[swahili, "Geschichte, Legende"]

Das Märchen vom Mullah, vom Richter und von Jarty-gulak

Wenn die Baumwolle auf dem Felde grünt, so bereitet das Freude, wenn sie sich weiß färbt, so bedeutet das Reichtum. Damit die Baumwolle sich weiß färbt wie der Schnee in den Bergen, muss man sie gießen. So zog denn der alte Mann mit seinem Weib aufs Baumwollfeld, um zu gießen, Jarty-gulak aber blieb daheim und führte die Wirtschaft. Bevor die Morgenröte anbrach, hatte er schon die Kibitka aufgeräumt und den Hof gefegt. Alsdann machte er sich daran, den großen Kasan zu säubern, in dem die alte Frau Tag für Tag Pilaw oder Kürbisbrei zu kochen pflegte. Er scheuerte den Kasan so gründlich mit einem rauen Stein aus und putzte ihn so eifrig mit einem weichen Lappen blank, dass der kupferne Kessel leuchtete wie die Sonne. Der Lappen aber wurde von der Asche und vom Fett schwärzer als die Nacht.

Plötzlich vernahm Jarty auf der Straße einen Schrei. Er erkannte sofort die Stimme des Mullahs, denn nur er allein vermochte im ganzen Aul so laut zu schreien. Wie er war, mit dem Lappen in der Hand, kletterte Jarty-gulak auf den Duwal, und sah, dass der alte Mullah-Aksakal einen armen Menschen am Kragen hinter sich herschleppte. »Rechtgläubige, seht Euch diesen Bösewicht an! Er hat mir Wasser gestohlen!« Also schrie der Mullah, dass es weithin zu hören war und zerrte den Armen geradewegs zum Richter, dem Kadi. Viele Menschen folgten den beiden. Auch Jarty lief aus dem Tor: Wo sich Menschen einfinden, da muss auch Jarty-gulak sein! Er konnte doch nicht daheim bleiben, wenn im Aul eine so aufregende Geschichte passierte! Um nicht zu spät zu kommen, klammerte sich Jarty-gulak an den Saum eines vorüber laufenden Knaben, kletterte ihm hurtig auf den Rücken und kam noch gerade zurecht.

Alle Einwohner des Auls hatten sich im Hofe des Kadis eingefunden. Der Richter saß auf einem prächtigen Teppich und nahm mit finsterem Gesicht einen in schmutzige Lumpen gehüllten Mann ins Verhör. »Ich schwöre bei meinem Leben, ich habe kein Wasser gestohlen!« rechtfertigte sich der Arme. »Das Wasser ist mir von allein direkt vom Himmel in den Mund gelaufen.« Doch der Richter hörte ihm gar nicht zu, während der Mullah, die Arme anklagend erhoben, so laut rief, dass es über den Hof schaffte: »Wach, Allah! Hört ihr, wie dieser Betrüger lügt, dieser Sohn eines Hehlers, der Enkel von Plutus und der Urenkel des Leibhaftigen! Ohne zu fragen, hat er von meinem Wasser getrunken, und als ich Bezahlung von ihm forderte, hat dieser Taugenichts, dieser Landstreicher und Lump mir die Löcher in seinem schmutzigen Chalat gewiesen!« Der Mullah schrie sehr laut und ließ den Armen gar nicht zu Worte kommen. Jarty-gulak thronte auf der Tjubetejka des größten Bauern. So konnte er alles überblicken und alles verstehen. Doch selbst er begriff nur schwer, worum es hier ging.

Es ging aber um folgendes: Der Arme hatte einen weiten Weg hinter sich. Als er völlig erschöpft den Aul erreichte, legte er sich am Wegesrand an einen hohen Duwal, um zu rasten. Woher sollte er wissen, dass hinter diesem Duwal der ehrenwerte Mullah höchstpersönlich wohnte? Der Mullah aber wollte just um diese Zeit im Hof seinen grünen Tee trinken und schüttete den Rest vom Vortag über den Duwal geradewegs auf die Straße. Nun war es aber so heiß, dass der Arme mit offenem Munde schlief, und der Tee des Mullahs ihm direkt in die Kehle rann.

Als die Leute hörten, wie sich alles zugetragen hatte, begannen sie zu lärmen und den Armen zu rechtfertigen. Doch der alte Mullah gab nicht nach. Er lief auf seinen Freund, den Richter, zu und schrie noch lauter: »Oh, Gerechtester unter den Gerechten! Du hörst es, es war nicht einfaches Wasser, sondern wertvoller, würziger grüner Tee von der besten Sorte. Wenn man für einen Raub dem Dieb die Hand abschlägt, ist es dann nicht billig, dem Bösewicht für den Diebstahl des Tees den Kopf abzuschlagen? Doch ich bin gütig und großherzig, ich fordere nicht seinen Tod: Befiehl dem Bösewicht lediglich, mir das Geld zu bezahlen oder lass ihn seine Schuld in der Moschee abarbeiten. Der Himmel wird es dir danken!« Der alte Mullah war so erschöpft vom Schreien, dass ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht rann. Zudem stand die Sonne schon hoch am Himmel und brannte erbarmungslos hernieder auf die Erde. Er zog ein schlohweißes Tuch aus der Tasche, setzte sich siegessicher neben den Richter auf den Teppich und hub an, Gesicht und Hals zu wischen und seinen langen weißen Bart zu glätten.

Der Arme bot einen jämmerlichen Anblick: Er begriff besser als alle anderen, dass er der Strafe nicht entgehen würde, und sah furchtsam vom Richter zum Mullah. Das Volk aber begann zu murren, denn die Bauern wussten, dass der Kadi nicht nur ein guter Freund, sondern sogar ein Verwandter des weißbärtigen Mullahs war. Der Hund weiß, weshalb das Hündchen bellt, dachten sie vom Richter. Was macht es dem schon aus, einen armen Kerl, der genauso wenig besitzt wie wir, zu verurteilen! Alle schwiegen. Auch Jarty-gulak schwieg. Aus weit aufgerissenen Augen beobachtete er, was weiter geschehen würde.

Endlich schlug der Richter ein Buch auf, in dem alle Gesetze niedergeschrieben waren, und begann nach einer Auslegung zu suchen, wonach der Gerechte schuldig wird und der Schuldige der ewig Gerechte bleibt. Da hielt es Jarty nicht länger aus an seinem Platz. Er schwang sich von Mütze zu Mütze, von Tjubetejka zu Tjubetejka nach vorn, um besser zu hören, wie der allmächtige Richter Recht sprechen würde. Als er beim Mullah angelangt war, sprang er auf dessen Turban, dann rutschte er in den Kragen des samtenen Chalats und glitt behutsam das Futter hinab in die breite Tasche neben das schlohweiße Schnupftuch des Gottesdieners. Er lugte aus der Tasche und gab Acht, was der Richter sagen würde. Der hob den Kopf und wandte sich feierlich an den Mullah: »Du, ehrenwerter Mullah, sollst, wie es unsere Gesetze und Bräuche erfordern, vor allem Volk beschwören, dass du dem Gericht die reine Wahrheit berichtet hast. Schwöre, doch bedenke, was uns die alte Weisheit lehrt: Wer falsch Zeugnis ablegt, dessen Gesicht färbt sich schwarz!« Der Mullah erriet die Absicht seines Gevatters und freute sich, dass er allein um den Preis eines Eides einen Knecht bekommen sollte, der um nichts und wieder nichts für ihn arbeiten würde. Er hob seine Hände gen Himmel und sprach noch feierlicher als der Richter: »Ich schwöre beim Himmel, ich habe nichts als die reine Wahrheit gesprochen und bin bereit, es hundertmal zu wiederholen. Wenn ich falsch Zeugnis abgelegt habe, so möge mein Gesicht schwarz werden.«

Also sprach der Mullah und griff abermals in die Tasche nach seinem Tuch, denn die Sonne stand jetzt noch höher am Himmel als zuvor und der Schweiß rann ihm noch immer in breiten Strömen übers Gesicht. Als der hurtige Jarty neben sich in der Tasche die verweichlichte Hand des Mullahs erblickte, schob er ihm, ohne sich lange zu besinnen, statt des schlohweißen Tuches seinen eigenen schmutzigen ascheverschmierten Lappen zwischen die Finger. Selbstverständlich bemerkte der Mullah nichts und begann, sich umständlich das Gesicht zu wischen. In der Menge wurde bereits gekichert, doch der Mullah war so zufrieden mit dem Ausgang der Angelegenheit, dass er das gar nicht beachtete. Seelenruhig wischte er sich die Wangen, die Augen und die Nase mit dem schmutzigen Lappen. Er wischte so lange, bis er selbst schwarz war wie ein alter Kasan. Da wurde das Kichern zu lautem Lachen. Es lachten die Männer mit weit aufgerissenen bartumrahmten Mündern, es lachten die Frauen hinter schamhaft vorgehaltener Hand, es lachten die Greise und die Greisinnen, bis sie sich die Tränen wischen mussten, die Kinder kreischten gar vor Vergnügen und wälzten sich auf der Erde. So etwas Komisches hatten sie noch nie gesehen!

Der Richter wollte das Urteil verkünden, doch keiner hörte ihm mehr zu: Alle lachten und wiesen mit Fingern auf den Mullah. Der Richter blickte seinen Freund an und erstarrte vor Verblüffung: Das Gesicht des Sünders war schwarz! Rief der Richter: »Allah ist groß! Du bist schwarz wie der Schaitan in eigener Gestalt!« Er fasste sich an den Kopf und rannte fort.

Der Mullah strich verlegen seine Wangen, musterte alsdann seine Hände und musste feststellen, dass sie dunkler als Herdasche waren! Vor Schreck wurde ihm schwarz vor Augen. Nun war er bis in alle Ewigkeit blamiert! Wer würde fortan einem Mullah Glauben schenken, der vor dem ganzen Aul falsch Zeugnis abgelegt hatte! Er raffte den Saum seines teuren Chalats und flüchtete heim. Er sprang fort wie eine Gazelle, der die Hunde auf der Spur sind. Das Pfeifen und Rufen der Aulbewohner gellte ihm in den Ohren: »Antworte, Mullah, warum hat sich dein Gesicht schwarz gefärbt?«

»Nicht dieser arme Bettler, sondern du bist der größte Betrüger in unsrem Aul!« Jarty-gulak stimmte aus Leibeskräften in die Rufe ein. Wie hätte er schweigen können, wenn der ganze Aul schrie!

Am ersten Aryk, den er erreichte, begann der Mullah zitternd vor Scham und Wut, sich die Asche vom Gesicht zu waschen. Doch wie sehr er sich auch mühte - er rieb sein Gesicht mit einem harten Grasbüschel, bis es schmerzte, er kratzte sich die Wangen mit den Fingernägeln auf -, die verfluchte fette Asche ließ sich nicht von seinem stoppligen Gesicht spülen. Lange, sehr lange brauchte der alte Mullah, um sich das Gesicht rein zu waschen, doch noch länger brauchte er, um die Schande abzuwaschen. Die Daichane aber verließen zufrieden den Hof des Kadis, und ein jeder machte sich an sein Tagewerk. Gemeinsam mit ihnen verließ auch der heimatlose Bettler die Gerichtsstube. Jarty-gulak begleitete ihn aus dem Aul und sagte zum Abschied: »Du hast einen weiten Weg vor dir, heimatloser Wandersmann. Aber bedenke, in unserem Aul wirst du stets Aufnahme und Freunde finden. Frage nur getrost nach Jarty-gulak.« Der Arme entgegnete: »Hab Dank, Jarty. Du hast wohlgetan, als du mir heute aus der Not halfst.« Auch wir sagen: »Wohlgetan, wohlgetan!«