[swahili, "Geschichte, Legende"]

Der Esel als Sänger

Groß ist die Welt, Menschen gibt es solche und solche, was Wunder, dass irgendwann einmal in einem Aul sorglos der alte Schwätzer Shaksybai lebte. Er besaß einen Esel. Äußerlich unterschied er sich in nichts von anderen Eseln, doch hatte er eine solche Kehle, dass sich sogar die Leute in den Nachbaraulen die Ohren zuhielten, wenn er in seinem Verschlag den Rachen aufriss. Eines Tages kam Shaksybai in die alte Stadt Turkestan und eilte geradewegs zum Basarplatz. Hier band er seinen Esel an einen Baum und huschte, sein Gewand hochgerafft, in eine Teestube. In einer guten Teestube sind immer viele Leute, und wo viele Leute sind, wird gesprochen, und wo gesprochen wird, wird gestritten, und wo gestritten und gesprochen wird, ist Shaksybai unübertrefflich. Es heißt ja: »Ein Schwätzer hat keinen Verschluss vor dem Mund.«

Lange wartete der Esel vor der Teestube auf seinen Herrn. Die Sonne brannte, die Fliegen summten, die Bremsen stachen schmerzhaft. Der Esel bekam Hunger und Durst. Was tun? Er tat das, was an seiner Stelle jeder aus seiner Sippe getan hätte: Er hob den Schwanz, stellte die Ohren auf, blähte die Nüstern, riss das Maul auf und schrie. Die Leute, die sich in Geschäften und auch einfach müßig auf dem Basar tummelten, erzitterten und drehten sich zu dem Schreihals um. »Na, der hat ja 'ne Stimme!« raunte der ganze Basar. »So eine haben wir in ganz Turkestan noch nie gehört!«

»Das ist mir neu!« freute sich der Esel. »So viele Jahre ziehe ich durch die Welt und erfahre erst jetzt, was ich wirklich wert bin. Ganz Turkestan hat mein Talent anerkannt!«

Fortan glaubte der Esel, er sei tatsächlich als großer Sänger geboren. Was gerät dem hungrigen Schakal nicht manchmal ins Maul und dem dummen Esel in den Kopf! Der Esel überlegte: »Shaksybai will ich nun nicht mehr dienen! Ruhm und Ehre harren meiner. Werden aber dem Ruhm und Ehre zuteil, der auf seinem Rücken Holz schleppt?« In Hitze geraten, zerrte er aus Leibeskräften am Zügel und lief im Galopp aus der Stadt. Ade, alter Schwätzer Shaksybai! Ade, alte Stadt Turkestan! Der Esel wanderte nun durch die Wüste - die Sonne brannte noch heißer, die Mücken summten noch aufdringlicher, die Bremsen stachen noch schmerzhafter. Der Ausreißer wurde müde, vor Hunger und Durst ganz matt. Weit und breit kein Schatten, kein Grashalm, keine Pfütze. »Schwer ist der Weg zum Ruhm«, seufzte der Esel, »aber Allah hält die schützende Hand über seine Auserwählten.« Und er wanderte weiter.

Plötzlich sah er - zu seinem Glück oder zu seinem Unglück - einen großen eingezäunten Garten. An einer Stelle war die Umzäunung nicht dicht, und durch die Lücke waren schattige Bäume, einladende, mit jungem Gras bedeckte Wiesen und blinkende Wassergräben zu sehen. Die Verlockung war groß, und der Esel zwängte sich in den fremden Garten. Alles auf der Welt vergessend, aß und trank er gierig. Ziemlich lange stampfte er über Wiesen und Blumenbeete, übersah die Wege, bis er endlich bis zum Rülpsen satt war. Dann blieb er stehen, um zu verschnaufen, hob den Kopf und taumelte vor Überraschung.

Aus dem Gebüsch trat eine junge Steppenantilope auf ihn zu, schön wie eine paradiesische Gurija. Auch die Antilope war heimlich in den Garten gedrungen. Seit dem Morgen tummelte sie sich in der Steppe und war bei ihrem ausgelassenen Treiben bis zu der Umzäunung gelangt, hatte sie übersprungen und labte sich nun an dem üppigen Gras. Als sie auf den Esel stieß, wurde sie ebenfalls starr vor Schreck und setzte schon zur Flucht an.

Als der Esel die Antilope sah, verliebte er sich über seine langen Ohren in sie. Sein Herz hüpfte wie eine erschrockene Springmaus. Mit aufgerissenen Augen schaute er die Schöne an und dachte triumphierend: Wahrhaftig, das Schicksal meint es gut mit mir; schenkte mir eine seltene Stimme, rührte mich in den herrlichen Garten und jetzt schickt es mir eine Braut schöner als alle Bräute unter der Sonne! Er wackelte mit den Ohren und knüpfte ein Gespräch an: »Holde Dame! Mit deiner überirdischen Schönheit hast du mich bezaubert, erlaube, dass ich dir ein Lied singe. Wenn du meine süße Stimme hörst, wirst du die Liebe eines großen Sängers Gewiss nicht abweisen.« Die Antilope schaute sich nach allen Seiten um und antwortete leise: »Glaubst du nicht, dass es klüger wäre zu schweigen, Esel? Gib Acht, dass uns wegen deiner Dreistigkeit nicht das gleiche Schicksal blüht wie den sieben sorglosen Dieben.«

Und sie erzählte folgende Fabel: »Eines Nachts drangen sieben Diebe in das Haus eines Reichen ein. Sie versteckten sich im Keller zwischen riesigen Fässern mit altem Wein und warteten, bis im Hause alles still wurde, um dann ihrem Diebeshandwerk nachzugehen. Der Weinduft stieg ihnen jedoch in den Kopf, und sie schöpften mit der Hand die edlen Getränke in den Mund. Das endete damit, dass die Diebe in ihrem Rausch vergaßen, wo sie waren, und lauthals lustige Lieder anstimmten. Im Haus hörte man ihr Gegröle, die Wache des Reichen eilte in den Keller und setzte den ungebetenen Gästen arg zu. Wir beide sind doch auch nicht auf Einladung des Herrn in diesen Garten gekommen und laben uns nicht an diesen köstlichen Gräsern, weil er so großzügig ist!« endete die Antilope. »Oh, Antilope, du bist wunderschön«, entgegnete der Esel darauf, »doch bist du in der wilden Steppe aufgewachsen und hast anscheinend wenig schöne Lieder gehört. Ich verbrachte mein ganzes Leben unter Menschen, weilte sogar in Turkestan und darf wohl sagen, dass ich den Gipfel der Kunst erklommen habe. Wenn ich erst einmal mein Lied anstimme, wirst du mich bitten, es niemals abzubrechen.«

Die Antilope aber gab zur Antwort: »Wäre es nicht klüger, sich in acht zu nehmen und keinen Lärm zu machen? Wer die Vorsicht vergisst, dem ist das Unglück Gewiss so wie jenem unbedachten Holzfäller.« Und die Antilope erzählte diese Fabel: »Ein Holzfäller verspätete sich im Wald, die Nacht brach herein. Plötzlich vernahm er in der Nähe laute Stimmen. Der Holzfäller kletterte hurtig auf einen Baum und versteckte sich in den dichten Ästen. Da kamen drei Dschinnen. Sie setzten sich unter den Baum, stellten ein kostbares Gefäß vor sich und begannen den Schmaus. Als ein Dschinn das Gefäß mit der Hand berührte, füllte es sich bis zum Rand mit wohlriechendem Kumys, den wahrscheinlich niemand außer den Dschinnen je getrunken hat.

Der Morgen dämmerte herauf, die Dschinnen versteckten das Zaubergefäß unter dem Baum und verschwanden in verschiedenen Richtungen. Der Holzfäller kletterte rasch herunter, nahm das Gefäß und rannte aus dem Wald. Zu Hause lud er alle Verwandten und Nachbarn ein und brüstete sich mit dem erbeuteten Schatz. Er berührte das Gefäß mit der Hand, und der duftende Kumys ergoss sich in Strömen in die hingehaltenen Schalen. Der Holzfäller war vor Freude so toll, dass er sich das Gefäß auf den Kopf stellte und mit Gekreisch in der Jurte herumdrehte. Er stolperte, das Zaubergefäß fiel herunter und zerbrach. Pass auf, Esel, dass uns wegen deiner Unvernunft nicht dieses süße Gras entgeht.«

Der Esel seufzte und sagte verdrießlich: »Oh, Antilope, die Natur hat dich über alle Maßen mit Schönheit beschenkt, in deine Brust aber ein hartes Herz gelegt. Aber ich bin sicher, die herrlichen Klänge meines Gesangs erweichen dein grobes Wesen und wecken in dir edle Gefühle.« Die Antilope überredete den Esel weiterhin: »Esel, besinne dich, bevor es zu spät ist, und schone deine Stimme für den Basar in Turkestan. Denn oftmals bringt uns ein einziger Ton, der zu ungelegener Zeit von den Lippen kommt, unwiderrufliches Unheil. Das vergaß der junge Kaufmann, und er musste es bitter bereuen.«

Und die Antilope erzählte noch eine Fabel: »Ein junger Kaufmann, der auf einem Fest gezecht hatte, kehrte um Mitternacht durch die dunklen Straßen einer großen Stadt heim. Seine Taschen waren voller Gold. Was, wenn mich Diebe anfallen und meinen Reichtum rauben? überlegte der Kaufmann erschrocken. Um sich Mut zu machen, begann er laut mit sich selbst zu reden: ›Sollen mir die gemeinen Räuber nur unter die Augen kommen! Ich werde schnell mit ihnen fertig. Fürchte selbst den Teufel nicht!‹ Eine Landstreicherbande lauerte den Nachtschwärmern auf einer Straße nebenan auf. Die Kerle hörten die Worte des Kaufmanns, überfielen ihn, raubten ihm Geld und Gewand und ließen ihn splitternackt durch die Stadt laufen. Esel, es wird nun höchste Zeit, dass wir, wenn wir kein Unglück heraufbeschwören wollen, diese sinnlosen Gespräche beenden und uns vorsichtig aus dem fremden Garten stehlen.«

Da rief der Esel: »Oh, Antilope, grausame Schöne! Wie kannst du fordern, dass ich schweige, wo sich doch das Lied für die Liebste aus der Brust ringt und schon in die Kehle steigt?!« Mit diesen Worten Schloss er die Augen, wie es berühmte Sänger tun, riss das Maul auf, wie alle Esel zu einer bestimmten Stunde, und ihm entfuhr ein wilder Schrei. Die Antilope schreckte zurück, war mit einem Satz über dem Zaun und eilte mit dem Wind im Wettlauf in die Steppe. Der Esel, der nichts merkte, schrie weiter. Der Herr des Gartens lief mit einem dicken Knüppel in der Hand herbei und schlug den Esel windelweich, so dass der noch verzweifelter brüllte und halbtot über den Zaun setzte. Langsamen Schritts und mit hängendem Kopf trottete der Esel davon.

Die Nacht brach herein. Der Vollmond stand am Himmel. Da warfen alle Steppenwölfe die Köpfe in den Nacken und heulten, nach dem Brauch ihrer Väter und Urväter, in allen Tonarten. Der Esel hatte nie in seinem Leben Wölfe gesehen und nie ihr Geheul gehört. Er blieb stehen, lauschte und sprach kennerhaft: »Das wollen Sänger sein! Mit meiner Stimme übertöne ich diesen jämmerlichen Chor.« Mit furchtbarem Pfeifen und Quietschen ließ er so viel Luft in die Lungen, wie es nur ging, und brüllte so laut, dass es in seinem eigenen Kopf dröhnte. Die Wölfe wurden vor Staunen sofort still: Woher kam mitten in der Nacht in der Steppe ein Esel? Wie auf ein Zeichen stürzten sie los und entdeckten sofort die Beute und damit endete die Geschichte des Esels.

Wenn ihr unbedingt noch eine Geschichte von Shaksybai hören möchtet, dann lauft, so schnell ihr könnt, in die alte Stadt Turkestan, sucht dort eilends den großen Basar und auf dem Basar die belebteste Teestube und tretet ohne Zögern ein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Shaksybai, der seinen Esel vergessen hat, dort noch immer auf einer weichen Filzmatte sitzt, eine Schale Tee nach der anderen trinkt und allerlei glaubwürdige und unglaubwürdige Geschichten schwatzt. Der kann euch allerlei von sich selbst erzählen, ihr braucht nur zuzuhören.