[swahili, "Geschichte, Legende"]

Das sprechende Kamel

Wo Wasser ist, dort ist Leben, sagt eine Volksweisheit. Doch wenn das Wasser dir über die Schultern strömt, in den Kragen deines Chalats rinnt, dir als reißender Strom entgegenströmt und dich umreißt, dann erfreut dich selbst das Wasser nicht mehr. Jarty war noch weit von Hause fort, mitten auf dem Feld, als plötzlich eine große schwarze Wolke aufzog und den Himmel bedeckte. Der Knabe eilte sich. Verzweifelt trieb er sein Kamel an, doch das Tier war alt und kam nur langsam voran. Unvermittelt brach der Gußregen los. Donner grollte. Die Steppe verwandelte sich in ein stürmendes Meer. So starken Regen hatte Jarty noch niemals erlebt. Er war sofort bis auf die Haut durchnässt, klammerte sich am Rücken des Kamels fest und dachte ängstlich: Wenn Regen und Wind mich zu Boden schleudern, so ertrinke ich in dem schrecklichen Strom und sehe Vater und Mutter nie wieder! Er überlegte, wie er sich retten könne. Jarty nahm all seine Kraft zusammen und erklomm den langen Hals des Kamels. Er wusste, was er tat: Als er nämlich auf dem Kopf des Tieres anlangte, kroch er rasch an seinen Lieblingsplatz unter das weiche Kamelohr. Dort war ihm warm wie in des Vaters Kibitka. So erreichte Jarty den Aul. Der Regen hörte auf, doch der Knabe mochte sein Versteck gar nicht verlassen. Von hier aus konnte er wie vom Turm eines hohen Minaretts alles auf viele Kilometer im Umkreis überblicken.

Ein Knabe kam auf ihn zu gerannt. Jarty kannte ihn nicht. Es war ein Junge aus einem fremden Aul. Drum rief Jarty ihn gar nicht erst an. Als der Knabe das Kamel so allein in der Wüste erblickte, dachte er: Dieses Tier hat sich sicher verirrt. Wenn ich es einfange und in meinen Hof führe, bringe ich Reichtum ins Haus. Er lief auf das Tier zu, packte es bei der Leine, doch alsbald ertönte aus dem Kopf des Kamels eine geheimnisvolle Stimme: »He, du, rühre das fremde Tier nicht an!« Der Knabe erschrak so über das sprechende Kamel, dass er ausglitt und in den Morast fiel. Rasch sprang er auf und rannte davon, ohne sich umzusehen. Im Laufen schrie er: »Zu Hilfe! Im Kamel wohnen Dshine!«

Diesen Ruf hörte ein alter Sterndeuter. Da er zudem Jarty-gulaks Stimme vernommen hatte, glaubte er wirklich, dass das alte Kamel Wunderkräfte besitze. Das machte ihn ganz glücklich, denn er hatte schon lange nach einem Wunder gesucht, womit er seinen Gebieter, einen grausamen Khan, verblüffen könnte. Der Sterndeuter nahm das Kamel kurzerhand an der Leine und zerrte es fort aus dem Aul. Wie da unser Jarty aufschrie vor Schreck: »He, Onkel! lass ab von dem Tier! Rühre nicht an, was dir nicht gehört!« Doch alles Rufen war vergebens: Der Sterndeuter hörte nicht auf ihn, er freute sich viel zu sehr, dass er nun ein Wunderkamel besaß, welches nicht nur reden, sondern sich auch zu ärgern vermochte.

In den letzten Jahren war der Sterndeuter beim Khan nämlich in Ungnade gefallen. Er war Heilkundiger und Sterndeuter am Hof des Gebieters, doch von seinen Arzneien ging es dem Khan immer schlechter, und seine Prophezeiungen erfüllten sich nie. Der Khan war am Ende so erzürnt über den weisen Mann, dass er ihn aus dem Palast jagte. Er stapfte vor Wut mit den Füßen und rief: »Fort mit dir, dummer Zauberer! lass dich nicht blicken, bevor du mir nicht ein echtes Wunder zu zeigen vermagst!«

Viel Zeit war inzwischen vergangen, doch so angestrengt der Alte auch nach einem Wunder suchte, er fand es nicht. Er war schon ganz vom Fleisch gefallen, sein Chalat war verschlissen, und sein Turban glich einem alten verbeulten Sieb. Außer sich vor Freude über das sprechende Kamel platschte der Sterndeuter achtlos mit den bloßen Füßen durch den Schmutz, um so rasch wie möglich seinen Gebieter zu erfreuen und sich aufs Neue seiner Gunst zu versichern. »Oh, großer Khan!« rief der Sterndeuter laut in die Wüste. »Jetzt wirst du zufrieden sein mit deinem Diener!« Und er sprang wie ein munterer Ziegenbock auf dem glitschigen, morastigen Weg. »Oh, dräuender Khan! Du wirst mit dem sprechenden Kamel vom Morgen bis in die Nacht weise Gespräche führen, ich aber, dein alter Sterndeuter werde wieder auf weichen Kissen ruhen und mit beiden Händen fetten Pilaw verzehren!«

Jarty hörte jedes Wort und erschrak zutiefst. Er verspürte nicht die geringste Lust, an den Hof des dräuenden Khans zu kommen, aber er konnte schließlich nicht einfach fliehen und sein Kamel in den Händen eines fremden Menschen zurücklassen! Mag kommen, was da wolle, dachte der Knirps. Wenn ich mein Kamel behalten will, muss ich wohl zu diesem Khan ziehen. Ein echter Recke vermag sich nicht nur aus der Gewalt des Khans zu befreien, er findet selbst aus der Unterwelt ans Sonnenlicht zurück!

Derweilen hatten sie die hohe Lehmmauer erreicht, die den Palast des Khans umgab. Die Mauern schmückten Türme, und auf den Türmen standen die Krieger des Khans und beobachteten alle Zufahrtsstraßen. Doch der Sterndeuter würdigte sie keines Blickes. Als er sich hocherhobenen Hauptes näherte, taten sich die Palasttore auf vor ihm. Der Sterndeuter betrat den ersten Hof. An einem Pfahl waren die herrlichen Rosse des Khans angebunden. Prächtig gekleidete Diener putzten und striegelten sie. Doch auch sie beachtete der Sterndeuter nicht. Er hob noch stolzer sein Haupt, und das zweite, das silberne Tor tat sich auf. Er betrat den zweiten Hof. In seiner Mitte plätscherte eine hohe Fontäne. Selbst an den heißesten Tagen herrschte hier eine köstliche Kühle. In diesem Hof saßen die Ratgeber des Khans beim Würfelspiel und warteten auf die Befehle des Gebieters. Verwundert maßen sie mit ihren Blicken den Sterndeuter und sein Kamel, doch der Alte schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Da versperrten zwei schwarze Sklaven dem Alten den Weg: »Oh, ehrwürdiger Chodsha, oh, Weiser! Deine Kleider sind schmutzig und verschlissen, und dein Kamel, ist es nicht gar dem Schinder entronnen? Wie kannst du so dem würdigen Khan unter die Augen treten?« Doch der Sterndeuter stieß die Sklaven wortlos zur Seite. Er schritt zum dritten, dem goldenen Tor, schlug mit seinem Stab daran, und das dritte, das goldene Tor ward aufgetan.

Er betrat den Garten des Khans. Dort blühten die herrlichsten Blumen, lauschige Pavillons und kunstvolle Wasserspiele schmückten ihn. Inmitten des Gartens saß auf einer von drei Aryks eingeschlossenen Wiese im Schatten großblättrigen Weins auf hohen goldbestickten Kissen der dräuende Khan, Gebieter und Herrscher, Gnadenbringer und Rächer. Der Khan führte mit seinen Vertrauten gemächliche Rede, und die vornehmen Wesire lauschten ihm wissbegierig, um sich kein Wort aus erlauchtem Munde entgehen zu lassen. Sie bebten vor Ehrfurcht vor ihm. Selbstverständlich erkühnte der alte Zauberer sich nicht, sich in das vertrauliche Gespräch zu mischen. Er stellte sich demutsvoll an die Seite mit seinem wundersamen Kamel und wartete, bis der weise Gebieter ihm einen gnadenvollen Blick gewähren würde. Jarty-gulak war natürlich in der Nähe: Er lugte aus dem Kamelohr und betrachtete neugierig den Khan. Da er sowieso nichts zu tun hatte, hörte er aufmerksam zu, worüber gesprochen wurde.

Der Oberwesir verneigte sich vor dem Khan und sprach: »Licht der Gnade, Gipfel der Tugend, Weisester unter den Menschen, Liebling der Weisheit! Leiht Eurem ergebenen Diener huldvoll Euer Ohr. Im Frühling schmilzt der Schnee in den Bergen, er füllt die Flüsse mit Wasser, und der letzte Regenfall hat unseren Fluss gar überströmen lassen. Das Wasser aber - Ihr wisst es - das Wasser ist Gold! Ja, es ist von noch höherem Wert als Gold! Weshalb fließt es auf die Äcker der Daichane? Lasset den Fluss durch ein hohes Wehr abriegeln, leitet das Wasser um, und das Gold wird in Eure Truhen strömen!« Als Jarty-gulak diese schwarzen Pläne des Oberwesirs vernahm, erschrak er zutiefst. Er wusste, dass ohne Wasser auf des Vaters Acker weder Weizen noch Baumwolle gedeihen würden. Ohne Wasser würden die Daichane vollends zu Sklaven des grausamen Khans werden.

Dem Khan jedoch gefiel der Vorschlag seines Wesirs, und er rief: »He. mein Wesir! Heute hast du ein weises Wort gesprochen. Ich werde in der Schatzkammer alle Reichtümer meines Landes und die Reichtümer der Nachbarländer sammeln. Wir wollen deinem Rat folgen: Befiehl allen Sklaven und Gefangenen Tag und Nacht ein Wehr an unserem Fluss zu errichten.« Vor Freude klatschte der Khan in die Hände, dass alle vierzig Ringe an seinen Fingern klirrten wie zarte Glocken. Der Wesir verneigte sich vor dem Khan bis zur Erde und lief davon, um sein Gebot auszuführen.

Da schrie auf einmal das Kamel: »Halt ein, Wesir-aga! Halt sofort ein, oder ein großes Unglück geschieht!« Verwundert blieb der Wesir stehen, der Khan aber wäre fast von seinen Brokatkissen gefallen. Seine Vertrauten fassten sich an den Bärten und wiegten zweifelnd die Köpfe: »Wach, wach, ist gar ein Dshin in den Palast des großen Khans eingedrungen?« Der alte Sterndeuter trat vor, küsste die Erde zu Füßen des Gebieters und sprach feierlich: »Oh, Größter unter den Größten und Weisester unter den Weisen! Ich habe Euren Wunsch erfüllt und Euch an der Leine ein echtes Wunder herbeigeführt. Hier steht es, mein sprechendes Kamel, wie es kein zweites mehr unter der Sonne gibt!« Der Khan blickte den Sterndeuter ungläubig an. Da fuhr der alte Zauberer fort: »Sprecht selbst mit diesem weisen Tier, und Ihr werdet Euch überzeugen, dass sich in meinen Worten kein Schatten der Lüge verbirgt!«

Gnädig neigte der Khan das Haupt. Doch er wusste nicht, womit das Gespräch beginnen. Er redete zwar täglich mit seinen Ratgebern und Weisen, doch niemals hatte er bisher mit einem Kamel gesprochen. Endlich sagte er schüchtern: »Oh, Weisestes unter den Kamelen, tritt näher zu mir heran, auf dass wir uns an deiner weisen Rede ergötzen.« Doch das Kamel folgte der Aufforderung nicht, es verneigte sich ehrerbietig aus der Ferne und entgegnete artig: »Oh, mein Khan, du bist in Seide gekleidet, und deine Ratgeber tragen Gewänder aus Samt. Ich bin es nicht würdig, mich dir ohne Paradedecke zu nähern.«

Diese Worte verwunderten den Khan noch mehr, und er gebot, dem Kamel seinen besten Chalat aus Brokat überzuwerfen. Das artige Kamel sprach: »Ich danke dir, großmütiger Khan! Nun, da mein magerer Körper mit einer Paradedecke bedeckt ist, kann ich mich dir nähern und sagen, dass ich nicht der bin, für den man mich hält, dass du nicht mit dem sprichst, den du siehst und nicht den anblickst, der mit dir redet.« Der Khan verstand zwar nichts von dem, was das Kamel ihm geantwortet hatte, rief jedoch, verblüfft von der Weisheit des Tieres aus: »Wer bist du dann?« Jarty versetzte schlagfertig statt des Kamels: »Ich bin ein berühmter Gelehrter, bin Mathematiker, bin Baumeister prunkvoller Paläste und vermag alle Leiden zu heilen! Mein Wissen erhielt ich vom Vater meines Vaters, und der Vater meines Vaters erhielt es vom Vater seines Vaters und der Vater des Vaters seines Vaters...« Das Kamel sprach sehr lange, so lange, dass der Khan einschlummerte, doch er getraute sich nicht, den Strom der Beredsamkeit dieses gelehrten Kamels durch ein einziges Wort zu unterbrechen.

Als das Kamel endlich seine Rede beendet hatte, rief der Khan: »Oh, Weisester unter den Weisen! Ich weiß nicht, wer dein Vater war, und ich kenne nicht den Vater deines Vaters und den Vater des Vaters deines Vaters, doch ich sehe, dass sie alle berühmte Weise waren. Warum bist du dann ein Kamel geworden?« Das Kamel gab zur Antwort: »Meine Lebensgeschichte ist lang und traurig wie der Weg durch die Wüste. Vor eintausend Jahren erbaute ich eine Kristallbrücke von der Erde zum Himmel. Ich erbaute sie für eine böse und heimtückische Peri. Einmal geriet ich mit ihr in Streit, und sie verwandelte mich in ein Kamel. Doch es gelang mir, all meine Kenntnisse und meine Weisheit zu bewahren, und deshalb will ich heute Euch, dräuender Khan, vor großem Unheil bewahren!«

Also sprach das Kamel. Der Khan erzitterte vor Angst, Er sprang von seinen Brokatkissen auf und schrie: »Du Weisester unter den Weisen, sprich die ganze Wahrheit und fürchte dich nicht!« Antwortete das Kamel: »Lasst kein Wehr errichten, wie Euch der heimtückische Wesir geraten! Bedenket vielmehr: Bevor der Fluss in Euer Khanat eintritt, fließt er durch viele Länder und Reiche und verliert allüberall Wasser. Darum muss das Wehr nicht in Eurem Reich errichtet werden, sondern dort, wo der Schnee den Fluss speist, in den hohen Bergen. Dann werdet Ihr alles Wasser unter der Sonne besitzen und werdet, ohne das Schwert zu ziehen, alle Herrscher des Alls besiegen!« Mit diesen Worten beendete das Kamel seine Rede und verneigte sich vor dem Khan. Der umarmte überschwänglich seinen rauen Nacken und küsste das Kamel mitten auf die Lippen.

Dieser Kuss war nun gar nicht nach dem Geschmack des Weisesten aller Kamele: Es schrie, schüttelte den Kopf und schickte sich an auszuschlagen, doch im rechten Moment rief Jarty ihm zu: »Chik-tschek!« Und das Weiseste aller Kamele ging vor dem gerührten Khan in die Knie. »Möge es also geschehen!« sprach der Gebieter der Erde. Doch da erhob sich der Oberwesir, denn er fürchtete, dass der Khan einen neuen Liebling gefunden hatte, und zischte wie eine Giftschlange: »Gestatte mir die Frage, oh, fremdländischer Weiser, wer, außer den Adlern, vermag sich zu den verschneiten Fernen zu erheben, dorthin, wo unser Fluss entspringt?«

»Ich!« entgegnete das Kamel seelenruhig. »Ich, der die Kristallbrücke für die Peri errichtet und den Palast aus Vogelknöchelchen für die guten Dshine und den Pavillon aus Feuerzungen für den König der Schaitane erbaut habe! Ich will ein Wehr errichten hoch in den Bergen und alles Wasser in die Besitzungen des großen Khans leiten.« Der Wesir verstummte, und der Khan hub an, dem Weisesten aller Kamele für diese Dienste unermessliche Schätze zu versprechen. Doch das Kamel erwiderte stolz: »Weise bedürfen keiner milden Gaben! Behaltet Eure Schätze, will Euch auch ohne sie das Wehr errichten. Gebt mir nur einen Sack Reis und einen Burdjuk Öl auf den Weg und harret meiner dreiunddreißig Jahre und dreiunddreißig Tage. Ich kehre zurück am Freitag nach dem langen Regen.«

»Alles soll nach deinem Willen geschehen!« sprach der edle Khan.

Alsbald beluden die Diener das Kamel mit Reis und Öl und schmückten seinen Hals mit einer güldenen Schelle, obwohl das weise Kamel störrisch eine solche Gabe ablehnte. Alsdann geleiteten der Khan, seine Wesire und alle Vertrauten das sprechende Kamel durchs Tor, kehrten in den Palast zurück und begannen den angekündigten Freitag nach dem langen Regen zu erwarten. Doch in der Wüste regnet es selten, sogar außerordentlich selten, deshalb musste sich der Khan lange gedulden. Das Wasser aber floss in die armen Aule. Es murmelte in den raschen klaren Aryks, und alle Jahre im Frühling grünten Weizen und Baumwolle auf den Feldern. Sie grünten, weil dort, wo Wasser fließt, auch Leben ist, wie eine alte Volksweisheit kündet. So habe ich euch nun mein Märchen erzählt, und was ich euch verschwieg, Lasst euch von anderen sagen.