[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Häuptling mit dem Halbmond

Es war einmal ein Häuptling, der von Geburt an mitten auf der Brust einen Halbmond trug. Dieser Häuptling hatte zwei Frauen. Der älteren von beiden waren zwei Söhne geboren worden, von denen aber keiner den Halbmond mitbekommen hatte. Die jüngere Häuptlingsfrau hatte zu der Zeit noch keine Kinder, und so liebte der Häuptling die ältere wegen ihrer Söhne mehr. Kurze Zeit später aber wurde die jüngere Frau ebenfalls schwanger. Am Tag ihrer Niederkunft rief sie die ältere Frau zu Hilfe. Das Kind wurde geboren, es war ein Sohn, und mit Überraschung und Eifersucht entdeckte die ältere Frau mitten auf seiner Brust den Halbmond. Als die jüngere Frau einen Augenblick unaufmerksam war, nahm die ältere, krank vor Eifersucht, das Kind rasch an sich, lief damit zum Viehkraal, wo eine Hündin ein paar Tage zuvor geworfen hatte, und nahm einen der Welpen. Das Neugeborene versteckte sie in einem großen Biergefäß in der Hütte und legte den Welpen neben die Mutter. Dann rüttelte sie die Mutter wach und zeigte auf den Hund. »Sieh nur«, rief sie, »sieh, was du geboren hast!« Als die junge Mutter den Welpen sah, war sie zutiefst beschämt und traurig, denn sie wusste ja nicht, was geschehen war. Nach einer Weile wollte die ältere Frau das Neugeborene aus dem Biergefäß nehmen, um es zu töten, aber zu ihrem großen Erstaunen musste sie feststellen: Das Kind war verschwunden! Eine kleine Ratte hatte nämlich alles beobachtet und das Kind heimlich in ihr Loch gebracht.

Die ältere Frau lief nun zu ihrem Mann und berichtete ihm: »Die Jüngere hat einen Hund geboren.« Der Häuptling war wütend und sagte: »Geh, ich möchte so etwas gar nicht sehen, geh und bring das Tier sofort um.« Da brachte die Frau den Welpen in den Viehkraal zurück. Von jetzt an behandelte der Häuptling seine jüngere Frau roh, gab ihr böse Worte und hielt ihr vor, dass sie ein Ungeheuer zur Welt gebracht habe. Folglich schenkte er ihr auch nichts mehr, sondern sagte, dass sie sich in Zukunft an ihren Vater halten solle, wenn sie etwas brauche. Die kleine Ratte aber brachte das Kind jede Nacht heimlich zu seiner Mutter, damit sie es säugen konnte, und das tröstete die arme Frau sehr.

Eines Tages, als niemand da war, ging die ältere Frau in die Hütte der jüngeren und beobachtete, wie die kleine Ratte mit dem Kind spielte. Unruhig geworden, ersann sie eine List. Als der Häuptling nach Hause kam, gab sie vor, krank zu sein, und auf die Frage ihres Mannes, was ihr denn fehle, erwiderte sie: »Ich habe heute den Medizinmann kommen lassen, und der hat geweissagt, dass du die Hütte der jüngeren Frau niederbrennen musst, wenn ich mich je wieder erholen soll.« Der Häuptling, der die ältere Frau liebte, war damit einverstanden, und am nächsten Morgen wurde die Hütte der Jüngeren bis auf den Grund niedergebrannt. Aber die kleine Ratte hatte mitgehört, was geschehen sollte, und das Kind schnell im Viehkraal in Sicherheit gebracht.

Als die ältere Frau später einmal durch den Viehkraal ging, beobachtete sie erneut, wie die kleine Ratte mit dem Kind spielte. Auch diesmal stellte sie sich krank und erzählte ihrem Mann, dass der Medizinmann geraten hatte, den Viehkraal zu zerstören, weil sie sonst ganz bestimmt sterben müsse. Der Häuptling gab den Befehl, den Viehkraal niederzubrennen. Aber die kleine Ratte hatte gelauscht und war mit ihrem kleinen Freund heimlich in das Dorf eines benachbarten Häuptlings geflohen. Dort brachte sie das Kind in einer Gästehütte unter, in der es aufwuchs.

Jahre später wohnten einmal zwei Besucher in der Hütte und sahen mitten auf der Brust des Jungen, der inzwischen herangewachsen war, den Halbmond. »Woher kommst du?« fragten sie ihn erstaunt. Der Junge, der seine Geschichte von der kleinen Ratte erfahren hatte, nannte den Männern den Namen seines Vaters. »Und was tust du hier?« wollten die Männer wissen. Da erzählte ihnen der Junge, was ihm seit seiner Geburt widerfahren war. Voller Staunen über das, was sie erfahren hatten, versprachen die Männer, dem Vater des Jungen schon am nächsten Morgen vom Aufenthaltsort seines Sohnes zu berichten. Aber aus Furcht davor, dass die ältere Frau versuchen würde, ihn zu töten, ließ sich der Junge versichern, dass die Männer niemandem außer seinem Vater das Versteck verraten würden.

Der alte Häuptling konnte sich kaum fassen, als er die Neuigkeit gehört hatte. »Seid ihr sicher, dass es mein Sohn ist?« fragte er. »Ganz sicher«, antworteten die Männer, »er hat den gleichen Halbmond auf der Brust wie du.« Sofort rief der Häuptling seine ältere Frau zu sich und befahl ihr, viel Bier brauen zu lassen. Er selbst begab sich am Abend in das Dorf, wo sich sein Sohn versteckt hielt, und als er den Halbmond sah, war er endgültig beruhigt und lauschte schweigend der Geschichte, die sein Sohn zu erzählen hatte. »Bleib heute Nacht noch hier, morgen werde ich nach dir schicken«, sagte er. Als er wieder in seinem Dorf angelangt war, rief der alte Häuptling zwei Boten. Dem einen gab er ein Löwenfell und hieß ihn den Sohn holen. Den anderen sandte er zu dem wichtigsten Unterhäuptling und ließ ihm ausrichten, dass er alle seine Leute versammeln solle und zusammen mit ihnen morgen im Hauptdorf erscheinen möge. Der Sohn wurde nach seiner Ankunft heimlich in eine Hütte gebracht, und als alle Leute versammelt waren, befahl der Häuptling, das Bier zu bringen. Und während alle tranken und sich fragten, was wohl geschehen würde, holte der alte Häuptling seinen Sohn, der unter einem Löwenfell verborgen war, aus der Hütte. Er setzte ihn vor die Versammelten und ließ sich dicht daneben nieder. Nach einer kleinen Weile erhob er sich, nahm das Löwenfell weg und enthüllte für alle sichtbar seinen Sohn mit dem Halbmond auf der Brust. Die Leute gerieten vor Überraschung außer sich. Dann wandte er sich an seine ältere Frau mit der Frage: »Woher kommt dieser Sohn?« Die Frau gab keine Antwort, sie schlug nur die Augen nieder. Der Häuptling sah, dass sie schuldig war, und sagte: »Geh, du Elende, nimm deine Söhne und alle deine Sachen und verschwinde für immer aus diesem Dorf.« Dann wandte er sich an seine Leute und sprach: »Hier ist euer Häuptling. Nicht ich werde von heute an Häuptling sein, sondern mein Sohn. Er nimmt meinen Platz ein. Ihr müsst ihn ehren, wie ihr mich geehrt habt.« Großer Jubel brach aus. Es wurde viel Vieh geschlachtet, und jedermann aß und trank und erwies dem neuen Häuptling die Ehre.