[swahili, "Geschichte, Legende"]

Das Grab des Allerheiligsten

Es war einmal ein Scheich. Im Hof seines Hauses lag eine Grabstätte, die der Scheich »Grab des Allerheiligsten« nannte. Neben der Grabstätte ließ der Scheich eine Moschee mit Minarett errichten. Als die Menschen vom »Grab des Allerheiligsten« hörten, begannen sie aus allen Gegenden dorthin zu pilgern. Sie führten die Sadaka mit sich, damit Allah ihnen ihre Sünden vergibt. Auf diese Weise wurde der Scheich schnell reich. Eines Tages kam ein armer Mullah zum Scheich und bat um Aufnahme als Gottesdiener in die Moschee. Der Scheich war sofort einverstanden, denn immer mehr Pilger wallfahrteten zu diesem Ort, und er bewältigte allein nicht mehr die Arbeit. Der Mullah diente dem Scheich treu und ehrlich sieben Jahre, erhielt aber in der ganzen Zeit nur sehr geringen Lohn. Einmal, als der Scheich gerade bei guter Laune war, schenkte er dem Mullah einen räudigen Esel. Endlich entschloss sich der Mullah, den Scheich zu verlassen. Traurig machte er sich auf in seine Heimat und trieb den klapprigen Esel vor sich her. Unterwegs krepierte das Tier, und der Mullah beerdigte seinen einzigen Freund mit allen Ehren. Als das Ritual schon fast zu Ende war, bemerkte der Mullah eine Karawane.

Da hob der Mullah am Grab laut zu wehklagen an und las Gebete aus dem Koran. »Was für ein Unglück ist über dich gekommen, Mullah?« fragten die Kaufleute mitleidig. »Wen hast du denn da beerdigt?« Der Mullah beachtete die Kaufherrn lange Zeit überhaupt nicht. Endlich, nachdem sie ihre Frage mehrmals wiederholt hatten, entgegnete er: »Gute Leute, an dieser Stelle ging der Heiligste der Heiligen, ein Scheich, der aus Mekka zurückkehrte, in die ewige Seligkeit ein. Hier ist das Grab des Allerheiligsten. Betet, ihr Gläubigen!« Demütig begannen die Kaufherrn zu beten und legten an der Grabstätte als Sadaka viele Kleinodien nieder. Da baute sich der Mullah neben dem Grab eine Hütte und begann geduldig zu warten. Gerüchte über das »Grab des Scheichs« drangen auch in die Stadt. Die Gläubigen strömten mit reichen Opfergaben herbei. In kurzer Zeit erbaute sich der Mullah ein Haus, und später ließ er eine große Moschee mit Minarett errichten. Darin betete er für die sündigen Gläubigen und wurde immer reicher. Innerhalb von ein paar Jahren wurde der Mullah zum reichsten Marin in der Gegend.

Die Kunde vom »Grab des Scheichs« kam auch jenem Scheich zu Ohren, dem der Mullah einst gedient hatte. Eines Tages machte sich dieser Scheich nun auf zum heiligen »Grab des Scheichs«. Mullah und Scheich erkannten einander auf den ersten Blick, doch beide taten, als seien sie nicht miteinander bekannt. Nach dem Gebet bat der Mullah den Scheich zu sich ins Haus. Während des Mittagsmahls konnte sich der neidische Scheich nicht länger enthalten zu fragen: »Höre, Mullah, du warst ein Bettler! Wie ist es dir gelungen, so großen Reichtum zu erwerben?« Der Mullah erzählte dem Scheich seine Geschichte und fragte den Scheich hinwiederum, wie er zu seinem Reichtum gekommen sei. »Ich sehe, der Dienst bei mir war für dich nicht vergebens«, entgegnete lächelnd der Scheich. »Vor vierzig Jahren habe ich die Mutter deines Esels, der in dem ›Grab des Scheichs‹ ruht, im Hof meines Palastes beerdigt.«