[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der große Teich

Vor vielen Jahren lebte einmal ein sehr reicher Dorfhäuptling, der an Schätzen und Gütern alles besaß, wonach sein Herz verlangte. Doch eines fehlte ihm zu seinem vollkommenen Glück: ein Sohn. Bedrückt und traurig gingen Mann und Frau stets einher, denn wie sollte ihr Name auf dieser Erde fortbestehen? Mit ihrem Tod, meinten sie, würde auch ihr Gedächtnis dahinschwinden. Sie überlegten lange, wie sie ihre unermesslichen Reichtümer vielleicht verwenden könnten, um auch nach dem Tode im Gedächtnis der Menschen fortleben zu können. Da kamen sie auf einen guten Einfall: sie wollten einen gewaltigen, großen Teich graben lassen, denn sie meinten, alle Leute würden von dem Anblick desselben erfreut sein, den Namen des Erbauers stets im Munde führen und im Gedächtnis behalten. Schon am nächsten Tag ließ der Häuptling den Priester zu sich kommen und teilte ihm seinen Plan mit. Er forderte ihn auf, alle Bewohner des Dorfes und der Umgegend herbeizuholen, um an dem Werk mitzuarbeiten, wofür er jedem der Arbeitenden doppelten Tagelohn versprach.

Auf seinen Aufruf strömten alle Leute zusammen, brachten ihre Ochsen und Spaten mit und begannen fröhlich die Arbeit. Es wurde gegraben, geschaufelt und gefahren von früh bis spät, und nach nicht langer Zeit konnte man bereits die Umrisse des Walls erkennen, der den Teich umgeben sollte. Vier Stunden Weges sollte jede Seite des Teiches lang werden.

Drei Jahre nun hatten Tausende von Menschen bis zur Fertigstellung des Teiches zu schaffen und zu arbeiten. Doch als der Teich fertig war, bemerkte man an einer Stelle des Walles ein kleines Loch, durch welches das Wasser durchsickerte und den ganzen Wall zu durchbrechen drohte. Man versuchte mit allen Mitteln, dieses Loch zu verstopfen, doch alle Mühe schien vergebens. Tiefbetrübt darüber, wanderte der Häuptling selbst eines Tages zu dieser Stelle, wurde aber unterwegs so müde und schläfrig, dass er sich in dem Schatten eines Baumes niederließ und bald fest einschlief. Da hatte er einen sonderbaren Traum:

Drei kleine Mädchen kamen auf ihn zu, berührten seine Schulter, als wollten sie ihn wecken, und sagten dann zu ihm, dass der Teich nur gerettet werden könne, wenn sich seine eigene Frau den Wassernixen opfere.

Als der Häuptling wieder erwacht und nach Hause zurückgekehrt war, erzählte er sogleich seiner Frau den seltsamen Traum. Die Frau sprach: »Was bin ich denn wert? Nur um das Gedächtnis unseres Namens zu erhalten, ließen wir den Teich graben ; was könnte mir mehr Befriedigung schaffen, als dass ich durch meinen Tod den Wert dieses Andenkens noch erhöhe? Gern will ich mich zu diesem Zweck den Wassernixen opfern.«

Darauf legte sie ihre Alltagskleider ab, badete und salbte ihren Körper, schmückte sich mit den schönsten Gewändern, die sie besaß, wand Kränze von frischen Blumen um Haupt und Schultern und zeichnete sich auf die Stirn das heilige rote Mal. Dann begab sie sich singend und betend, langsamen Schrittes zu der gefährdeten Stelle des Teiches und hockte sich dort nieder. Während sie Gebete vor sich hin murmelte, ließ sie sich von den Arbeitern mit Erde bewerfen, bis sie ganz zugedeckt und begraben war.

Kaum hatte sich ein Hügel über ihrem hockenden Körper gewölbt, da hörte das Wasser auf zu rinnen, und das Loch blieb seitdem verstopft. Nun kehrten alle Leute fröhlich in das Dorf zurück, denn ihre Arbeit war beendet.

Eines Tages kamen fünf Frauen an diesen Teich, es war noch früher Morgen, um die Zeit des Zähneputzens, als sie auf dem Wall einher schritten. Sie begannen diese Beschäftigung sogleich an diesem klaren Teich vorzunehmen; sie wuschen zuerst ihr Gesicht und spülten dann ihren Mund, wobei sie häufig ins Wasser spieen. Da vernahmen sie plötzlich aus dem Wasser die Stimme der vergrabenen Frau, die drohend und zornig rief: »Große Sünde habt ihr begangen, ihr habt das Wasser und den Wall mit eurem Speichel verunreinigt. Doch eure Sünde kann euch nur dann vergeben werden, wenn ihr die ganze Gegend, die ihr mit eurem Speichel beschmutzt habt, zu einem Teich ausbauen lasst und sie mit diesem verbindet.«

Die armen Frauen liefen erschreckt davon. Wie sollten sie diese Arbeit ausführen lassen? Geld besaßen sie nicht, und sie wussten auch niemanden, der ihnen etwas hätte leihen können. Damals lebte aber ein König, der ungeheure Schätze besaß. Dieser pflegte auch Geld zu verleihen, aber nur unter der Bedingung, dass man es ihm in Lakkapur, im Himmel, zurückerstatte.

Zu diesem König begaben sich nun die armen Frauen und baten ihn um Hilfe in ihrer Not. Der König war auch gern bereit, ihnen fünftausend Rupien für diesen Zweck zu leihen, stellte aber die

Bedingung, dass ihm das Geld in Lakkapur wieder zurückgegeben werden müsse. Schwerbetroffen von ihrem Unglück kehrten die fünf Frauen wieder in ihr Dorf zurück.

Auf ihrem Weg kamen sie an einem Feld, das mit den schönsten Gemüsen bebaut war, vorüber. Mitten auf dem Feld aber war eine Stange mit einem Ochsenschädel aufgestellt, um die Vögel, Tiere und bösen Geister fernzuhalten. Die Frauen betrachteten den Schädel und fanden, dass er lustig und verschmitzt lächele. Sie blieben stehen und riefen zu dem grinsenden Schädel hinüber: »Was machst du für ein wunderliches Gesicht? Lachst du uns aus, oder weinst du über uns ?«

»Ja, lachen möchte ich wohl«, erwiderte der Schädel, »allein, die Sache ist zu ernst. Eure Dummheit ist so groß, dass ich euch auslachen möchte, indessen ist euer Elend so gewaltig, dass ich weinen könnte. Was wollt ihr nun mit dem geliehenen Geld machen? Könnt ihr es jemals wieder zurückgeben ? Seht mich an! Für mich hat man einstmals neun Rupien gegeben, und welche unerträgliche Last habe ich auf mich geladen! Mein ganzes Leben hindurch musste ich den Acker pflügen, musste den Wagen ziehen, bergauf und bergab, durch dick und dünn. Tag und Nacht ließ man mir keine Ruhe. Und dann ? Man schlachtete mich und fraß mein Fleisch auf! Doch damit nicht genug - noch nach meinem Tode muss mein Schädel hier als Scheuche das Feld bewachen. Wenn ich für diese neun Rupien schon so viel zurückzuerstatten hatte, was wird euch dann widerfahren, die ihr eine so ungeheure Summe zurückzugeben habt?«

Über diese Worte gewaltig erschrocken, kehrten die Frauen sofort wieder um, eilten zum König, fielen ihm Zu Füßen und baten ihn flehentlich, doch das Geld wieder zurücknehmen zu wollen, da sie es ihm doch niemals zurückerstatten könnten, auch nicht einmal nach diesem Leben, in Lakkapur. Doch der König wollte davon nichts wissen und wies sie mit dem Befehl ab, ihm das Geld bis auf den letzten Heller in Lakkapur wiederzugeben.

»Tut, was ihr wollt mit dem Geld«, fuhr sie der König an, »werft es meinetwegen in den Fluss, vergrabt es in der Erde oder gebt es den Armen, ich will es erst in Lakkapur wiederhaben.«

Darauf ließ er die vor Entsetzen zitternden Frauen zum Schloss hinaustreiben.

So zogen die armen Frauen ihrer Heimat zu; sie weinten und schrieen und schlugen sich auf die Brust. Sie zerrauften ihr Haar und jammerten den ganzen Weg entlang. Am Weg aber saß ein verwachsener Zwerg, ein Hirtenknabe, der dort seine Ziegen weidete. Als er die schreienden Frauen gewahrte, lief er ihnen entgegen und rief:

»Schwestern, Schwestern, was seid ihr so traurig?«

Die Frauen hielten, über den freundlichen Zuruf überrascht, mit ihrem Jammern inne, setzten sich zu ihm und erzählten ihm ihre lange, traurige Geschichte. Als der Hirtenknabe sie angehört hatte, versuchte er sie zu trösten und gab ihnen folgenden Rat:

»Lasst für das erhaltene Geld einen großen Teich graben, und in seiner Mitte stellt eine Tafel auf mit der Inschrift: ›Diesen Teich hat der große König graben lassen‹, auf diese Weise wird sein Name und seine Tat verherrlicht, der Teich gehört dann nicht mehr euch, sondern ihm, und dann habt ihr auch keine Veranlassung mehr, ihm das Geld zurückzugeben. Hütet euch indessen, auch nur eine einzige Anna für euch selbst zu verwenden, sondern gebt alles für den Teich aus. Lasset auch überall öffentlich im Lande ausrufen, dass der Teich dem König gehöre.«

Die Frauen waren entzückt von dem Rat des Hirtenknaben und dankten ihm aufs herzlichste. »Noch eine frohe Nachricht kann ich euch verkünden«, fuhr der Zwerg fort, »ihr werdet alle fünf auf der Insel Lanka als Königinnen wiedergeboren werden.«

Erstaunt fragte die eine: »Woher willst du das wissen?«

»Ich sehe es in euren Gesichtern«, erwiderte der Zwerg, »so wie ich euch verkünde, wird es eintreffen.«

Nun hatten die Frauen ihre alte Fröhlichkeit wiedererlangt. Sie riefen ihr ganzes Dorf zusammen und ließen für das geliehene Geld den neuen Teich graben. Darauf ließen sie überall verkünden, dass der Stifter des Teiches der König sei, und ließen dies auch noch auf eine Tafel schreiben, die in der Mitte des Teiches aufgestellt wurde.

Nach einem Jahr bereits starben die fünf Frauen und wurden - wie der Zwerg vorausgesagt hatte - in Lanka wiedergeboren, woselbst sie der König des Landes heiratete und einer jeden einen prächtigen Palast bauen ließ.

Wir aber sind arme Kuwi und Bettler.