[swahili, "Geschichte, Legende"]

Chawroschetschka

Es gibt auf der Welt gute Menschen, es gibt weniger gute, und es gibt diejenigen, die überhaupt kein Gewissen haben. Eben zu solchen kam die kleine Chawroschetschka. Sie war eine Waise, und diese Leute nahmen sie zu sich, zogen sie groß und ließen sie für sich arbeiten: Sie spinnt und webt und hält das Haus sauber, um alles muss sie sich kümmern.

Ihre Herrin hatte drei Töchter. Die älteste hieß Einäuglein, die zweite Zweiäuglein und die jüngste Dreiäuglein. Die Töchter wussten nichts besseres, als vor dem Tor zu sitzen und die Straße hinauf und hinabzuschauen, während Chawroschetschka für sie die Arbeit machte, für sie nähte, für sie spann und webte und doch nie ein gutes Wort zu hören bekam.

Einmal ging Chawroschetschka aufs Feld, umarmte ihre buntscheckige Kuh, schmiegte sich an ihren Hals und klagte ihr Leid. »Meine liebe Kuh, mein Mütterchen, man schlägt mich, man schimpft mich, man gibt mir kein Brot, und doch darf ich nicht weinen. Bis morgen muss ich fünf Pud spinnen, weben, bleichen und auf Rollen wickeln.«

Die Kuh antwortete: »Schönes Mädchen, schlüpf mir zu dem einen Ohr hinein und zu dem anderen wieder heraus - und alle Arbeit wird getan sein.«

So geschah es von nun an immer. Chawroschetschka schlüpfte der Kuh zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder heraus - und schon war alles gewebt und auf Rollen gewickelt.

Sie brachte der Herrin das Linnen, die besah es, hüstelte und verwahrte es in der Truhe. Chawroschetschka aber stellte sie eine noch größere Aufgabe.

Chawroschetschka ging wieder zu ihrer Kuh, umarmte und streichelte sie, schlüpfte ihr zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder heraus, nahm die fertige Arbeit und brachte sie der Herrin. Da rief die Frau ihre Tochter Einäuglein zu sich und sprach: »Mein gutes Kind, mein schönes Kind, geh hin und pass auf, wer der Waise hilft; wer webt, wer spinnt, wer rollt für sie?«

Einäuglein ging mit Chawroschetschka in den Wald und aufs Feld und vergaß, was die Mutter ihr aufgetragen hatte. Sie streckte sich im weichen Gras aus und ließ sich von der Sonne bescheinen. Chawroschetschka aber murmelte unentwegt:

»Schlaf, Äuglein, schlaf, Äuglein!«

Und bald war Einäuglein in tiefen Schlaf gefallen und schlief, während die Kuh alles webte, bleichte und aufwickelte.

So konnte die Frau nichts erfahren, und sie schickte ihre zweite Tochter, das Zweiäuglein.

»Mein gutes Kind, mein schönes Kind, geh hin, pass auf, wer der Waise hilft.«

Zweiäuglein ging mit Chawroschetschka, vergaß aber den Auftrag der Mutter, streckte sich im weichen Gras aus und ließ sich von der Sonne bescheinen. Chawroschetschka aber sang sie in den Schlaf:

»Schlaft, Äuglein, schlaft beide ein!«

Zweiäuglein schloss die Augen, die Kuh webte, bleichte und wickelte alles auf, und noch immer schlief Zweiäuglein.

Die Frau war ärgerlich und schickte am dritten Tage die dritte Tochter, Dreiäuglein. Chawroschetschka aber gab sie noch mehr Arbeit auf. Dreiäuglein hüpfte und sprang, wurde müde in der Sonne und fiel nieder ins weiche Gras. Chawroschetschka sang:

»Schlaft, Äuglein, schlaft beide ein!«

Das dritte Auge aber vergaß sie. Dreiäuglein Schloss zwei Augen, das dritte jedoch blieb wach und sah alles: wie Chawroschetschka der Kuh zum einen Ohr hinein- und zu dem anderen wieder herausschlüpft und wie das fertige Linnen daliegt. Als sie wieder zuhause waren, berichtete Dreiäuglein der Mutter alles. Die Alte frohlockte, und gleich am nächsten Tag verlangte sie von ihrem Mann: »Schlachte die buntscheckige Kuh!« Der Alte wollte davon nichts hören: »Alte, bist du von Sinnen? Die Kuh ist noch jung, die Kuh ist gut!« »Ich will nichts hören! Schlachte sie!«

So blieb dem Mann nichts anderes übrig, und er wetzte sein Messer.

Chawroschetschka hörte dies, lief aufs Feld hinaus, umarmte die buntscheckige Kuh und sprach: »Meine liebe Kuh, mein Mütterchen, sie wollen dich schlachten!« Die Kuh antwortete: »Iß nicht von meinem Fleisch, schönes Mädchen, sammle die Knochen ein, binde sie in ein Tuch, vergrabe sie im Garten, begieße sie jeden Morgen und vergiß mich nimmermehr!«

Der Alte schlachtete die Kuh. Chawroschetschka aber tat alles, was die Kuh ihr aufgetragen hatte: Sie ließ sich vom Hunger sich plagen, nahm keinen Bissen in den Mund, vergrub die Knochen im Garten und begoss sie dann Tag für Tag. Da wuchs aus den Knochen ein wundersamer Baum, mit Zweigen von Silber und Blättern von Gold. Über und über hing er voll herrlicher Äpfel. Ein jeder, der vorbeiging, blieb staunend stehen, und fuhr einer vorüber, so hielt er die Pferde an.

Über kurz oder lang gingen Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein einmal in den Garten. Da kam ein starker Mann vorbeigefahren, ein reicher und junger Mann mit lockigem Haar. Er sah die Äpfel im Garten und sprach zu den Mädchen: »Schöne Mädchen! Welche von euch mir einen Apfel gibt, wird heute noch meine Braut!«

Die drei Schwestern eilten zum Apfelbaum. Die Äpfel hingen sonst immer ganz tief, bequem mit der Hand zu erreichen, jetzt aber hingen sie hoch über den Köpfen der Mädchen. Die Schwestern wollten sie herunterschlagen, da fielen ihnen die Blätter in die Augen. Sie wollten sie pflücken, da zerzausten die Äste ihnen die Zöpfe. Wie sie sich auch mühten, wie sie sich auch reckten, sie zerkratzten sich nur die Arme und bekamen doch keinen Apfel zu fassen.

Da trat Chawroschetschka heran. Die Zweige neigten sich ihr zu, die Äpfel senkten sich zu ihr nieder. Sie reichte einen davon dem Manne, und er heiratete sie.

Von Stund lebte Chawroschetschka in Wohlstand und musste nie wieder Böses erleiden.