[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Hirte und die Tochter des Khan

Ein Hirte lebte seinen Lebtag auf einem Berg mit vierzig Stuten. In einem Jahr fohlten sie alle. Eines der Fohlen aber sprach zum Hirten: »Töte alle anderen Fohlen und gib mir die Milch der vierzig Stuten.« Der Hirte verwunderte sich, erfüllte jedoch die seltsame Bitte. Im Jahr darauf warfen wiederum alle vierzig Stuten. Das Fohlen wiederholte seine Bitte, und der Hirte erfüllte sie. Im dritten Jahr begab sich dasselbe. Im vierten Jahr aber erzürnte sich der Hirte und versagte dem unersättlichen Fohlen den Wunsch. Drauf bat das Fohlen den Hirten, ihm einen unterirdischen Stall zu bauen. Dieser Bitte kam der Hirte nach.

Zu jener Zeit entbrannte der Khan, dem die Ländereien gehörten, auf denen der Hirte mit seinen vierzig Stuten lebte, in heißer Liebe zur Tochter eines anderen Khan, der ein fremdes Land regierte. Viele Mutige hatte der Khan bereits in jenes ferne Land ausgeschickt, um für ihn um das schöne Mädchen zu werben, doch keiner hatte je über Meere und Ozeane jenes weite Land erreicht. Die einen fanden unterwegs den Tod, andere kehrten unverrichteterdinge heim. Eines Tages fragte der Khan seine Vertrauten: »Gibt es in meinem Reich keinen Untertanen mehr, der noch nicht ausgezogen ist, um mir die Tochter jenes Khan zuzuführen?«

»Ein einziger Hirte ist geblieben. Er lebt in den Bergen«, erwiderten die Vertrauten. Der Khan befahl, diesen Hirten herbeizuschaffen. Als die Abgesandten des Khans zu unserem Hirten kamen, wieherte das Ross laut in seinem unterirdischen Stall. Der Hirte stieg hinab zu ihm. Das Pferd erzählte seinem Herrn, weshalb der Khan nach ihm ausgeschickt habe, und befahl ihm, den Abgesandten zu antworten, dass er sich zum Khan begeben werde. Der Hirte befolgte den Rat. Am nächsten Tag schwang er sich auf sein Ross und ritt zum Palast.

Als sie die Stadt erreichten, in welcher der Khan regierte, verwandelte sich das feurige Ross in eine abgeklapperte Schindmähre. Die Vertrauten des Khans lachten den Hirten aus und ließen ihn nicht zu ihrem Gebieter. Als der Hirte. die Stadt verlassen hatte, nahm das Ross seine frühere Gestalt an und sprach: »Wir reiten jetzt in das fremde Land und bringen dem Khan die Braut! Halte dich nur fest im Sattel, wenn ich über Meere und Ozeane fliege.«

Und sie machten sich auf den Weg. Das Ross schoss wie ein Pfeil dahin, und der Hirte bemerkte nicht einmal, wie sie das Meer erreichten. Als das Pferd jedoch über die Meereswellen dahin glitt, hing einer seiner Hufe im Wasser, die übrigen drei schwebten in der Luft. Das Pferd fragte traurig: »Weißt du noch, wie du mir einmal die Milch der vierzig Stuten verweigert hast?« Bedrückt schaute es auf seinen Huf, der ins Wasser hing. Endlich gelangte der Hirte zum Palast des fremden Khans. Das Ross nahm den hohen Zaun mit einem Sprung und stand mitten auf dem Innenhof. Der Hirte band sein Pferd an und begab sich in den Palast.

Der Khan begrüßte den verwegenen Burschen und fragte: »Was führt dich zu mir? Wer bist du, und wie gelangtest du in mein Reich?« Der Hirte erzählte dem Khan seine Geschichte und fügte hinzu: »Obwohl der Khan meines Landes deine Tochter nie von Angesicht gesehen hat, ist er in Liebe zu ihr entflammt und bittet um ihre Hand.« Nach einigem Nachdenken willigte der Khan ein, seine Tochter mit dem fremden Gebieter zu vermählen, wenn sie ihr Jawort gebe. So ritt der Hirte mit der lieblichen Jungfrau zurück. Wie der Sturmwind jagten sie über Meere und Berge und kamen zu der Stadt, in der der Khan lebte, dem der Hirte untenan war. Vor dem Stadttor verwandelte sich das stolze Ross wieder in eine abgemagerte Schindmähre.

Als sich der Hirte dem Palast näherte, entrissen ihm die Vertrauten des Khans die wunderschöne Jungfrau und fühlten sie zum Khan, den Hirten aber jagten sie aus der Stadt. Der ließ es sich gefallen und kehrte zu seiner Herde zurück.

Der Khan wusste sich vor Freuden nicht zu lassen. »Wer hat mir die Braut zugeführt?« rief er aus. »Ich!« erwiderte stolz einer der Vertrauten des Khans. Der Khan ließ zu einer prunkvollen Hochzeit rüsten. Doch die Braut bat: »Ich will mich mit dir vermählen, wenn du mir einen Wunsch erfüllst. Schafft mir die goldene Badewanne meines Vaters her, füllt sie mit Milch und stellt sie aufs Feuer. Sobald die Milch kocht, sollst du, mein Gebieter, darin baden. Danach will ich gern dein getreues Eheweib werden.«

Der Khan suchte also nach Kühnen, um die goldene Wanne zu holen, doch keiner wollte sich auf diesen schweren Weg begeben. So musste man sich wieder an den Hirten wenden. Als er vor den Khan treten wollte, hinderten ihn seine Vertrauten daran. Das allwissende Ross erzählte seinem Herrn, weshalb der Khan ihn rufen ließ, und der Hirte ritt aus, die goldene Wanne zu holen. Der alte Khan, der erriet, dass seine Tochter bestimmte Absichten hegte, gab dem Hirten die goldene Wanne. Der kehrte wohlbehalten zurück, doch wieder nahmen ihm die Bediensteten seine Bürde ab und trugen sie selbst zu ihrem Gebieter. Die stolze Jungfrau ließ die Wanne mit Milch füllen und aufs Herdfeuer stellen. Als sie kochte, sprach sie zum Khan: »Dein Bad ist gerichtet, mein Herr und Gebieter.« Doch der Khan erschrak und verlangte, dass zuvor ein anderer in der kochenden Milch baden solle.

Da sich kein Mutiger fand, wurde wieder der Hirte gerufen. Der ritt auf seinem feurigen Ross herbei. Unterwegs aber belehrte ihn sein getreues Pferd: »Binde mich am Rand der goldenen Wanne fest! Steige aber erst ins Bad, wenn ich geschnauft habe!« Der Hirte entkleidete sich und machte sich bereit fürs Bad. In diesem Augenblick schnaufte das Pferd, und die Milch erkaltete. Der Hirte stieg in die Wanne, badete mit Vergnügen, doch während er sich ankleidete, kochte die Milch aufs Neue. Der Khan dachte bei sich: Wenn der Hirte ein Bad genommen hat, kann ich es erst recht! Doch kaum war er in die Wanne gestiegen, starb er eines jämmerlichen Todes in der brodelnden Milch. Der Hirte aber wurde berühmt im ganzen Land, und die stolze Jungfrau nahm ihn zu ihrem Gemahl.