nun lebe wohl, Bei-aga: Hast dir deine Grube selbst gegraben und bist hineingefallen, nun sieh auch zu, wie du wieder hinauskommst.« Als der Hirtensohn in seinen Heimataul zurückkehrte, wies er das Schriftstück des Beis vor und wurde zum Besitzer all dessen Güter. So wurde der Hirtensohn ein guter, gerechter Herr.