[swahili, "Geschichte, Legende"]

Das rote Mädchen

Es lebten einmal ein Vater und eine Mutter. Sie hatten drei Töchter und einen Sohn. Da starben die beiden Eltern. Das ganze Gut hatten sie dem Sohne vermacht. Eines Tages ergingen sich alle vier im Baumgarten. Da fiel so etwas wie ein Knäuel vom Himmel. Doch das verwandelte sich in einen Menschen, und der fragte die Älteste: »Mädchen, willst du mich heiraten?«

»Gern würde ich dich heiraten, aber wird das auch mein Bruder zulassen?« Darauf fragt er den Bruder: »Gibst du mir das Mädchen?«

»Nimm sie dir, wenn du willst.« Darauf verschwanden die beiden.

Am folgenden Tage geschah es wieder so - auch die zweite Schwester verschwand.

Am dritten Tage ebenso.

Der Bruder blieb allein. Er lebte so lange Zeit, da wurde er schließlich des einsamen Lebens überdrüssig. Er macht sich auf, seine Schwestern und seine Schwäger zu suchen. Er ging, ging und ging und kam schließlich an eine sehr weite Ebene ohne Anfang und ohne Ende. Sie ist ganz bedeckt mit zerstückelten toten Menschen. Da sagt er: »Was ist denn hier geschehen?«

»Hier hat sich das rote Mädchen geschlagen!«

»Ist es noch weit zu ihr? Werde ich zu ihr kommen?«

»Weit, weit, sehr weit! Du wirst nie zu ihr kommen!« Er geht und geht und kommt zu einer dreimal so weiten und breiten Ebene. Und wieder dasselbe. Aber er erhielt die Antwort: »Weit, weit, sehr weit! Aber wenn du schon so weit gekommen bist, dann kommst du vielleicht noch ganz hin!« Und wieder ging und ging er, bis er zu einer dritten Ebene kam, die zehn und dreimal so weit und breit war. Und er erhielt die Antwort: »Weit, weit, noch sehr weit! Aber wenn du schon so weit gekommen bist, dann wirst du auch ganz zu ihr gelangen.«

Der Bursche wollte durchaus sehen, was das für ein rotes Mädchen ist, das drei so weite und breite Ebenen mit zerstückelten Menschen angefüllt hat. Und er ging, ging und ging und kam schließlich an einen riesigen Palast, höher als eine Kiefer, niedriger als eine Wolke, breiter als ein Wald, weniger breit als ein Meer. Er ging hinein und fand dort das rote Mädchen sitzen.

Sie fanden Gefallen aneinander und wurden Mann und Frau.

Einmal gedachte das rote Mädchen, wieder in den Krieg zu ziehen. Und sie sagt dem Sohne der verstorbenen Eltern: »Du kannst im ganzen Palast umhergehen, aber in diese Gerätekammer geh nicht, denn sonst wird es mir und auch dir schlecht ergehen!«

So ritt sie nun aus in den Krieg. Er, jetzt ganz allein, wandert und wandert im ganzen Palast umher; doch da wollte er durchaus sehen, was in dem kleinen Speicher, in der Gerätekammer, ist. Er Schloss sie auf, er sieht - da ist ein Drache an den Füßen aufgehängt. Sofort, als der Drache den Burschen erblickte, begann er zu sprechen: »Durchlauchtigster König, gib mir doch wenigstens einen Eimer Wasser. Es ist schon neun und noch fünf Jahre her, dass ich einen Tropfen im Munde hatte.« Da denkt er: Der Palast ist groß, die Brunnen sind tief - sollte ich mit Wasser geizen? Und er brachte einen Melkeimer voll Wasser. Der Drache trank den ganzen Melkeimer auf einmal aus, blähte sich auf und sagt: »Aber das ist für mich noch etwas wenig. Bringe einen zweiten Eimer voll!« Der Dummkopf brachte wirklich einen zweiten Eimer voll. Als der Drache den zweiten Eimer ausgetrunken hatte, blähte er sich ganz stark auf. Doch als er den dritten Eimer ausgetrunken hatte, da zerriss er die Ketten und sagt: »Jetzt ist das rote Mädchen nicht mehr dein, sondern mein! Du Dummkopf, geh, wohin du willst. Doch wage niemals wieder, deinen Fuß hierher zu setzen! Und nun fort mit dir!«

Der Bursche weinte und weinte und machte sich auf den Weg zu seinen Schwägern. Er ging, ging und ging und kam zu seinen Schwägern. Sie versuchen, ihn auf diese und jene Weise zu trösten, aber alles vergebens. Der Bursche zog aus, das rote Mädchen wiederzugewinnen. Als er ankam, war der Drache in einen Krieg ausgeflogen. Er spricht mit dem roten Mädchen, sie klagen einander ihr Leid, sie küssen sich. Der Bursche überredet sie zur Flucht.

Sie liefen, liefen und liefen, doch hörten sie, dass der Drache hinter ihnen her ritt, hinterher donnerte, hinterher schnob. Das Pferd des Drachen schnaubt und schnaubt in einem fort. »Willst du trinken, mein Rößlein, oder willst du mir ein Leid verkünden?«

»Nein, nicht trinken möchte ich, o Drache, sondern dir ein Leid verkünden: Das rote Mädchen ist schon nicht mehr dein!«

»Werden wir sie noch einholen? Können wir sie ihm noch wegnehmen?«

»Zwanzig Hufen können wir umpflügen, mit Saat besäen und die Ernte aufessen - und auch dann werden wir sie noch einholen!« Als er das gesagt hatte, erhob er sich in die Lüfte, höher als eine Kiefer, niedriger als eine Wolke, und hatte sie sogleich eingeholt.

Als er sie eingeholt hatte, nahm der Drache ihm das Mädchen weg und sagt: »Geh jetzt und kehre nicht wieder, denn ich werde dir den Garaus machen! Jetzt verzeihe ich dir für den ersten Eimer.« Der Bursche ging zu seinen Schwägern, weinte und weinte wegen des roten Mädchens und zog wieder aus, sie zu suchen.

Und wieder geschah alles ebenso, doch der Drache verzieh ihm wegen des zweiten Eimers. Und wiederum ging der Bursche, das Mädchen zu suchen. Auch diesmal verzieh ihm der Drache.

Als er das vierte Mal auszog, da fürchteten die Schwäger sehr, dass er umkommen würde. Sie sagen: »Lasse uns irgendein goldenes Zeichen hier.« Er gab einem jeden einen goldenen Ring und sagt: »Solange ich am Leben bin, werden die Ringe glänzen, doch wenn ich tot bin, wird blutiger Rost auf ihnen sein.« Dann zog er aus. Er stahl das Mädchen und floh abermals mit ihr. Der Drache holte sie wieder ein, zerteilte den Burschen mit dem Schwert, verschloss die Stücke in eine Tonne, brachte das Mädchen zu sich zurück, doch den Burschen warf er in das Meer des Todes.

Seine Schwäger vergaßen ihn bald. Da war einmal bei ihnen eine Taufe. Alle essen, trinken, und da kam er ihnen wieder in den Sinn. Sie sagen: »Wer weiß, wo unser Schwager geblieben sein mag? Wie mag es ihm gehen?« Sie nehmen die Ringe heraus und sehen - die Ringe sind ganz mit blutigem Rost bedeckt. Sie verließen die Feier und gingen fort, ihren Schwager zu suchen.

Sie gingen, gingen, gingen und kamen an das Meer des Todes. Sie sehen - mitten auf dem Meere schwimmt eine Tonne und ächzt und klagt. Sie versuchen, die Tonne zu erreichen, doch sie schwimmt immer weiter hinaus. Schließlich konnten sie sie dennoch fassen, zogen sie ans Ufer, schlugen den Deckel ab, und sie sehen - darinnen liegt ihr Schwager zerstückelt. Sie nahmen ihn heraus, legten die Teile schön zusammen, legten ihn wieder in die Tonne und fuhren ihn zum Meer des Lebens. Der Schwager erwachte auch sofort zum Leben.

Sie befreiten ihn aus der Tonne und nahmen ihn mit nach Hause. Doch er will immer noch unbedingt das rote Mädchen holen.

Und er zog wieder aus. Er kam an ihren Palast und ging hinein. Da sagt das Mädchen zu ihm: »Verstecke dich im Obstgarten, und ich will den Drachen aushorchen, woher er das Pferd hat.« So machte er es auch. Kaum war der Drache zurückgeflogen, da fragte das Mädchen ihn schon: »Woher hast du solch ein Pferd bekommen?«

»Wo ich es bekommen habe, dort wird niemand mehr eins bekommen. Man muss durch ein Feuermeer gehen, doch ich habe ein Schnupftuch, das die Flammen teilt. Danach kommst du an einen Hof, mitten auf dem Hof steht eine kleine Hütte, in der Hütte lebt eine uralte bucklige Hexe mit Hörnern. Wenn du sie bittest, ein Pferd zu verkaufen, dann antwortet sie: ›Zu verkaufen habe ich keins für noch so viel Geld, aber wenn du drei Tage lang mein Vieh zu hüten vermagst, dann gebe ich es dir umsonst, wenn aber nicht - dann stecke ich deinen Kopf auf einen spitzen Zaunpfahl. Du siehst selber, nur wenige Pfähle sind noch leer geblieben. Fast niemand konnte das Vieh so lange hüten.‹«

Als der Drache eingeschlafen war, da zog das Mädchen ihm sein Schnupftuch heraus und steckte ihres an seine Stelle. Der Drache schlief sich aus und flog dann wieder fort in einen Krieg. Das Mädchen rief den Burschen aus dem Obstgarten, erzählte ihm alles, reichte ihm das Schnupftuch, gab ihm noch Wegzehrung für die Reise, küsste ihn herzlich und ließ ihn gehen.

Der Bursche ging, ging und hatte schon alles aufgegessen und war noch nicht zu dem Feuermeer gekommen. Er aß schon Gras, aber auch das wurde knapp. Er sah ein Bienenvolk im Baum und sagt: »Ich esse nicht nur euren Honig, ihr Bienlein, sondern euch selbst mit allen Waben.«

»Iß uns nicht, hab Erbarmen! Wir werden uns dir dafür einmal irgendwann erkenntlich zeigen«, sagen die Bienen. Ihm wurde seltsam zumute, und er ließ die Bienen ungeschoren.

Er ging und ging und kam zu einem Fluss. Er sieht, in den Binsen sitzt eine Ente auf ihren Eiern. Da sagt er zu ihr: »Na, Entlein, ich esse dich und deine Eier auf der Stelle!«

»Iß uns nicht, hab Erbarmen! Ich werde mich dir irgendwann erkenntlich zeigen«, bittet ihn das graubunte Entlein. Ihm wurde wieder seltsam zumute, und er ließ auch das Entlein ungeschoren.

Er geht weiter, er geht, er watet durch einen Fluss und sieht - da kommt ihm ein Krebs schwerfällig mit krummem Rücken entgegen gekrochen. Der Bursche sagt zu ihm: »Krebslein, Krebslein, ich bin so hungrig, dass ich dich mit Schalen und Scheren verschlinge!«

»Iß mich nicht, erbarme dich! Heute Abend bekommst du, soviel du haben willst, und ich werde mich dafür noch dankbar erweisen.« Und wieder wurde ihm seltsam zumute, und er ließ den Krebs am Leben.

Da kam er an das Feuermeer. Er erinnerte sich an das Schnupftuch, zog es heraus, schwenkte es hin und her, das Feuer teilte sich, und es entstand eine Brücke. Da ging und ging er lange Zeit auf der Brücke. Er ging und ging und kam an einen Hof.

In der Mitte des Hofes steht eine Hütte, von einem Zaun aus spitzen Pfählen umgeben, auf den Spitzen der Pfähle waren Menschenköpfe aufgespießt. Er geht hinein und fand dort die Hexe. Er bat sie, ihm ein Ross zu verkaufen. Sie kamen überein, dass er dafür das Vieh hüten sollte, und er ging zu den Tieren. Als er das Vieh ausgetrieben hatte, da war auch schon kein einziges Tier mehr zu sehen. Er setzt sich hin und denkt nach, was er tun soll. Da kommt ein Bienchen angeflogen und summt: »Geh nach Hause, geh nach Hause, Bursche! Die Tiere sind längst im Stall.« Da geht er auch nach Hause. Da fragt ihn die Hausherrin: »Hast du das Vieh heimgetrieben?«

»Ja, ich habe es heimgetrieben.« Da geht die Hexe in den Stall, schlägt das Vieh mit den Lederzügeln und sagt: »Warum konntet ihr euch nicht verstecken?«

»Ach, wo wir auch waren, im Gestrüpp, im Wasser, auf dem Baum - überall findet er uns.« Sie prügelt sie ganz schrecklich, reißt die Tiere an den Haaren und zwackt sie wie mit Zangen.

Am folgenden Tage das gleiche. Das Entlein trieb den Burschen nach Hause.

Am dritten Tage aber trieb ihn niemand nach Hause. Da meint der Bursche, er muss sich ertränken und geht an den Fluss. Er steigt ins Wasser, da kommt ihm der Krebs entgegen und sagt: »Was machst du denn hier?« »So und so: Ich möchte nicht, dass mein Kopf auf einen spitzen Pfahl gesteckt wird.«

»Bist du aber dumm! Die Tiere sind längst im Stall. Wenn das Weib dir ein gutes Pferd und gutes Geschirr geben will, so nimm es nicht. Bitte um ein schlechteres. Auch das zweite nimm nicht, doch das dritte, das nimm!«

Der Bursche kommt nach Hause zur Hexe und geht in den Stall. Das Weib schlägt die Tiere nicht mehr, sondern streichelt sie. Als der Bursche eintrat, sagt ihm die Hexe: »Na, jetzt wollen wir gehen und ein Pferd aussuchen.« Sie gingen hin. Die Hexe gibt ihm einen Hengst mit goldenem Geschirr. Er nimmt ihn jedoch nicht und sagt, er sei für ihn zu gut, er muss ein schlechteres Pferd haben. Die Hexe gibt ihm auch ein schlechteres mit silbernem Geschirr. Doch auch das nimmt er nicht. Jetzt gibt ihm die Hexe ein ganz schlechtes Pferd - nur Haut und Knochen, das Geschirr aus Stricken. Das nimmt der Bursche, sitzt auf und macht sich auf den Weg zum roten Mädchen. Er war noch nicht bis zum Feuermeer gekommen, da brach schon die Nacht an. Er legte sich nieder und ließ das Pferd auf der Wiese grasen. Am anderen Morgen sieht er: Anstelle der Haut-und-Knochen-Mähre - ein wunderschöner Hengst mit goldenem Geschirr. Er saß auf und ritt zum roten Mädchen. Sie freute sich sehr, und beide liefen davon. Wie sie nun so fliehen, hören sie, wie der Drache hinter ihnen herjagt.

Das Pferd schnaubt, dass sich die Bäume der Wälder biegen. Da sagt der Drache: »Was ist dir, mein liebes Ross? Möchtest du trinken? Ist dir vielleicht übel, ist wohl der Sattel nicht gut, bin ich ein schlechter Reiter, oder kündest du mir gar ein Unheil?«

»Alles ist gut, doch ich künde dir ein Unheil. Das rote Mädchen ist jetzt nicht mehr dein. Sie flieht vor dir mit dem Burschen.«

»Werden wir sie einholen?«

»Zwanzig und zehn Hufen Land können wir umpflügen, besäen und die Ernte aufessen, und dennoch werden wir sie einholen!«

»Werden wir ihm das Mädchen wegnehmen?«

»Nein, jetzt werden wir sie ihm nicht mehr wegnehmen.«

»Jagen wir hinterher!«

Das Pferd erhob sich in die Lüfte, höher als eine Kiefer, niedriger als eine Wolke, und holte sie sofort ein. Der Drache wollte den Burschen mit dem Schwert treffen, doch die Pferde zertraten den Drachen, zerstampften ihn und wurden wieder zu Menschen. Denn weißt du, beide waren nämlich einst Brüder, und schon der Großvater des Drachen hatte ihre ganze Familie verzaubert, und sie mussten deshalb so elend leben. Der Feuerfluß verwandelte sich in einen goldenen Fluss.

Der Bursche und das rote Mädchen begaben sich in ihr Herrenhaus, und alle waren glücklich. Ich war auch dabei, habe Honigmet und Bier getrunken, doch im Munde habe ich nichts gehabt. Aber ich habe euch eine Neuigkeit mitgebracht: Auch jetzt noch gibt es jenes Land über Wassern und Meeren, über Flüssen und Bergen, und immer noch fließt dort der goldene Fluss. Über ihn herrschen jene drei Schwäger, der Bursche, das rote Mädchen und die verwunschenen Menschen. Wenn das Ende der Welt herangekommen sein wird, dann sammeln sie ein großes Heer und erobern die ganze Welt, dann werden wir wieder goldene Zeiten erleben.