[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Findling

In jenen alten Zeiten, als noch die Schicksalsfeen auf Erden unter den Menschen umgingen und ihnen ihr Los für das ganze Leben, von der Wiege bis zur Bahre, vorherbestimmten, in jenen Zeiten ereignete sich die Geschichte, die ich euch erzählen will. Gebt also gut acht, meine Lieben; denn ich erzähle euch jetzt weder ein Märchen von Drachen und Lindwürmern, noch von Kaisern und Königen, noch von andern Luftgespinsten wie sonst, sondern ich erzähle euch eine schöne Geschichte, wie ich sie beim Kukuruz rebbeln von dem lahmen George Gaureanul aus Sâncel, dort neben Blaj (Blasendorf) in Siebenbürgen, vernommen habe.

Man erzählt, dass einmal, sicherlich schon vor langer Zeit, als es bei uns noch keine Eisenbahnen gab, ein reicher Bojar, wer weiß von wo, zu Fuß nach Hause ging. Genug, den Bojaren überraschte ein Regen, und es entstand ein Morast, der bis an die Knöchel reichte, so dass er kaum noch weitergehen konnte. Zudem fügte es Gott, dass auch noch die Nacht hereinbrach, und er war noch immer nicht zu Hause angekommen, ja, er näherte sich noch nicht einmal seinem Dorf. Gegen die Nachtmahlzeit aber gelangte er in ein Dorf. Er hatte begonnen, leichter zu atmen, als er sich im Dorf sah, und fing an, bei den Leuten an die Haustüren zu klopfen und zu bitten, sie möchten ihn übernachten lassen. Aber man hätte meinen können, dass es verhext sei: der eine antwortete ihm nicht, der andere wollte ihn nicht einlassen, der dritte hatte Kranke im Haus, beim vierten weinten die Kinder, der fünfte hatte gerade einen Toten im Haus, und niemand wollte den Bojaren nächtigen lassen. Immerzu an die Türen und Fenster schlagend und von den Hunden angebellt, ging er das ganze Dorf ab. Nur ein Häuschen war noch am Dorfende zu sehen, in dem er sein Glück noch nicht versucht hatte. Auch dorthin ging er bis an das Fenster, von da aus sah er einen schwachen Lichtschein am Herde flackern und einen Mann, der am Feuer stand, und neben dem Bett stand eine alte Frau.

Nachdem er ein wenig durch das Fenster gesehen hatte, rief er: »Schläfst du, Gevatter?«

»Ich nicht, aber weshalb fragst du?«

»Sei so gut und Lass mich bei dir übernachten, denn es regnet hier draußen in Strömen, der Wind bläst, und es ist so dunkel, dass man seine eigene Hand nicht sieht, so dass ich nicht daran denken kann, weiterzugehen, ehe es wieder hell wird. So weit das Dorf reicht, habe ich alle Leute gebeten, mich übernachten zu lassen, aber kein einziger wollte es tun. Sei du so gut und erlaube es mir.«

»Gern würde ich dich hier übernachten lassen«, sprach der Hausherr, »aber du siehst, meine Frau windet sich in Geburtswehen, die Hebamme ist hier, seit der Vesperstunde heute Abend quält sie sich und kann nicht gebären, da können wir doch keinen fremden Mann ins Haus nehmen, gerade wenn wir mit einem solchen Ereignis zu tun haben.«

»Sei es so, aber treibe mich doch nicht mitten in der Nacht aus dem Haus, denn, bei Gott, mir graust davor, jetzt wieder hinauszugehen; bei keinem Menschen mehr ist ein Licht zu sehen. Ich bleibe in irgendeinem Winkel, oder auch nur auf dem Hausflur.«

Da schrie die Hebamme voller Freude: »Gott sei Dank!«, und die Frau im Bett seufzte einmal auf und hörte dann auf zu stöhnen. Alles verwandelte sich in Freude. Die Frau hatte einen schönen und gesunden Knaben geboren, den man nur immer hätte ansehen mögen. Nach einer halben Stunde erlosch das Licht. Die Leute im Hause, die alle vom Wachen ermüdet waren, legten sich hin, jeder wohin er konnte, und schliefen, als ob sie nicht mehr auf dieser Welt wären. Dem Bojaren wurde auf einer Truhe im Hintergrund des Zimmers unter dem Fenster ein Bett gemacht.

Den Hahnenschrei um Mitternacht hörte niemand im Hause, außer dem Bojaren, der allein im ganzen Hause nicht schlief. Als der Hahn aufhörte zu krähen, kamen die Schicksalsfeen zum Fenster herein und begannen zu weissagen. Die erste sagten: »Durch viel Unheil wird dieser Knabe hindurchgehen, aber schließlich wird es ihm doch zum Guten gereichen.« Die zweite sagte: »Stark und schön wird er werden und sehr klug, aber auch das Glück wird sich ihm günstig erweisen.« Die dritte Schicksalsfee sagte: »Und er wird alles Vermögen des Bojaren erben, der heute in diesem Hause nächtigt.«

Nach diesen Worten verschwanden die Schicksalsfeen, und der Bojar blieb verärgert zurück, über das, was sie ihm verkündet hatten. Wie hätte er jetzt noch ein Auge schließen können! Solange die Nacht noch dauerte, schlief er nicht mehr so lange, wie man braucht, ein Ei zu kochen, sondern dachte immer nach und überlegte, wie er das Kind verderben könnte, das sein Vermögen erben sollte. Kaum konnte er erwarten, dass es endlich Tag werde. Als sich alle von ihren Schlafstätten erhoben hatten, begann der Bojar: »Meine Lieben, die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen, sondern nachgedacht, wie gut es wäre, wenn ihr mir dies Kindchen geben würdet. Ihr seid arm und jung, ihr könnt noch genug Kinder bekommen; ich aber bin ein reicher Bojar, dem Gott das Glück nicht gegönnt hat, ein Kind zu haben. Ich würde ihn halten und erziehen wie ein Fürstenkind, wenn ihr ihn mir geben würdet. Was meint ihr dazu?«

»Gott bewahre, Herr«, sagten der Mann und die Frau wie aus einem Munde, »wir sind doch noch nicht so weit gekommen, dass wir unser erstes Kindchen fort geben! Der Herrgott erhalte dich, aber sprich nicht mehr von solchen Dingen.«

»Wartet doch ab, gute Leute«, sagte der Bojar, »so müssen wir nicht sprechen. Seht hier hundert schöne Dukaten, sie funkeln, dass man eher in die Sonne blicken könnte als auf sie.«

Als unsere Leute die vielen und schönen Geldstücke sahen, von denen sie in ihrem Leben noch keins besessen hatten, dachten sie bei sich: Gott wird uns ja noch Kinder schenken, aber wer weiß, wann wir wieder hundert Dukaten zu sehen bekommen. So strichen sie das Geld ein und gaben das Wickelkind dem Bojaren, der sieh gleich mit ihm auf den Weg machte. »Gott sei Dank!« sagte der Bojar, als er aus dem Haus trat, »Gott sei Dank! Jetzt wollen wir sehen, ob er mein Vermögen erben wird!«

Als er das Dorf verlassen hatte, schlug er den Heimweg durch einen seiner Wälder ein. Mitten im Wald legte er das arme Kind in die Höhlung eines Baumstammes, dann ging er weiter und dachte in seiner schwarzen Seele, dass er durch diese Tat die Weissagung der Schicksalsfee zuschanden machen könne, und dass das Kind, wenn es in dem hohlen Baum gestorben sei, niemals sein Vermögen erben werde.

Aber Gott ist der Vater und Beschützer der Machtlosen.

Als das schwache Kind aus dem Schlaf erwachte, begann es zu schreien, so stark es konnte. Ein Hirte des Bojaren ging gerade vor seiner Herde dort vorbei, und als er aus dem hohlen Stamm Kinderweinen hörte, sagte er zu seinem Sohn, der hinter der Herde herkam: »Knabe, horch, mir scheint, ich höre eine erstickte Stimme, als ob ein kleines Kind weint; horche auch du, denn du hörst besser.«

»Lass doch, Vater,« sagte der Knabe, »es wird der Gottseibeiuns sein, verlieren wir doch keine Zeit damit, ihn zu suchen, Lass uns lieber ein Kreuzeszeichen schlagen und ›Herr, behüte uns!‹ sagen.«

»So müssten wir es machen, aber das will mir nicht recht scheinen; es kommt mir wie eine Sünde vor, wenn ich nicht nachsehe, wer weint. Ist es wirklich der Böse, so schlagen wir ein Kreuz und begrüßen ihn mit Felsen und Steinen, ist es aber eine Menschenseele, so müssen wir zusehen, wie wir sie vor dem Verderben retten.«

Und so begannen sie beide, Vater und Sohn, das Kreuz zu schlagen und zu suchen, das Vaterunser vor sich hersagend. Aber sie suchten nicht lange, denn kaum näherten sie sich dem ausgehöhlten Baumstamm, so hörten sie es deutlicher, und als sie es heraushoben, sahen sie, dass es wirklich ein kleines. Kind war, das, wie sie glaubten, irgendeine Gottlose ausgesetzt hatte, oder vielleicht irgendein armseliges Weib, das das Kind los sein wollte. »Gott sei Dank«, sprachen da alle beide, »dass er uns dieses Weges geführt hat, damit wir ein Menschenleben retten können. Nehmen wir das liebe Kind mit, es ist schön, gesund und gut eingewickelt; wir werden es taufen; denn Gott allein weiß, ob es getauft ist oder nicht. Wir werden es bei den Mutterschafen anlegen, wie die Lämmchen, und Gott ist gut, er wird uns behilflich sein, dass es am Leben bleibt, wenn es so sein Wille ist.«

Die Schäfer schlugen noch einmal das Kreuz und gingen zum Bach, wo sie das Kind tauften und ihm den Namen »Findling« gaben.

Und der Findling wuchs so schnell wie im Märchen und wurde stark und wurde immer größer und schöner, genährt mit Schafsmilch und gewiegt in einer Wiege aus Tannenzweigen. Im Winter und im Sommer war er bei den Hirten, bei ihnen erwachte er zur Vernunft, sie lernte er als erste kennen. In den Bergen lernte er auf den Füßen zu gehen, im Spiel mit den Lämmern und den Zicklein. Von der Amsel lernte er singen, die Flöte machte ihm der Vetter Pachon, und der Vater Gligor lehrte ihn, auf dem Blatt zu blasen. Der Findling wuchs zusehends, und niemals verließ er die Herde, um von den Bergen hinunter zu steigen.

Als er ungefähr zwanzig Jahre alt war, kam der Bojare zur Sennhütte, um seine Herden zu sehen. Er wusste gar nichts von dem Findling seiner Hirten. Aber er ihn sah, fragte er den Vater Gligor: »Alter, wem gehört dieser Bursche.«

»Uns, Herr, er gehört uns und dem lieben Gott.«

»Wieso gehört er euch? Ich weiß, dass du nur den Pachon hattest. Und der Pachon ist nicht verheiratet, wie kannst du da sagen, er gehört euch?«

»Seht, Herr, ich habe ihn vor ungefähr zwanzig Jahren in einem hohlen Stamm in jenem Wald gefunden, und da wir Mitleid mit ihm hatten, haben wir ihn großgezogen. Jetzt, seit er erwachsen ist, ist er uns bei der Herde von großem Nutzen; er und Pachon gehen mit den Schafen, und ich bleibe in der Sennhütte, um den Quarkkäse zu machen und das Essen zuzubereiten, bis die Zeit zum Melken kommt.«

Als der Bojare dieses hörte, fuhr ihm wie eine Schlange ein kalter Schauer über die Brust. Aber dann fasste er sich und sagte zu Vater Gligor: »Weißt du was, Vater Gligor, gib mir den Findling, damit ich ihn auf meinem Hofe halte, denn ich bekomme keinen zuverlässigen Knecht. Ich weiß, dass er treu sein wird, denn ihr habt ihn erzogen in Gottesfurcht, und ich weiß, dass er mich nicht bestehlen wird.«

»Um Gottes willen, Herr, wie können wir denn das tun! Deshalb haben wir uns doch, mit ihm geplagt, bis wir ihn großgezogen haben, damit er uns hier behilflich sei. Wir können ihn nicht hergeben, Herr, nein, auf keinen Fall.«

»Vater Gligor, ihr wisst es gut, dass ich ihn euch auch mit Gewalt nehmen kann, aber das will ich nicht; sieh, hier hast du hundert Dukaten, bewahr sie dir gut auf und lasse ihn mir als Knecht oder, wie man so sagt, als Diener.«

Vater Gligor, der in seinem Leben keinen Dukaten besessen, hundert aber noch niemals gesehen hatte, wurde begierig nach den hundert Dukaten; und als er sie erhielt, sagte er: »Nun, sei es denn, aber er wird nicht gehen wollen, und mich bewahre Gott davor, dass ich ihn mit Gewalt zum Gehen zwinge.«

»Nicht doch, Vater Gligor, wir werden ihn mit einem Brief zur Bojarin, zu meiner Frau, schicken, die wird ihn im Guten nehmen, so wie das die Frauen verstehen, und er wird nicht einmal mehr an euch und an die Herde denken.«

Die Vereinbarung wurde abgeschlossen. Pachon und der Findling wussten nichts von den Ränken, die der Bojare mit Vater Gligor geschmiedet hätte.

Der Bojare schrieb einen Brief auf ein Blatt Papier, faltete es in vier Teile und gab es dem Vater Gligor, damit er es dem Findling übergebe, und dieser es der Frau des Bojaren nach Hause trage. »Findling«, rief Vater Gligor, »komm her«, und als der Bursche herbeigekommen war, gab er ihm den einseitig beschriebenen und gefalteten Fetzen Papier und sagte: »Du sollst mit diesem Brief zur Frau Bojarin auf den Hof gehen; der Herr wird ungefähr eine Woche lang nicht nach Hause kommen, du aber sollst dort bleiben, bis der Herr zurückkehren wird. Dann wird er dich freigeben, und du wirst wieder zu den Schafen kommen. Hast du mich verstanden?«

»Ich habe verstanden, Vater Gligor, aber, verzeih mir, es sollte doch lieber Vetter Pachon gehen, denn ich war noch niemals unter den Menschen im Dorf. Ich weiß auch weder, wohin ich den Brief tragen, noch wie ich mit der Herrin sprechen soll. Ich sage dir aufrichtig, freiwillig gehe ich nicht, es sei denn, dass du mich dazu zwingst.«

Dem Vater Gligor kamen die Tränen, als er aber spürte, dass sie ihn im Gesicht brannten, wendete er sich zur Seite, um sie abzuwischen, und sagte dann: »Geh du nur, mein Liebling, geh, wir dürfen uns dem Herrn gegenüber nicht widersetzlich zeigen, denn wir leben bei seiner Herde und auf seinem Grund und Boden, und ein, zwei Wochen, bis der Herr zurückkehrt, sind ja nicht die Ewigkeit. Sei vernünftig und diene treu unserer Herrin, der Frau des Bojaren.« Mit diesen Worten schickte er den Findling ins Dorf, zeigte ihm in der Ferne am Fuß des Berges ein Blech gedecktes Turmdach und erklärte ihm, dass das die Kirche sei, neben der die Häuser des Bojaren ständen, die einzigen im Dorfe mit zwei Reihen Fenstern. Er möge nur nach den Höfen des Bojaren fragen, jeder werde sie ihm zeigen können, da es andere Bojaren im ganzen Dorf nicht gebe, und dann solle er der Herrin den, Brief geben.

Der Findling ging.

Der Bojare ging seines Weges, ein »Gott sei Dank« sprechend, denn er dachte bei sich: jetzt kann er nicht mehr entkommen. Auch Vater Gligor sagte ein »Gott sei Dank« und zeigte dem Pachon die Dukaten, so dass dieser, als er so viel Geld auf einmal sah, fast erstarrte und den Alten nicht einmal zu fragen wagte, woher die Dukaten seien. Aber nicht einmal im Traume dachte er daran, dass es der Preis für den Findling sei.

Bei seinem Aufbruch nahm der Findling seine Pelzmütze vom Kopf, machte drei Kreuzeszeichen und sprach dreimal: »Herr, hilf!« So hatte es ihn Vater Gligor gelehrt. Und er ging und ging; er schritt tüchtig aus, den Bergpfad hinunter, und als die Sonne am stärksten brannte, kam er an eine Quelle am Fuße einer großen Buche. Dort will ich ein wenig rasten, sagte der Findling, setzte sich in den Schatten der Buche und trank einmal Wasser nach Schäferart, dann streckte er sich faul auf den Rücken, warf die Fellmütze und den Brief zu Boden, zog die Flöte heraus und blies ein Lied, dass die Amseln wie stumm auf den Zweigen der Buche saßen und zuhörten, als ob auch sie es lernen wollten, so zu singen wie er. Er spielte und spielte immer weiter auf der Flöte, bis sie ihm plötzlich aus der Hand fiel und er einschlief.

Dazumal wandelte Gott mit dem Heiligen Petrus auf Erden. Eben kamen sie bei dieser Quelle an und tranken auch Wasser, wie Wanderer, die vom Wege ermüdet sind. Sankt Petrus wollte den Findling wecken, der Herr aber sagte: »Lass ihn ausruhen, denn der Arme ist müde, sieh, wie gut ihm der Schlaf anschlägt.« Dann nahm er den Brief, der neben der Mutze lag, und las: »Liebe Frau, wisse, dass der Bursche, der diesen Brief überbringt, ›Findling‹ heißt. Ich wünsche und befehle, dass Du ihn gleich, wenn er zu Hause ankommt, nach irgendetwas in den Keller schickst. Unser Zigeuner aber soll sich hinter der Kellertüre verstecken, und sobald er sieht, dass der Findling eintritt, soll er ihm den Kopf abschlagen. Führst Du das nicht aus, wie ich es Dir befohlen habe, so brauchst Du mich nicht mehr zu Hause zu erwarten, sondern kannst Deiner Nase nachgehen, wohin sie Dich führt. In einer Woche komme auch ich nach Hause. Niemand außer unserem Zigeuner darf von der ganzen Sache etwas wissen.« Hier folgte dann die Unterschrift des Bojaren.

Als Gott sah, was in dem Brief geschrieben stand, sagte er zum Heiligen Petrus: »Sieh, Freund, die Bojaren wollen sich sogar den Schicksalsfeen widersetzen, aber so etwas darf doch nicht geschehen.« Dann schrieb er einen andern Brief, genau so groß wie jenen und legte ihn neben die Fellmütze des Findlings, den Brief des Bojaren aber steckte er in die Tasche. Dann gingen sie weiter.

Etwas später, als er ausgeschlafen hatte, erwachte der Findling, ohne zu wissen, dass noch jemand dort gewesen war, steckte die Flöte unter den Gürtel, setzte die Fellmütze in den Nacken, nahm den Brief in die eine und den Stock in die andere Hand und ging dem Dorfe zu. Es war um die Vesperzeit, als er auf dem Bojarenhof ankam und der Herrin den Brief übergab. Diese erkannte, dass der Brief vom Bojaren war, rief den Findling ins Haus, wo auch Saftica, das Fräulein und die einzige Tochter des Bojaren, war, und las mit lauter Stimme:

»Wisse, dass der Bursche, der diesen Brief überbringt, Findling heißt und aus einem vornehmen Geschlecht ist. Ich will es und befehle es, dass Du gleich, sobald der Brief in Deiner Hand ist, den Pfarrer aus dem Dorfe kommen lässt und ihm sagst, er solle den Findling mit unserer Tochter Saftica trauen. Dies ist mein Wunsch und Befehl, und wenn Du ihn nicht erfüllen willst, geh dorthin, wohin Dich Deine Nase führt, damit ich Dich nicht mehr zu Hause finde. Ich werde ungefähr in einer Woche nach Hause kommen.« Hier folgte die Unterschrift des Bojaren. »Habt ihr gehört, meine Lieben, was mein Mann, der Bojare, befiehlt?«

»Ich habe es gehört, Mutter«, antwortete Saftica, und sie konnte sich nicht satt sehen an dem schönen und stattlichen Burschen. »Ich habe es gehört, Herrin«, sagte auch der Findling und sah mit großen Augen auf das zarte und schöne Fräulein, dass man hätte glauben können, er wolle sie mit den Augen verschlingen. Sogleich wurde er in herrschaftliche Gewänder gekleidet, der Pfarrer kam und traute sie, und das ganze Dorf nahm Teil an der Hochzeit des Fräuleins Saftica mit dem jungen Herrn Findling. Eine solche Liebe, wie die der beiden Brautleute, kann man selten sehen. Sie waren glücklich. Saftica dankte Gott, dass er ihr einen so stattlichen, schönen und klugen Mann geschickt hatte, aber auch der Findling dankte Gott, weil er ihn jenem ehrenhaften Bojaren hatte begegnen lassen.

Nach einer Woche kam der Bojar nach Hause und fand seine Ehegattin auf den Knien, Gott dankend für das Glück ihrer Tochter, den Findling und Saftica aber im Garten lustwandelnd und wie die Kinder zwischen den Blumen spielend. »Was hast du, Frau?« fragte der Bojar, als er ins Zimmer trat. »Was sollte ich denn haben? Ich danke Gott, dass er uns einen Schwiegersohn gegeben hat, der unseres Hauses würdig ist.«

»Was für einen Schwiegersohn?« fragte der Bojar. »Welcher sollte es denn sein? Jener, den du heute vor einer Woche geschickt hast.«

»Du, Weib, du hast nicht das getan, was ich dir in dem Brief befohlen habe. Bringe einmal den Brief her!«

»Wieso denn nicht?« fragte die Herrin und gab ihm den Brief.

Als der Bojare den Brief las, knirschte er mit den Zähnen, dann aber besann er sich plötzlich und sagte: »Es gefällt mir gut, dass es sich so ereignet hat.« Gegen Abend begann es sich zu bewölken. Der Bojare ging bis zum Weinberg und sagte dem Weingartenhüter: »Die Trauben und Pfirsiche sind jetzt gut zum Essen, ich habe gehört, dass man sie ziemlich oft stiehlt, du sorgst nicht gut genug dafür. Ich sage dir, wehe deiner Haut, wenn ich erfahre, dass du sie nicht behütest, wie es sich gehört. Du musst auf jeden schießen, der nachts in den Weingarten kommt; es geht nicht an, dass du irgendjemanden verschonst. Hast du mich verstanden? Und wenn du nur einen von den niederträchtigen Dieben erschießen kannst, bekommst du fünf Dukaten von mir, hast du mich verstanden?«

»Ich habe verstanden.«

Um die Nachtmahlzeit begann es zu regnen, nicht anders, als ob die Welt untergehen wolle. Es blitzte und donnerte, dass die Töpfe am Nagel wackelten. Nach dem Nachtmahl sagte der Bojar: »Mein Gott, wie gern ich doch jetzt noch zwei gute, frische Trauben essen möchte; wenn sich nur ein beherzter Mann fände, mir ein Körbchen voll zu bringen.«

»Hier, ich, Vater«, sagte dar Findling, nahm auch schon ein Körbchen und war zur Türe hinaus, bevor noch die Frauen erfasst hätten, um was es sich handele. »Mein Gott, mein Gott«, sagte Saftica, »hast du denn nicht einen Knecht schicken können, müsstest du gerade ihn bei diesem Wetter gehen lassen?«

»Ja, wirklich«, ergänzte die. Bojarin. »Schweigt«, sagte der Bojar, »ihr habt doch gesehen, er ist aus freien Stücken gegangen, ich habe Ihn doch nicht geschickt, und schließlich ist er ja ein tapferer Bursche und nicht eine Schlafmütze.« In seinen Gedanken aber sagte er sich: Gott sei Dank, jetzt weiß ich, dass er diesmal nicht lebend davonkommt, und die Schicksalsfeen bleiben doch einmal die Lügnerinnen, denn er wird mein Vermögen nicht erben, wozu ihm auch Gott nicht verhelfen wolle.

Da öffnete sich die Türe und der Findling trat ein, mit einem Korb voll guter und schöner Trauben. »Habe ich es euch nicht gesagt«, sagte der Bojar, »dass er ein tapferer Bursche ist und keine Schlafmütze?« In seinen Gedanken aber konnte er sich nicht zufrieden geben damit, dass jener lebendig zurückgekehrt war. Inzwischen hatte der Regen aufgehört, und der Bojar ging, ohne etwas zu sagen, geradewegs zum Weingarten, um den Hüter zu bestrafen. Als erden Anfang des Weinberges betrat, fiel: puff! ein Schuss, und der Bojar überschlug sich, brüllend wie ein Ochse. Dann kam der Weingartenhüter, um zu sehen, wer es sei, und entsetzte sich, als er sah, dass es der Bojar selbst war. »Erschrecke dich nicht«, sagte der Bojar, »merke dir, dies musste sich so ereignen. Trage mich nach Hause zu den Meinen.«

Der Bojare lebte noch bis gegen Mitternacht, dann starb er. Aber bevor er die Augen schloss, sagte er: »Gegen die Schicksalsfeen soll sich kein irdischer Mensch erheben, selbst wenn er ein Bojar ist. Seht, ich habe mich ihnen widersetzt, aber ich habe es mit meinem Kopf bezahlt!«

Der Findling und Saftica erbten das Vermögen und das Bojarengut, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.